Der weltweise Physiker wandte den Blick von der menschlichen Natur in die kosmische Weite. Aber über ihm stand stets das marmorne Lächeln der unerbittlichen Natur, die ihm mehr Sehnsucht als Geist verliehen hatte. Und in der Seele des zärtlichen Schwärmens wurde ihm jedes Gefühl Sehnsucht und jeder Gedanke Gefühl. Er verspürte eine tiefe Sehnsucht danach, die Gründe für die Ungereimtheiten und Asymmetrien in den physikalischen Theorien zu erkennen. Das ahnungsvolle Suchen im Dunkeln trieb ihn um mit gespannter Sehnsucht und dem endlichen, beglückenden Durchbrechen zur Klarheit. Einsteins Sehnsuchtskosmogonie im Erschauen der Prinzipien und Gestalten der Theorien kulminierte in einer Kosmologie, die für ihn die im Seienden verkörperte Vernunft repräsentierte, ihm gleichsam zur Sehnsuchtskosmologie geriet. Bereits als Jüngling entsagte er schmerzvoll aber konsequent der wärmenden Liebe und verlegte sich auf die angestrengte geistige Arbeit im Erschauen der Naturinvarianten. Für Marie hatte er keinen Platz in seinem Leben, in dem das Denken wichtiger war als das Tun oder Erleiden: Das Wesentliche im Dasein eines Menschen von meiner Art, ist, wie er denkt und was er denkt, nicht was er tut oder erleidet, schrieb der Weltweise einmal. Mit der Kommilitonin Mileva teilte er vorübergehend den Rausch lustvoller Verliebtheit und gemeinsamer geistiger Arbeit. Aber schon bald schöpfte er wieder mehr Genuß aus seinem gefühlsbetonten Denken und erlebte den Ehealltag zunehmend als Belastung. Und mit der Zweckgemeinschaft seiner zweiten Ehe verlegte er sein Streben vollends in die Sehnsucht nach der Einheit im Kosmos. Wie Mann verlagerte auch Einstein sein eigentliches Leben ins Werk. Im Gegensatz zum Literaten verstand er sein Trachten aber nicht als Teufelspakt und litt auch nicht an seiner Alltagsflucht, da er sich außerehelich und unverbindlich mit Frauen zu amüsieren wußte. Ein derartiger Ausgleich blieb dem eheverfaßten Homoerotiker mit seinem Hang zu Knaben versagt. Während Einstein ohne Bedauern seinen Weg in die Einsiedelei wählte, schmerzte den Dichter immer wieder die gesuchte aber nicht erfüllte Nähe zu einem Jüngling. Am 18. Jan. 1902 schreibt Thomas Mann an seinen Freund Paul Ehrenberg: Wo ist der Mensch, der zu mir, dem Menschen, dem nicht liebenswürdigen, launenhaften, selbstquälerischen, ungläubigen, argwöhnischen aber empfindenden und nach Sympathie ganz ungewöhnlich heißhungrigen Menschen, Ja sagt -? Unbeirrbar? Ohne sich durch scheinbare Abweisungen einschüchtern und befremden zu lassen? Ohne zum Beispiel solche Kälte und solche Abweisungen aus Bequemlichkeit und Gleichgültigkeit damit erklären zu wollen, ,,daß ich mich erst wieder an ihn gewöhnen müsse``, sondern aus Neigung und Vertrauen unverbrüchlich zu mir hält? Wo ist dieser Mensch?!? - Tiefe Stille. Die Verzweiflung an der Einseitigkeit seiner innigen Freundschaft ist offensichtlich. Mit seiner späten Lebensbeichte im Faustus greift er die frühen Verletzungen wieder auf.
Für Mann erwuchs die Vernunft nicht der Natur, sondern aus der hohen Begegnung
von Geist und Natur auf ihrem sehnsuchtsvollen Weg zueinander. Um die Wiederherstellung
dieser verlorenen Einheit ging es ihm. Seine Sehnsuchtskosmogonie im Doktor Faustus
hat Thomas Klugkist nachgezeichnet. Orientiert am autobiographischen Kern des
Teufelspakts, will heißen an der absichtsvollen Verlagerung des ,,eigentlichen``
Lebens in das Werk, geht es Klugkist darum, die Identität aller ,,vorgestellten``
Erscheinungen im Willen herauszuarbeiten: Als ein vorwiegend emotional gegründetes
Begriffs-System ist der Sinn-Zusammenhang auch Ausdruck der Einheitlichkeit des Willens in
jeder seiner denkenden Objektivationen. Die ,,Struktur`` dieses Begriffs-Systems -
nicht von ungefähr beschreibbar mit Hilfe der strukturalistischen Sprachtheorie - veranschaulicht
sowohl den inneren Widerspruch des immer ungeteilten Willens als auch den Weg, der jeder
seiner ,,Entäußerungen`` in Raum und Zeit von ihm her vorgeschrieben ist. Im
Anschluß an die literarische Sublimierung bei Mann beginnt Klugkist seine Untersuchung
mit der Leitmotivtechnik, erweitert sie zur Poetik und schließt mit Thomas
Manns Modernität. Innerhalb der triadischen Struktur des Faustus im Anschluß
an Schopenhauers Willens-Metaphysik entsprechen den ersten beiden Stufen der
Rückkehr-Triaden sowie dem Übergang zu ihrer dritten Stufe drei
Leitmotivgruppen, die Klugkist mit den Begriffen der ,,Unterwelt``,
der ,,Geschlossenheit`` und des ,,Durchbruchs`` umschreibt. Die
quälende Sehnsucht nach dem ,,Durchbruch``, nach Überwindung der
Individuation, bestimmt dabei sämtliche Schicksale der erzählten Welt. Und
wohin führt der ,,Durchbruch``? Letztlich wohl noch über den Faustus
hinaus in die unwirklich-illusionäre Existenzform der ,,Allsympathie``.
Seine Untersuchung der Poetik des Faustus beschließt Klugkist nach der
Behandlung des strengen Satzes mit der sublimen Erfüllung der Sehnsucht im Werk.
Im Gegensatz zum Krull und Joseph ist dabei das fast immer präsente
und werkbegründende Leiden des Narziß im Doktor Faustus niedergelegt und
aufbewahrt. Die Modernität Thomas Manns sieht Klugkist vor allem an
seinem Leiden an der Entzweiung von Geist und Natur, so daß ihn die
Sehnsucht nach ihrer Wiedervereinigung umtreibt. Denn des symbolisch bergenden
Universums von Mythos und Religion beraubt, entlassen aus der unmittelbaren
Beziehung zur äußeren sowohl wie inneren ,,Natur``, schwankt der haltlose
Mensch der Neuzeit zunehmend zwischen der derprimierenden Ahnung, einem nunmehr Fremden
rettungslos unterworfen zu sein, und der erhebenden Überzeugung, dieses Fremde kraft
seiner emanzipierten Vernunft gestalten und zum eigenen Glücke berherrschen zu können ...
Eine sublime Erfüllung der Sehnsucht im Werk gelang auch Albert Einstein mit seinem Durchbruch zur allgemeinen Relativität. Den von Klugkist in ihrer Dynamik untersuchten Dualismen im Narzißmus Thomas Manns können dabei die von Holton unterschiedenen Themata im Denken Albert Einsteins gegenübergestellt werden:
Gestörter Narzißmus | Primärer Narzißmus | Chaos | Ordung |
Relativierung | Absolute Existenz | Willkür | Gewißheit |
Fragmentierung | Kohärenz | Sinnesvielfalt | Einheitlichkeit |
Unsicherheit | Geborgenheit | Konstruktion | Prinzip |
Reflexion | Unbewußtheit | Unvollständigkeit | Vollständigkeit |
Moral | Ästhetik | Wahrscheinlichkeit | Kausalität |
Vorstellung | Wille | Zufälligkeit | Determinismus |
Schein | Sein | Atomismus | Kontinuum |
Vielheit | Einheit | Quanten | Relativität |
Die Flucht Einsteins aus der schwerzlichen Rauheit und trostlosen Öde des Alltags in
die Hochgebirgslandschaft des Geistes beginnt mit dem Erweckungserlebnis durch die Euklidische
Geometrie. Sie setzt sich fort im Mitleid mit Marie, die nur Gefühl für ihre Liebe zu
ihm aufbringt, aber nichts beim Erschauen der großartigen Natur empfinden kann und auch
nicht seine Freude an der geistigen Arbeit mit ihm zu teilen vermag. Für sein Leben
gefestigt wird seine Alltagsflucht in Verbindung mit der Sehnsucht nach der Einheit im
Kosmos durch Spinozas Geometrie der Ethik, die er mit Freunden in der ,,Akademie
Olympia`` las. Anfang des 20. Jahrhunderts liegt Einsteins Persönlichkeit
weitgehend fest. Fortan wird er nach Ordnung und Gewißheit streben sowie Chaos und Willkür
zu überwinden trachten. Seine Abneigung gegen Zufälligkeit und Statistik ist damit tief
in seiner Persönlichkeit verankert und läßt ihn sein Leben lang an der Quantentheorie
zweifeln und sie stets nur mit der Thermodynamik im Rahmen der statistischen Physik gelten.
Diesen bloß konstruktiven Theorien gegenüber favorisert er (nicht nur rational, sondern
auch emotional) die Prinziptheorien: Im Nov. 1919 schreibt er in einem Artikel für
die Times als Antwort auf die Frage: Was ist Relativitätstheorie? Vorzug der
konstruktiven Theorien ist Vollständigkeit, Anpassungsfähigkeit und Anschaulichkeit,
Vorzug der Prinziptheorie ist logische Vollkommenheit und Sicherheit der Grundlage. Die
Relativitätstheorie gehört zu den Prinziptheorien. Diese Abgrenzung der sicheren und
vollkommenen Prinziptheorien von den anpassungsfähigen und anschaulichen konstruktiven
Theorien sah Einstein für derart fundamental an, daß er keine der Quantentheorien
in der Grundlagenforschung ernst nahm.
Thomas Mann gestaltete zu seinem Glücke das Fremde seiner menschlichen Natur und hob es letztlich auf in der ,,großen Freude`` der ,,Allsympathie``. Es wäre eine reizvolle Aufgabe für einen berufenen Schriftsteller, analog zum Faustus und Krull zwei Weisen der Gestaltung des Fremden im Leben Albert Einsteins nach mathematischen Prinzipien zu konstruieren. Der Reihentechnik des Faustus entspräche die Invariantentheorie und die ,,Identität`` von Autor, Erzähler und Deutschland wäre auf die ,,Identität`` von Autor, Physiker und Kosmos zu übertragen. Die Rolle der Musik nähme die Mathematik ein und den Werken Beethovens und Schönbergs entsprächen die Werke Newtons und Einsteins. Den Dualismen Manns stünden die Themata Einsteins gegenüber. Und die literarisch ernsthafte Behandlung der Relativitätstheorie könnte ebenso wie bei Mann durch eine heiter-parodistische Verwandlung der Quantentheorie ergänzt werden. Leider bedürfte es für derartige Vorhaben eines Schriftstellers, der in beiden Kulturen gleichermaßen zu Hause wäre ...
Kunst und Wissenschaft sind zugleich Verfeinerungen des Erlebens und Denkens des Alltags. Der literarischen Sublimation Manns entspräche die physikalische Verfeinerung Einsteins. Eine herausfordernde Aufgabe für einen Philosophen sollte es sein, Literatur- und Wissenschaftstheorie in einer vereinheitlichten Kulturtheorie aufgehen zu lassen. Der Strukturalismus in der Literaturtheorie und der Formalismus in der Wissenschaftstheorie greifen dabei gleichermaßen zu kurz, ebenso wie die aus historisch-hermeneutischer Geisteswissenschaft und empirisch-analytischer Naturwissenschaft sich speisende ,,kritische`` Gesellschaftstheorie. Verleugnen die hermeneutischen und analytischen Spielereien der Strukturalisten und Formalisten zumeist die reale Basis ihrer Kopfgeburten, mangelt es der kritischen Theorie an methodischer Strenge. Im Anschluß an die Werke Einsteins und Manns geht es um eine Vereinheitlichung von Kunst, Philosophie und Wissenschaft, die sich an gemeinsamen klassischen Prinzipien orientieren sollte und damit zugleich Erkenntnistheorie und Ontologie im Rahmen einer methodischen Kosmologie zu verbinden hätte. Bevor diese Aufgabe gemeinschaftlich in Angriff genommen werden kann, ist aber - wie schon ähnlich hundert Jahre zuvor Dekadenz und Positivismus - die gegenwärtig grassierende Mode der postmodernen Beliebigkeit zu überwinden.