Seit Anbeginn des Sprachvermögens erzählen sich die Menschen Geschichten, die sie nach
Erfindung der Schrift in feste Formen kleideten und über Jahrtausende bewahrten. Aus
diesem Fundus speisten sich die Mythen, Märchen und Legenden, in denen bis heute die
kulturellen Archetypen tradiert und fortgeschrieben werden. Neben dieser dem Mundwerk
entstammenden Traditonslinie der Geschichten hat sich eine mindestens ebenso alte
Überlieferungsfolge der aus dem Handwerk hervorgegangenen Techniken entwickelt. Das
Handwerk des Buchdrucks beschleunigte die Vervielfältigung und Verbreitung der Schrift
und das Internet revolutioniert gerade die weltweite Vervielfältigung und Verbreitung
auch der weiteren Medien Bild, Ton und Film. Nach dem Blei- und Photosatz der Schrift
in der ,,Gutenberg-Galaxis`` ist mit der Digitalisierung aller Medien in der
,,Turing-Galaxis`` der Phantasie kaum mehr eine Grenze gesetzt. Der Zauber des
Lesens beim Schweifenlassen der durch den Text erregten eigenen Gedanken, Vorstellungen
und Gefühle ist eine Lebenserfahrung, die gleichwohl noch lange Bestand haben wird.
Denn auch ein Multimedia-Hypertext ist eben vorfabriziert und schränkt damit die
eigene Phantasie ein. Dabei wird die Weltflüchtigkeit des Lesens durch Fantasy und
SciFi noch weit mehr beflügelt als vermöge realistischer Romane. Ist aber die
Massenbewegung der Fantasy im Gegensatz zur Subkultur der SciFi-Fans nicht Ausdruck
einer grundsätzlichen Unzufriedenheit mit dem entzauberten und durchorganisierten
Lebensalltag in der technisch-wissenschaftlichen Zivilisation? Warum sind es zumeist
esoterische Magie oder religiöse Mythen und nicht wissenschaftliche Theorien, die
die Massen begeistern und damit auch noch Bildungs- und nicht nur Unterhaltungswert
hätten? Die wissenschaftlichen Erzählungen müssten vielleicht nur spannend-unterhaltsam
aufbereitet werden. Gelungene Beispiele wären für Deutschland von
Ditfurths Evolutionstrilogie
sowie international Gaarders Philosophiegeschichte Sofies Welt
und Hawkings Kosmologie
Eine kurze Geschichte der Zeit. Alle Bücher waren auch Bestseller, blieben aber Ausnahmen.
Mark Alpert's Wissenschafts-Thriller Final Theory
ist ebenfalls nur ein Thriller darüber,
an die Theorie heranzukommen und dramatisiert nicht die Theorienbildung selbst als Thriller.
Wollen die meisten Leserinnen wirklich nur unterhalten und nicht zugleich gebildet werden? Der
Sozialforscher Neil Postman beklagte schon 1985 in seinem Buch Amusing Ourselves to Death
den zunehmenden Schwachsinn in den Unterhaltungsmedien, vor allem natürlich im Privatfernsehen
und in Hollywoodfilmen. Und der Schriftsteller David Forster Wallace kleidete seine
Gesellschaftskritik 1996 in den grandiosen Roman Unendlicher Spaß. In Deutschland
gehört Juli Zeh zu der selten gewordenen Autoren-Spezies, die noch den Angriff auf die
Freiheit beklagen. Überwachungsstaat und Unterhaltungsindustrie arbeiten seit langem
zusammen; denn schon im alten Rom brauchte das Volk Brot und - Spiele. Was den Römern der
Zirkus, war den Bürgern das Theater. Lenz lässt 1776 in seiner Komödie Die Soldaten
einen Pfaffen nach dem Nutzen der Lustspiele fragen und von einer Bürgerstochter zur Antwort
bekommen: Ei was, muss man denn immer lernen, wir amüsieren uns, ist das nicht genug.
Mit dem Mädchen wird es unter den Soldaten ein schlimmes Ende nehmen und Lenz reflektiert
in seiner Parodie einer Komödie seine Zeit im Umbruch zwischen Monarchie und Republik. Aber
nicht philosophische Reflexion und ästhetische Vielschichtigkeit sind in Literatur und Drama
gefragt; die archaische Grausamkeit und moralische Einfachheit der Mythen und Märchen
fasziniert die Massen bis heute. Ist diese Vereinfachungstendenz im Kontext einer komplizierter
werdenden Welt zu verstehen? Geht es um die bloße Reduktion von Komplexität oder sind die
Menschen vom rasanten Fortschritt in Wissenschaft und Technik schlichtweg überfordert?
In den religiösen Mythen gibt es ja keinen Fortschritt; ihre banalen Weltdeutungen sollen
ewig gelten und sind deshalb einfach zu glauben und auswendig zu lernen. Aber wie steht es
mit den Mythen des Aberglaubens? Und sind nicht sogar die Wissenschaften von Mythen durchsetzt?
Wie z.B. dem Glauben an eine vereinheitlichte Theorie aus einer Haltung
kosmischer Religiösität
heraus, nach der es eine im Seienden verkörperte Vernunft geben
müsse, wie Einstein sich ausdrückte.
Christian Begemann fasst in seinem kulurwissenschaftlichen Beitrag zu DRACULA UNBOUND die Verbindung von Christentum und Vampirismus in der Literatur der letzten 200 Jahre zusammen: Bleibt die Ablehnung der christlichen Metaphysik mental auf deren Problemstellungen fixiert, bewegt sich in ihren Strukturen und weist ein kompensatorisches Begehren nach einer anderen, neuen Mythologie auf, das zu immer neuen Ursprungsgeschichten drängt, so schreibt sich noch in die Verteidigung der Religion deren Zerfall ein. Die mittlerweile mehr als zwei Jahrhunderte andauernde Konjunktur des Vampirismus ist ohne diese Doppelkonstellation nicht vorstellbar. Die Religion bringt bekanntlich das ,,Böse`` erst hervor, um es dann bekämpfen zu können. Hexen, Vampire und Werwölfe boten sich dabei als passende Inkarnationen des Teufels an, um die Menschen erschreckt und verunsichert unter die Fittiche des Klerus nehmen zu können. Der Verwandlungsglaube zwischen Tier und Mensch ist sehr viel älter als die abrahamitischen Religionen; denn er entstammt den Erfahrungen der Jäger, die nicht selten ihre Beute mit den Wölfen teilten. In den USA bekämpfen Christen die Darwin'sche Abstammungslehre noch heute, aber bereits im mehr als 3000 Jahre alten Gilgamesch-Epos heißt es: Aruru wusch sich die Hände, / Kniff sich Lehm ab, warf ihn draußen hin. / Enkidu, den gewaltigen, schuf Aruru, einen Helden, / Einen Sprössling der Nachtstille, mit Kraft beschenkt von Ninurta, / Mit Haaren bepelzt am ganzen Leibe; / Mit Haupthaar versehen wie ein Weib: / Das wallende Haupthaar, ihm wächst's wie der Nisaba / Auch kennt er nicht Land noch Leute: / Bekleidet ist er wie Sumukan! / So verzehrt er auch mit den Gazellen das Gras, / Drängt er hin mit dem Wilde zur Tränke. Die Muttergöttin schuf den Gewaltigen und die Götter des Krieges, des Getreides und der Tiere statteten ihn mit Kraft, Haaren und Fell aus. Noch ist der Wildmensch ungezähmt, aber Gilgamesch weiß Rat und wendet sich an die Hure: Schaff ihm, dem Wildmenschen, das Werk des Weibes: / Dann wird sein Wild ihm untreu, das aufwuchs mit ihm in der Steppe. Diese Urszene, in der das Weib den Mann zum Menschen macht, ist in vielen Märchen und Mythen variiert worden: Von der biblischen Vertreibung aus dem Paradies bis hin zum Grimm'schen Froschkönig. Stark behaarte Menschen werden aufgrund eines genetischen Defektes immer einmal wieder geboren. Und in Rumänien soll es noch heute einen kauzigen Waldschrat geben, der sich für einen Werwolf hält. Meyer bezieht sich mit den Quileutes auf native americans, die sich ihren Glauben, von Wölfen abzustammen, ebenfalls bis in die Gegenwart bewahrt haben.
Der zweite Klassiker, auf den sich Stephenie implizit bezieht, ist das Märchen von Amor und Psyche, das Apuleius um das Jahr 150 herum in den Metamorphosen veröffentlichte. The godlike creature Edward verkörpert die reine Liebe Amor's: A perfect statue, carved in some unknown stone, smooth like marble, glittering like crystal. Amor und Edward erstrahlen im Licht des Sonnengottes. Vorchristliche Vampire haben weder Gottes Licht noch sonstige christliche Utensilien zu fürchten. Bei Apuleius dürfen Liebe und Sinnlichkeit - im Dunkel der Nacht - einfach in Wolllust aufgehen, ganz ohne Trauschein. Aber wie kann eine ,,Statue`` belebt werden? Aruru kniff sich Lehm ab und hatte dienstbare Götter, die ihn belebten. In den von Meyer erzählten Mythen der Quileutes nähren sich die ,,Statuen`` vom Blut der Stammestöchter: the creature, who looked like a man but was hard as a granite rock, with two Makah daughters. One girl was already dead, white and bloodless on the ground. The other was in the creature's arms, his mouth at her throat. Zum Glück für Bella hatte Edward dem Menschenblut abgeschworen, sein Lebenselexier blieb jedoch Blut. Und die Blutrünstigkeit teilte er mit allen Raubtieren, auch mit den Werwölfen. Eigentlich menschlich belebt wurde er erst - wie schon Enkidu durch die Hure - von seiner Psyche Bella. Sie erschloss ihm die Sinnlichkeit und ließ ihn nach ihrer Vermählung die Wolllust erleben. Immerhin, verheiratet dürfen Christenmenschen sogar der Sinnenfreude frönen,- wenn es denn der Zeugung neuer Christenmenschen dient. Mit dieser hinterweltlichen Moral fällt Meyer mindestens ins 18. Jahrhundert zurück und hat deshalb eben an Austen angeknüpft. Die wohlerzogene Pfarrerstochter hatte bereits mit 15 Jahren die übersteigerte Leidenschaftlichkeit in dem Sturm und Drang - Roman Die Leiden des jungen Werther parodiert. Wie schon die Anglikanerin Austen mit ihren schicklichen Liebesromanen, hat es sich die Mormonin Meyer wiederum zu ihrer Aufgabe gemacht, gegen den in der Popkultur nachwirkenden Sturm und Drang der Jugendrevolte in den swinging sixties anzuschreiben. Der Freidenker Goethe dagegen, wendet sich bereits 1797 mit seinem vampyrischen Gedicht Die Braut von Korinth gegen die Zerstörung und Pervertierung des Eros durch das Christentum und bietet darin eine genetische Begründung für die Entstehung des Vampirismus als Perversion. Begemann interpretiert Goethe ausführlich, aber dem Lesen der Quelle sollte sich niemand entziehen. Im Korinth der Zeitenwende überschnitten sich noch griechischer Freigeist und christliche Moral: Er ist noch ein Heide mit den Seinen, / Und sie sind Christen und getauft. / Keimt ein Glaube neu, / Wird oft Lieb und Treu / Wie ein böses Unkraut ausgerauft. Eine Ehe zwischen Heiden und Christen war nicht erlaubt: Durch der guten Mutter kranken Wahn, / Die genesend schwur: / Jugend und Natur / Sei dem Himmel künftig untertan. Die Braut starb den Himmelstod, aber als Wiedergängerin blieb ihr noch die heidnische Bluthochzeit: Um zu saugen seines Herzens Blut. Und am Ende dann der gemeinsame Liebestod: Bring in Flammen Liebende zur Ruh! / Wenn der Funke sprüht, / Wenn die Asche glüht, / Eilen wir den alten Göttern zu. Lenz hatte in den Soldaten die Unmöglichkeit einer standesübergreifenden Ehe zwischen Bürgerstochter und aristokratischem Offizier angeprangert, ebenso Schiller in Kabale und Liebe. Neben ihrer Gesellschaftskritik wurden die Stürmer und Dränger dabei von Shakespeare's Tragödie Romeo and Juliet angeregt, auf die sich ja auch Meyer wieder bezieht. Auf Die Braut von Korinth folgt zunächst erneut eine Frau als Vampirin in der Dichtung, die sich in unerhörter Weise sogar über eine Geschlechtsgenossin hermacht: Nachdem sich die Vampirin Geraldine behutsam verführend dem Edelfräulein Christabel bis ins Gemach genähert hatte: Then suddenly as one defied / Collects herself in scorn and pride, / And lay down by the maiden's side! - / And in her arms the maid she took, / Ah well-a-day! Wohl nicht zufällig im Umfeld des Aristokraten Lord Byron wird dann neben den erotischen Vampirinnen mit Lord Ruthven in The Vampyre ein ruchloser männlicher Verführer, gleichsam als vampirischer Lebemann, eingeführt. Und 100 Jahre nach Goethe sollte Bram Stoker mit Dracula innerhalb der untergehenden viktorianischen Gesellschaft dem an seiner aristokratischen Überlebtheit leidenden Abkömmling des Teufels in mehrfacher Hinsicht den Garaus machen. Er wird ihn zugleich an der Liebe, am Christentum und an seiner Herkunft scheitern lassen - und nach seiner Verfilmung durch Murnaus Nosferatu 1922 einen sagenhaften Boom weiterer Vampirmedien auslösen.
Der dritte Klassiker, Dracula,
der implizit in die twilight saga eingeht, ist
zeitgleich mit der Erfindung der Filmkunst geschrieben worden. Und schon bald nach den ersten
Witz- und Dokumentar-Filmen wurden Schauergeschichten verfilmt. Ramge hat die frühe Entwicklung
des Horrorfilms in seinem Dokument des Grauens
nachgezeichnet und Coppola lässt 1992 in
seiner sehenswerten Verfilmung von Bram Stoker's Dracula den transsylvanischen Grafen in
London die ersten öffentlichen Filmvorführungen erblicken. Für Silke Arnold-de Simine in
DRACULA UNBOUND knüpft der Film, obwohl primär eine technische Erfindung, auch an
Geisterglaube und Vampirismus an: Bilder entstehen durch die technische Apparatur der
Kamera wie von Geisterhand. Bei der Photographie wie der Kinematographie zeigt sich,
dass mit neuen Technologien ein überkommener Aberglaube wieder auflebt. Wer Wissenschaft und
Technik nicht versteht, für den bleiben sie Mythologie und Magie. Und eine Verwandtschaft mit
dem Vampirischen weist der Film ebenfalls auf: Die Wirklichkeit wird ausgesaugt und blutleer
als ein Schattenspiel auf die Leinwand projiziert. Für Silke fand der Vampir im Film seine wahre
Heimat, im Schattenspiel wie im wiedergängerischen Dasein. Bei Stoker kommt der Film noch nicht
vor, gleichwohl ist der Roman eine Collage aus unterschiedlichen Medien und Textsorten,
wie etwa phonographischen Aufnahmen, Briefen, stenographischen (Tagebuch-) Aufzeichnungen und
Zeitungsartikeln, wodurch er die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Art und Weise der Übermittlung
lenkt. Und neben Schreibmaschine und Phonographen spielt auch die Telegraphie eine herausragende
Rolle. In der Introduction zur Bantam Classic - Ausgabe schreibt George Stade ähnlich wie
Begemann: Vampires, in Stoker's version, are puritan Christianity's demonic underside, its
negativ image, just as Dracula is a parody of Christ, ... Bram Stoker's Dracula, in short, is an
apparition of what we repress, particularly eros. ... Dracula is the symptom of a wish, largely
sexual, that we wish we did not have. ... To a woman in a Victorian frame of mind, Dracula's kiss
is but a scratch where she itches. ... The prevailing emotion of the novel is a screaming horror
of female sexuality. ... The emotional center of the novel balances quiveringly between two long
episodes: in one, sweet and virginal Lucy Westenra, the Light of the West, is turned into a vampire
by Dracula; in the other, Mina Harker, Stoker's paragon of womanhood, is saved, just barely, from that
fate worse than death. Es scheint, als ob Meyer die gesellschaftlichen Verhältnisse im christlichen
Kontext der gegenwärtigen USA schon frauenbestimmt auffasst und eher die Männer mit ihrer Sexualität
hadern lässt, gleichsam als a screaming horror of male sexuality. Stehen bei Stoker zwei Frauen
als personifizierte weibliche Lebensentwürfe einem männlichen Unhold gegenüber, sind es bei Meyer
zwei Männer als personifizierte männliche Unholde, zwischen denen sich eine Frau sexuell
selbstbestimmt zu entscheiden trachtet. Die moralische Selbstkontrolle Edward's entspricht
derjenigen Mina's und die natürliche Unbeherrschtheit Jacob's derjenigen Lucy's.
Fühlten sich mit dem Aufkommen der ersten Frauenbewegung um 1900 herum die Männer durch die erwachende
sexuelle Selbstbestimmung der Frauen verunsichert, sind es heute die emanzipierten Frauen, denen die
Männer nicht mehr mit genügend Biss begegnen? The last third of Stoker's novel reads like a
parabel of consciousness, reason, and science stamping out the last recalcitrant monsters of unreason.
Auch diesen Gedanken kehrt Meyer um, indem sie die Volturi sich darüber lustig machen lässt,
dass gerade die Wissenschaftsgläubigkeit der Menschen den Monstern wieder Freiraum schaffe, nachdem
sie sich ausgerechnet durch Christianisierung von der Verfolgung durch das Christentum befreit
hatten. Stade schließt mit folgenden Analogien: Der Vampirjäger van Helsing is to Dracula as
Victor Frankenstein is to his monster, as Holmes is to Moriarty, as Dr. Jekyll is to Mr. Hide, as
Freud's ego is to his id. But he is also related to his author, with whom he shares a first name.
Wo ES war, soll ICH werden bzw. where id was, there shall ego be, hatte Freud die Entwicklung
von der Natur zur Moral tiefenpsychologisch umschrieben. Dagegen wendet sich Meyer ebenfalls, wenn sie
die Abspaltung des Monsters vom Urheber aufhebt. Im Gegensatz zu van Helsing und Frankenstein
sieht sich Carlisle nicht als kategorial getrennt zu sich selbst vor der Wandlung und zu seinen
gewandelten Opfern an.
DRACULA beginnt mit Jonathan Harker's Journal, in dem er über seine Reise von London nach Transsylvanien berichtet. In diesem Mischgebiet östlicher und westlicher Völker sollen noch alle bekannten Aberglauben vorkommen: I read that every known superstition in the world is gathered into the horseshoe of the Carpathians. Der aufgeklärte Engländer auf dem Rückweg in die dunkle Seite des Zwielichts: It was on the dark side of twilight when we got to Bistritz. Im Hotel Zur Goldenen Krone wurde ihm eine Nachricht des Grafen Dracula überreicht: ``My friend - Welcome to the Carpathians. I am anxiously expecting you. Sleep well to-night. At three to-morrow the diligence will start for Bukovina; a place on it is kept for you. At the Borgo Pass my carriage will await you.'' Am nächsten Tag as the evening fell it began to get very cold and the growing twilight seemed to merge into one dark mistiness ... . Nach des Waldes Finsternis nahte der Borgo Pass, wo die Kutsche des Grafen bereits wartete, obwohl sie eine Stunde zu früh ankamen. Der Kutscher wies entschuldigend darauf hin, dass sein englischer Fahrgast es eilig hatte. Aber der Fremde durchschaute ihn: ``That is why, I suppose, you wished him to go on to Bukovina. You cannot decive me, my friend; I know too much and my horses are swift.'' As he spoke he smiled, and the lamplight fell on a hard-looking mouth, with very red lips and sharp-looking teeth, as white as ivory. One of my companions whispered to another the line from Burger's ``Lenore'':- Denn die Todten reiten schnell- The strange driver evidently heard the words, for he looked up with a gleaming smile. Angekommen in der Burg des Grafen, wurde Jonathan von einem hochgewachsenen alten Mann begrüßt: ``Welcome to my house! Enter freely and of your own will!'' Am Tisch war alles für ein Nachtmahl hergerichtet, aber Harker fesselte die ungewöhnliche Erscheinung des Grafen Dracula. Eine kräftige Adlernase und eine hohe, gewölbte Stirn zwischen denen buschige Augenbrauen zusammenwuchsen, wurden von spitz zulaufenden Ohren beseitet. Sein Haarwuchs war dicht und das Gesicht insgesamt besonders blass, so dass die roten Lippen geradezu aufschienen und von ungewöhnlicher Vitalität zeugen mochten. Hithero I had noticed the backs of his hands as they lay on his knees in the firelight, and they had seemed rather white and fine; but seeing them now close to me, I could not but notice that they were rather coarse-broad, with squat fingers. Strange to say, there were hairs in the centre of the palm. The nails were long and fine, and cut to the point. Und als der Graf ihn beiläufig berührte, erschauderte Jonathan; denn Dracula's Hand war eiskalt. ... Seine geschäftlichen Angelegenheiten sollten Harker abzulenken vermögen; denn er war als Agent im Auftrag eines Häusermaklers unterwegs, weil der transsylvanische Graf in London ein größeres Haus erwerben wollte. Die üppige Provision ließ Jonathan sogar eine Reise in die Finsternis wagen, die von heulenden Wölfen, wunderlichen Lichterscheinungen und einigen typischen Utensilien zum Abschrecken von Vampiren begleitet worden war. Noch wunderte er sich darüber: What meant the giving of the crucifix, of the garlic, of the white rose, of the mountain ash? Ein großes, altes und verfallenes Gemäuer mit beistehender Kapelle sagte dem Grafen besonders zu und der Vertrag war schnell besiegelt. Nachdenklich und alterssentimental wurde Dracula grundsätzlich: ``I'm glad that it is old and big. I myself am of an old family, and to live in a new house would kill me. ... We Transsylvanian nobles love not to think that our bones may lie amongs the common dead. I seek not gaity nor mirth, not the bright voluptuousness of much sunshine and sparkling waters which please the young and gay. I am no longer young; and my heart, through weary years of mourning over dead, is not attuned to mirth.'' Die schauerlich-melancholische Stimmung ging unmerklich in den Anbruch der Morgendämmerung über und der Graf wies seinem Besucher das Schlafgemach zu. Jonathan war noch nicht müde und so erfrischte und rasierte er sich lieber. Als unversehens der Graf dabei zu ihm trat, machte der Gast eine weitere beunruhigende Entdeckung. There was no reflection of him in the mirror! Dermaßen erschreckt, schnitt sich Harker leicht mit dem Rasiermesser. When the count saw my face, his eyes blazed with a sort of demoniac fury, and he suddenly made a grab at my throat. Nur gut, dass Jonathan das Kruzifix dabei hatte; denn the sharp, canine teeth an seiner Kehle hätten ihn zu Fall gebracht.
Als das verängstigte Menschenkind endlich eingeschlafen war und erst am Nachmittag wieder erwachte, geriet es nicht minder in Panik. Wie ein wildes, gefangenes Tier suchte es nach einem Weg ins Freie. Aber alle Türen hinaus waren verschlossen und nur die innengelegenen Flure, Hallen und Zimmer begehbar: The castle is a veritable prison, and I am a prisoner! Zur nächsten Mitternacht versuchte sich der Gefangene zu beruhigen und den Grafen mit Fragen nach seiner Herkunft abzulenken. ``We Szekelys have a right to be proud, for in our veins flows the blood of many brave races who fought as the lion fights, for lordship. Here in the whirlpool of European races, the Ugric tribe bore down from Iceland the fighting spirit, which Thor and Wodin gave them, which their Berserkers displayed to such fell intent on the seaboards of Europe, aye, and of Asia and Africa too, till the peoples thought that the were wolves themselves had come. Here, too, when they came, they found the Huns, whose warlike fury had swept the earth like a living flame, till the dying peoples held that in their veins ran the blood of those old witches, who, expelled from Scythia had mated with the devils in the desert. Fools, fools!'' Was der Graf als bloße Narretei abtat, sollte in Harker die Arabian Nights heraufbeschwören. Dracula fuhr fort, indem er mit Stolz darauf verwies, dass es ein Dracula war, der als Speerspitze im Kampf der Ungarn mit den Türken, gleichsam das christliche Europa vor dem islamischen Orient bewahrte. Resigniert und wehmütig kam er zum Schluss seiner Erinnerungen: ``The warlike days are over. Blood is too precious a thing in these days of dishonourable peace; and the glories of the great races are as a tale that is told.'' Die folgenden Tage sollten den aufgeklärten Engländer vollends in Verwirrung und Schrecken versetzen: My very feelings changed to repulsion and terror when I saw the whole man slowly emerge from the window and begin to crawl down the castle wall over that dreadful abyss, face down with his cloak speading out around him like great wings. Unglaublich! Träumte Harker, war er dem Wahn verfallen? Gleich einer Fledermas hätte auch er von der Höhe seines Burgfensters aus seinem Gefängnis über dem tiefen Abgrund leicht entfliehen können. Aber hatte die Moderne nicht alle Mythen längst entzaubert? Unless my senses deceive me, the old centuries had, and have, powers of their own which mere ``modernity'' cannot kill. Aus dem Dunkel der Nacht vergangener Jahrhunderte schienen auch die three young woman zu kommen, denen der junge Mann allerdings nicht nur entsetzt und verschreckt zu entfliehen versuchte, sich ihnen vielmehr mit ängstlich-lustvoller Hingabe auch willig auslieferte. Was wäre ihm schon anderes übrig geblieben? Das brennende Verlangen der wunderschönen Draculinen, die stechenden Blicke und strahlend weißen Zähne zwischen leuchtend roten, sinnlichen Lippen, duldeten keinen Widerstand. Die wild-erotische Viererkonstellation verlor jedoch unversehens an Biss als - der Graf erschien und sich fordernd an seine Sklavinnen wandte: ``How dare you cast eyes on him when I had fobidden it? Back, I tell you all! This man belongs to me!'' Die bissigen Damen wichen zurück, machten ihrem Meister aber zugleich Vorhaltungen: ``You yourself never loved; you never love!'' Das konnte Dracula nicht auf sich sitzen lassen: ``Yes, I too, can love; you yourselves can tell it from the past.'' Später sollten sie mit ihrem Objekt der Begierde machen können, was sie wollten. Zur Besänftigung hielt ihnen ihr Meister einen Sack hin, aus dem das Seufzen und Winseln eines halberstickten Kindes herausdrang. Blutrünstig drängten sich die schrecklichen Schönen um ihr hilfloses Opfer.- Jonathan erstarrte vor Abscheu und überließ sich der rettenden Ohnmacht: Then the horror overcome me, and I sank down unconscious.
Im schauerlichen Gewand einer gothic novel konnte auch ein prüder Christenmensch des viktorianischen
Zeitalters von brennender Lust und sexueller Perversion schreiben - und schrecklich-schöne sadomasochistische
Phantasien beim Lesen provozieren. Oder wollte Stoker vielleicht mit den unwiderstehlichen, aber gefährlichen
Vamps
vor der aufkommenden Frauenbewegung seiner Zeit warnen? Lässt man den naturwüchsigen Weibern zu viel
Freiheit, entwickeln sie ihre eigene Sexualität, vernachlässigen ihre Kinder und überfordern die
pflichtschuldig und diensteifrig ihrer Arbeit nachgehenden Männer. Und dann noch das unverhohlen
homoerotisch aufgeladene Verhältnis des Meisters zu seinem Boten. Vampire sind die polymorph-perverse
Projektion des unterdrückten Sexualtriebes religiös-moralisch bestimmter Kulturen. Der Gegenpart zur
erotischen Viererkonstellation im Gemäuer des Grafen Dracula kann den Briefen Lucy's und
dem Tagebuch Mina's entnommen werden. Während Harker in seinem sadomasochistischen
Gefängnis gefangen gehalten wird und sich der Graf in heimatlicher Erde ruhend per Sarg auf Floß
und Schiff nach London auf den Weg macht, hat Mina böse Vorahnungen seines Erscheinens und macht
sich Sorgen um den Verbleib ihres Bräutigams Jonathan. Derweil sind ihrer Freundin Lucy
drei Heiratsanträge gemacht worden: von dem amerikanischen Naturburschen Quincy, dem rechtschaffenden
Arzt Jack und dem snobistischen Lord Arthur. Unter den jungen Gentlemans fällt allenfalls
Quincy aus dem Rahmen, weil er gerne auf die Jagd geht; aber auch er ist ausnehmend schicklich
im Umgang mit liebreizenden Bürgerstöchtern. Schmachtende junge Damen haben es schwerer als ihre
lüsternen Verehrer; denn die können ungestraft Bordelle aufsuchen, um der Lust zu frönen. Eine
erotische Viererkonstellation wie in der Burg des Grafen ist in Londoner Bürger- oder Adelshäusern
seinerzeit nicht üblich. Da bleibt einer jungen Frau nur die heimliche Selbstbefriedigung - oder der
Übergriff eines unwiderstehlichen Verführers. Was die Vamps für Jonathan sind, wird der Vampir
Graf Dracula für Lucy. Mühelos kann es seine sexuelle Gier mit der dreier Männer aufnehmen
und seine Gespielin auch noch zu einer weiteren Draculine machen. Coppola hat in seiner quellenorientierten
Verfilmung Bram Stoker's Dracula die erotischen Impulse, das sexuelle Verlangen und die religiös
erlösende Liebe unter den Christenmenschen in eine Rahmenhandlung eingebettet, die im Roman nur angedeutet
wird. Danach hatte Dracula bereits vor über 400 Jahren als gläubiger Christ gegen die islamischen
Türken gekämpft und die entscheidende Schlacht zwar als Heerführer gewonnen, dafür aber seine geliebte
Gräfin Elisabetha verloren. Aufgrund einer von den Türken lancierten Falschmeldung seines Todes,
hatte sie den Freitod gewählt und wurde von den orthodoxen Priestern gnadenlos exkommuniziert. Erbost und
empört über diese doppelten religiösen Machenschaften verfluchte der Graf seinen Gott und wurde dafür
mit dem Schicksal eines Untoten bestraft, der ewig auf seine Erlösung zu warten hatte. In Mina nun
vermochte Dracula seine einstige große Liebe wiederzuerkennen und so eröffnete sich ihm die
Möglichkeit, nach dem hemmungslosen Sex und der ausschweifenden Erotik wiederkehrend in den siebten
Himmel der christlichen Liebe hinauffahren zu können, um endlich vom Übel seines untoten
Übergangszustandes zwischen Leben und Sterben erlöst zu werden. Mina hat Dracula's
Ende in ihrem Journal festgehalten: As I looked, the eyes saw the sinking sun, and the
look of hate in them turned to triumph. But, on the instant, came the sweep and flash of Jonathan's
great knife. I shrieked as I saw it shear through the throat, whilst at the same moment Mr. Morris's
bowie knife plunged into the heart. It was like a miracle; but before our very eyes, and almost at
the drawing of a breath, the whole body crumbled into dust and passed from our sight. Während
Nosferatu sich verflüchtigte, hatte es aber auch den menschlichen Jäger Quincy Morris
erwischt: To our bitter grief, with a smile and in silence, he died, a gallant gentleman.
In Coppola's Film ist es zum Schluss Mina selbst, die Dracula enthauptet und pflockt,
so dass er erlöst seine Himmelfahrt antreten kann. Die junge und intelligente Schöne hat die
blutrünstige Bestie letztendlich bezwungen: That wonderful Madam Mina! She has man's
brain - and a woman's heart, lässt Stoker Professor van Helsing schwärmen. Nur eine
gleichermaßen durch Gefühl und Verstand bestimmte Frau vermochte den widernatürlichen Unhold in
Dunst aufgehen zu lassen, so dass er fortan in den Alpträumen der Leser und in den Schatten der
Filmtheater fortzuwirken begann.
Die Flut der Vampirmedien, die bis heute weltweit veröffentlicht wurden, ist unüberschaubar geworden. Seien es Bücher oder Filme, Comics oder Computerspiele: Vampire sind aus der Popkultur kaum mehr wegzudenken. Der medialen Reflexion des Vampirismus sind in DRACULA UNBOUND mehrere Untersuchungen gewidmet. Von den bisher über 3000 Filmen und den wohl noch zahlreicheren Büchern, die produziert wurden, ist sicher das Meiste trivialer Schund und genausowenig der Rede wert wie die vielen banalen Fernsehserien und einfältigen Groschenromane, die kitschigen Schlager oder die stumpfsinnige Blasmusik. Zum Glück gedeihen aber seit des Sturm und Drang - Aufruhrs in der Literatur am Rande des Massengeschmacks in den raren Bezirken der Subkulturen immer einmal wieder gelungene Kunstwerke, die nicht nur gekonnt gemacht ihren Kontext reflektieren, sondern auch ein weiteres Publikum erreichen.
Stoker's Dracula war 1908 in Deutschland erschienen. Mit den Dreharbeiten zu einer Verfilmung
des Stoffes begann der 33jährige Murnau 1921. Eine von der Murnau-Stiftung vollständig restaurierte
Fassung des NOSFERATU
erschien 2007 auf DVD. In ihrem Begleittext heißt es: Heute gilt
NOSFERATU nicht nur als der erste Vampir-Film, sondern als der Horrorfilm schlechthin. Von seinen
alptraumhaften Visionen geht noch immer eine verstörende Wirkung aus, ebenso wie Max Schreck die
Titelfigur des dämonischen Blutsaugers auf beängstigend vollkommene Art verkörpert. Und der Film
ist und bleibt eine der besten unter den rund zwei Dutzend Verfilmungen des Dracula-Stoffes - neben
der von Tod Browning aus dem Jahr 1931 (mit Bela Lugosi) und Terence Fishers Version von 1958 (mit
Christopher Lee). Bereits 1966 hatte Roman Polanski die Mainstream-Verfilmungen Hollywoods mit
seiner hintersinnigen Parodie The Fearless Vampire Killers souverän alt aussehen lassen.
Aber zurück zum Klassiker des Genres, dem Monument userer Filmgeschichte, dessen geniale
Bildschöpfungen sich tief ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben haben. In NOSFERATU
wurden in kunstfertiger Weise okkultistische Schattenspiele, natursymbolische Malerei und
phantastisch-romantische Musik zusammengebracht. Der Produzent Albin Grau hatte an der
Dresdener Kunstakademie studiert und entwarf das Set-Design der Szenen. Das Orchesterwerk,
eine Suite in zwei Teilen zu je fünf Sätzen, hatte Hans Erdmann Timotheos Guckel komponiert.
Anhand der wiederaufgefundenen Noten konnte die Filmmusik 2005 quellentreu aufgeführt und digital
konserviert werden. Murnau hatte sich schon als Kind für Puppenspiele begeistert, spielte in der
Schule mit viel Freude Theater und studierte später bei Max Reinhardt die Schaulspielkunst.
Nachdem er den Kriegseinsatz überstanden hatte, kam er in den Wirren der Nachkriegszeit über
Künstlerkreise und pansophische Bünde zum Film. Drehbuchautor Henrik Galeen und Regisseur
Murnau arbeiteten eng zusammen, strafften und anverwandelten den Stoff. In Anspielung auf die
Doppelbedeutung von Nosferatu als Untoter und Pestbringer verlegten sie die Handlung auf
das Jahr 1838, als die Pest in Transsylvanien grassierte, verminderten die Akteure auf die
wesentlichsten Charaktere und verkürzten den Schluss mit einer Zuspitzung auf die Opferrolle
des Weibes. Gleich einer Variante von der Schönen und dem Biest, vermag sich die junge Frau
dem Monster so lange hinzugeben, bis es in seiner Sauglust den ersten Hahnenschrei versäumt
und von der anbrechenden Morgensonne seinen endgültigen Tod erfährt. Diese Erlösung eines
Untoten durch die Hingabe einer Frau reinen Herzens war bereits in dem alten Christenbuch
beschrieben worden: Von Vampyren, erschrökklichen Geistern, Zaubereyen und den sieben
Todsünden. Auszüge aus dem Buch wurden als Texteinblendungen im Film verwendet. Für die
Visualisierung der Schatten, die der Todesvogel gleich einem Alpdruck in den Träumen der Menschen
hinterlässt, bot sich die entstehende Filmkunst ja besonders an. Die Idee zum Film NOSFERATU soll
Grau beim Betrachten einer Spinne gekommen sein, als sie gerade einer gefangenen Fliege das Leben
aussaugte. Im Film stehen die krallenhaften Finger des Vampirs neben den Spinnenbeinen auch im
Kontext mit den spitzenbewehrten Blättern fleischfressender Pflanzen. Der Vampir entnimmt dem
Menschen mit dem Blut gleichsam die Lebensessenz, seine Vitalität und Seele; zurück bleibt
bestenfalls ein bleicher, seelenloser Untoter. Im Umkreis des Okkultismus und der Pansophie
ist die Natur selbst Urheberin aller Mysterien und so gibt es bei Murnau auch keine
Auseinandersetzung zwischen oder Gegenüberstellung von Wissenschaft und Mythologie, Technik und
Magie. Im wissenschaftskritischen und technikfeindlichen Milieu der 1970er Jahre wird das anders
sein und der Autorenfilmer Werner Herzog lässt mit seinem kongenialen Remake von Murnaus
Nosferatu die tragisch-weibliche Intuition an der selbstherrlich-männlichen Ignoranz
scheitern.
Ende der 1960er Jahre tauchten in den Lightshows der Underground-Diskotheken lichtblitzartig
überblendet von pulsierenden Farbflecken und verwischt von schimmernden Öltropfen, immer
wieder die Horrorgestalten der medialen Vorzeit auf: Nosferatu, Tarantula, King Kong
und Godzilla beschatteten die Leinwände, während auf der Empore die Go-Go-Girls sich
rhythmisch wanden und auf dem Dancefloor die bekifften Hippies dynamisch dem Schallfeld der
Superboxen aufsaßen. Zum elegisch-ausladenden Trommelschlag des
eisernen Schmetterlings
erklangen die sagenhaften Verheißungen vom Garten Eden, deren elektrisch verzerrte Lockrufe
auf dem Horrortrip nicht selten in helles Wolfsgeheul übergingen. Ein Freak mochte sich unversehens
ziemlich allein im dopegesättigten Qualm vorkommen. Vampiren gleich erschienen ihm die bleich
aufscheinenden Gestalten, die sich wie schrecklich schöne Eisblumen aus kaltem Nebel zu elfenbeinernen
Monstern verdichteten. Auf die Burg des Grafen Dracula versetzt, wechselten beklemmende Stille und
schauerliches Heulen einander ab: ,,Hören Sie. Die Kinder der Nacht, wie sie Musik machen. Die Stadtbewohner
können sich eben nicht in die Seele eines Jägers versetzen. ... Ich lege keinen Wert mehr
auf Sonnenschein und blitzende Fontänen, für die sich die Jugend begeistern mag. Ich liebe die Dunkelheit
und die Schatten, wo ich mit meinen Gedanken allein sein kann. Ich stamme aus einem alten Geschlecht. Die
Zeit, das ist ein Abgrund, tausend Nächte tief. Jahrhunderte kommen und gehen. Nicht altern können ist
furchtbar. Der Tod ist nicht alles, es gibt viel Schlimmeres. Können Sie sich vorstellen, dass man
Jahrhunderte überdauert und jeden Tag dieselben Nichtigkeiten miterlebt?`` Diese elegische
Alterssentimentalität des mit seinem Schicksal hadernden Untoten prägt die Grundstimmung des ganzen
Films. Und der ewigen Wiederkehr des Gleichen im Schulalltag oder Arbeitsleben, versuchten auch die
Jugendlichen zu entkommen. Bis zum Anbruch der Morgenröte wird Harker noch dem Grafen ausgesetzt
sein - und am Morgen endete meistens erst der Diskobesuch. Die schwarze Seite der blitzenden Popkultur
beschwor im Untergrund der Aufklärung wiederum eine Romantik herauf, die Werner Herzog 1979 in einem
genialen Remake Nosferatus zum PHANTOM DER NACHT ausgestaltete. Die von Kirchenmusik und
Rheingold-Akkorden unterlegte morbid-melancholische Stimmung kündete vom Untergang einer Epoche. 1979
hatte Thatcher in England die Wahl gewonnen, die Russen marschierten in Afghanistan ein und im Iran wurde
der islamische Gottesstaat ausgerufen. Nosferatu war auch der Pestbringer und Coppola parallelisierte
in seinem Film später Zivilisierung und Syphilisierung. Nach der Pille und vor AIDS hatte die Jugend den
Rausch der sexuellen Freiheit genossen. Den neokonservativen und religionsverrückten Hinterweltlern kam da
die neue Seuche gerade recht. In den USA gingen unter Reagan Wirtschaftsliberalismus und Religionswahn
Hand in Hand. Wie einstmals der Pest und später der Syphilis gegenüber, wurde auch AIDS zunächst
mit Unverstand und Ratlosigkeit begegnet. Aber einige wussten schon früh von dem Übel, so auch
Lucy, die dem Pestbringer gegenüber tapfer äußert: ,,Der Tod ist groß. Wir sind
alle die Seinen. Die Flüsse fließen alle ohne uns. Die Zeit verrinnt. Und sehen Sie hinaus, die
Sterne treiben uns verwirrt entgegen. Nur der Tod ist grausam gewiss.`` Das Leiden des Untoten
reicht aber weiter: ,,Sterben ist Grausamkeit an Ahnungslose, aber der Tod ist nicht alles.
Es ist noch viel grausamer, nicht sterben zu können. Ich wünschte, ich könnte an der Liebe teilhaben,
die zwischen Ihnen und Jonathan ist.`` Selbstgewiss bietet die junge Frau dem fossilen Monster die
Stirn: ,,Nichts auf der Welt, selbst Gott nicht, wird das antasten können.`` Die befreite
Frau ist nur noch sich selbst Gesetz, ganz so wie der aufgeklärte Mann; dem allerdings die romantische
Liebe abhanden gekommen ist. Das Fehlen der Liebe, wissen Sie, das ist ein solcher Schmerz.``
Das Biest will die Schöne auf seine Seite ziehen und sie ebenso verwandeln wie schon ihren Mann.
Lucy widersteht jedoch dem niederträchtigen Ansinnen; denn die Rettung kommt nur aus
uns selbst. Und seien Sie sicher, ich schrecke nicht davor zurück, auch das Unwahrscheinlichste
zu denken. ... `` Die Frau kennt die Ursache der Pest und sinnt darauf, sich notfalls selbst
zu opfern: ,,Nosferatu, der Untote, er trinkt das Blut seiner Opfer und macht auch sie zu
Gespenstern der Nacht. Er ist wie ein Schatten und hat kein Spiegelbild. Wenn es Nacht wird, geht er
auf Beute aus, dringt durch Mauern, Wände und Türen. Er schwebt als Fledermaus in die Zimmer der
Schlafenden. Als schwarzer Wolf jagt er den Flüchtenden nach. Es gibt keine Hoffnung mehr, wenn er
kommt. ... Wenn ihn eine Frau reinen Herzens den Hahnenschrei versäumen lässt, tötet ihn das
Licht des Tages.`` Für den Arzt sind das natürlich nur wilde Ausgeburten der Phantasie und des
Aberglaubens. Aber die Frau glaubt, was sie sieht - und versteigt sich sogar zu der Ansicht einer
Gläubigen: ,,Der Glaube ist die erstaunliche Eigenschaft des Menschen, die es uns möglich
macht, Dinge zu sehen, die wir als unwahr erkannt haben.`` In dem Arzt und dem Opfer treffen
Mittelalter und Moderne aufeinander. Herzog lässt Dr. van Helsing lamentierend Ruhe bewahren
angesichts mysteriöser Todesfälle: ,,Es ist gewiss nicht die Pest. Wir wissen es nicht
genau ... Wir werden die Sache von Grund auf wissenschaftlich untersuchen, ohne Voreingenommenheit
und ohne Aberglauben.`` Gründliche Untersuchungen dauern ihre Zeit und so geht es Herzogs
Lucy viel zu langsam: ,,Genug mit Ihrer Wissenschaft. Ich weiß jetzt, was ich
tun muss. ... `` Letztlich bleibt das religiös motivierte Opfer der Frau so vergeblich wie
die christlichen Beschwörungsformeln von der ,,Geißel Gottes`` AIDS gegenüber.
Stoker und Murnau lassen den Vampirismus mit der endgültigen Vernichtung Draculas ausklingen, während bei Polanski und Herzog die nächste Vampirgeneration am Ende hinausreitet, um die ganze Welt zu verseuchen. Was bei Polanski noch schwarzer Humor war, wurde bei Herzog gleichsam zur prophetischen Vision. In den 1980er Jahren verbreitete sich AIDS rund um den Erdball, das Wettrüsten erreichte mit der Stationierung von Mittelstreckenraketen Europa, in Tschernobyl explodierte ein Kernkraftwerk und die fundamentalistischen Taliban errangen mit unverhohlener Unterstützung der USA in Afghanistan die Oberhand gegen die Russen und verwandelten das Land wieder in einen mittelalterlichen Gottesstaat. Neben diesen folgenreichen Großereignissen zerstörten Lukas und Spielberg mit ihren massenkompatiblen Blockbustern den zarten Keim des New Hollywood und in Deutschland begann mit der Einführung des Privatfernsehens und -rundfunks das banale Einerlei der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Mit dem Zerfall der Sowjetunion wurde den europäischen Ostblockstaaten vorübergehend das berauschende Gefühl der Freiheit zuteil und die 1990er Jahre folgten dem Prinzip Hoffnung,- das mit dem 11. September 2001 allerdings schnell wieder begraben wurde, eine weltweite Renaissance der Religionen auslöste und den USA eine neue Achse des Bösen bescherte. Bushs christlicher Kreuzzug gegen den heiligen islamischen Krieg Bin Ladens formierte erneut die Machtblöcke. Es ist interessant zu vergleichen, wie sich die Kultur im Kontext dieser politischen Großwetterlage mit verändert. Während in den USA wieder die religiös bestimmten Reaktionäre den Ton angeben, behaupten sich in Europa eher die liberal kritischen Stimmen. Ihren Niederschlag finden die konträren politischen Verhältnisse auch in der zeitgenössischen Literatur. Während Stephenie Meyer in den USA an ihrer twilight saga schreibt, arbeitet John Ajvide Lindqvist in Schweden an seinem Thriller Let the right one in. Beiden geht es zur gleichen Zeit, aber unabhängig voneinander, um die Liebesgeschichte eines Menschen mit einem Vampir. Zwischen den Ausführungen ihrer Ideen liegen erwartungsgemäß Welten. Die konservative Amerikanerin lässt eine schutzbedürftige 17jährige Schülerin auf einen heldenhaften Märchenprinzen treffen, der sich als gleichaltriger christlicher Vampir entpuppt. Dabei ist die Vampirfamilie natürlich reich und schön und scheint eine gesellschaftliche Utopie verwirklicht zu haben, der die Siedler auf ihrem Zug nach Westen seit Jahrhunderten zustrebten. Beim liberalen Schweden dagegen ist es ein 12jähriger Schüler, der des Beistandes bedarf, da er in der Schule als Außenseiter von einigen Mitschülern regelmäßig gehänselt und gequält wird. Und Beistand findet der Junge nicht bei einer Vorzeigefamilie, sondern bei einem eher unscheinbaren und ärmlichen Mädchen gleichen Alters. Dem vampirischen Yuppie-Milieu bei Meyer steht das asoziale Unterschichtsmilieu gegenüber, in dem Lindqvist seine junge Vampirin mit einem Pädophilen zusammenleben lässt. Der verhaltensgestörte Kinderfreund lebt in der heruntergekommenen Sozialwohnung eines randstädtischen Problemviertels und nicht wie ein angesehener Arzt im mondänen Eigenheim umgeben von anmutiger Bewaldung. Für Meyer wäre eine Umkehrung der Geschlechterrollen wohl schwer vorstellbar, während sie bei Lindqvist wie selbstverständlich daher kommt. Was für ein schöner Kontrast zwischen christlich-moralischen und liberal-humanistischen Lebensumständen und Weltanschauungen!
Stephenie hatte 2003 einen Traum, der sie zum Schreiben drängte, während John sich in seine Kindheit zurückversetzte. Bis auf die Witterung seiner Zeit sei alles in seinem Buch wahr, auch wenn es anders passiert sei, bekennt der Autor im Nachwort seines Thrillers Let the right one in. Mit dem Titel bezieht er sich natürlich auf eine Einschränkung der Freiheit von Vampiren, die Stoker in seinem Roman Dracula erwähnt: He may not enter anywhere at the first, unless there be some one of the household who bid him to come. Gerade ein Kind sollte also nicht jeden Besucher gleich hereinbitten. Diese interessante Mehrdeutigkeit des schwedischen Originaltitels und seiner englischen Übersetzung geht im deutschen Titel leider in vager Unbestimmheit verloren. So finster die Nacht beschwört allenfalls die allgemeine Furcht vor der dunklen Nacht herauf, der man sich womöglich allein im finsteren Wald ausgesetzt wähnt. Im Zwielicht der verregneten Kleinstadt Forks an der Nordwestküste der USA verliebt sich eine noch postpubertär jungfräuliche Schülerin von 17 Jahren in einen äußerlich faszinierenden Mitschüler. Bei Lindqvist ist es ein präpubertierender Schüler von zwölf Jahren, der sich 1981 mit einem mysteriösen Nachbarsmädchen im Stockholmer Vorort Blackeberg anfreundet. Mag in den USA jedes noch so kleine Dorf eine Kirche haben, Blackeberg ist ein Ort mit 10 Tausend Einwohnern und - ohne Kirche: Das sagt so einiges über die Modernität und Rationalität dieses Orts. Es sagt so einiges darüber, wie frei man sich von den Heimsuchungen und dem Schrecken der Geschichte wähnte. Die Trabantenstandt war erst 1952 erbaut worden und ihren Bewohnern wurde eine rosige Zukunft prophezeit im Sozialstaat Schweden. Die Umzügler mochten sich wie auf dem verheißungsvollen Zug nach Westen befunden haben. Am 21. Oktober 1981 aber, einem Mittwoch und dem Wotan gewidmeten Wednesday, saß Oskar Eriksson zusammengekauert mit einem Papierbausch in der einen Hand und dem Pinkelball in der anderen. Er blutete, bepinkelte sich, redete zu viel. Er leckte aus jedem Loch, das er hatte. Bald würde er bestimmt auch noch in die Hose kacken. Das Schweinchen. Oskar war vor den Hänseleien und Misshandlungen seiner Mitschüler ins Schulklo geflüchtet. Er galt als Außenseiter und vermochte sich einfach nicht zur Wehr zu setzen gegen die boshaften Klassenkameraden. Freunde hatte er nicht und die Inkontinenz mochte eine Folge des frühen Auszugs seines Vaters gewesen sein. Zur Kompensation seiner Ohnmacht sammelte er Kriminalgeschichten, verfolgte akribisch die Tathergänge und Todesumstände und malte sich phantasiereich die Qualen der Opfer aus. Nur tagträumend oder rollenspielend gelang es ihm, seine eigene Opferrolle umzukehren. Aber dann waren da der Mann und das Mädchen in die Nebenwohnung eingezogen und hatten sogleich die Fenster verdeckt.
Die Märchen-Tapete an der Wand neben seinem Bett führte in eine romantische Waldlichtung hinein und genau dahinter lebten nun der Mann und das Mädchen. Gerade mal dumpfe Geräusche und gelegentliches Gemurmel drangen zu ihm durch. Das regte Oskars Phantasie an und seinen ersten pubertären Regungen folgend, mag sich der Junge immer wieder mit dem Mädchen auf die Lichtung im verwunschenen Märchenwald geträumt haben. Er ahnte, dass der alte Mann nicht der Vater des Mädchens war. Und obwohl Oskar in der Schule am Aufklärungsunterricht teilgenommen und im Keller die abgegriffenen Playboy- und Penthouse-Hefte der älteren Jungs in Augenschein genommen hatte, vermochte er sich nicht vorzustellen, was genau Männer mit Frauen oder Mädchen anstellten. Gelegentlich trafen sich der Junge und das Mädchen abends vor dem Haus auf dem Spielplatz. So ungewöhnlich wie ihr Name Eli war sie auch selbst. Nie traf er sie tagsüber an oder konnte sich mit ihr verabreden. Aber lebte sie nicht gleich hinter seiner Wand? Ähnlich wie einst Pyramus und Thisbe verständigten sie sich durch die Wand; nur nicht durch ein Loch, sondern mit Hilfe des Morse-Alphabets. Da hatten sich zwei Außenseiter gefunden. Für seine Gedanken an sie vergaß er sogar seine Lieblingsbücher von Stephen King und hörte seltener seine Popidole Kiss. Und dann ereigneten sich in einem Nachbarort auch noch mysteriöse Todesfälle, bei denen viel Blut geflossen war. Fasziniert verfolgte Oskar die Zeitungsmeldungen und fügte sie seiner Sammlung ein. Während sich seine Mutter um ihn sorgte, traf er im Keller heimlich seine Freundin. Als er jedoch Blutsbrüderschaft mit ihr feiern wollte und sich dafür in die Hand schnitt, so dass sein frisches, rotes Blut wohlriechend herausquoll, hatte sie sichtlich Mühe, gegen ihre Raubtierinstinkte anzukämpfen und nicht gleich über ihn herzufallen. War Eli vielleicht ein Vampir? Sie war nicht ,,seine Freundin``, konnte es nicht sein. Sie war ... etwas anderes. Es gab eine große Distanz zwischen ihnen, die sich nicht ... er schloss die Augen und lehnte sich im Sessel zurück, und das Schwarze hinter seinen Lidern war der weite Raum, der sie voneinander trennte. Aber was war sie wirklich? Einstmals hieß sie Elias. Aber das war ein Jungenname. Hatten Vampire vielleicht ein drittes Geschlecht? So kühn vermochte Oskar noch nicht zu spekulieren. Er dachte vorerst über das Zitat nach, das sie ihm hinterlassen hatte: MEIN LEBEN HEISST JETZT GEHEN, MEIN BLEIBEN TOD. Aber wo war sie? Oder er? Der Schüler befand sich in der Nachbarswohnung und schaute in den Kühlschrank. Die Milch war zehn Tage alt. Oskar begriff. Die Milch gehört diesem Typen. Der Junge knallte den Kühlschrank zu. Was hatte dieser Kerl hier zu suchen gehabt? Was hatten er und Eli ... Oskar erstarrte. Sie hat ihn getötet. Ja. Eli hatte den Typen hier bei sich, um ... von ihm essen zu können, hatte ihn als lebende Blutbank benutzt. So machte sie das. Aber warum war der Kerl damit einverstanden gewesen? Des Vampirs Begleiter war einstmals Schwedischlehrer gewesen, aufgrund seiner Pädophilie aber vom Schuldienst suspendiert worden. Ein zierlich kindlicher Vampir, egal ob knaben- oder mädchenhaft, versprach da genau die richtige Symbiose zu beiderseitigem Vorteil.
Nun war Eli allein und in Oskar keimte die Saat seiner unglaublichen Erlebnisse.
Er lag mit weit offenen Augen im Bett, schaute zum Fenster. Er versuchte in sich hineinzuhorchen,
ob er dabei war ... einer zu werden, wusste jedoch nicht, wie sich das anfühlen sollte. Eli. Wie war
es eigentlich dazu gekommen, als sie ... einer geworden war? Von allem getrennt zu werden. Alles
zu verlassen. Mama, Papa, die Schule ... Bei Eli zu sein. Für immer. Nie mehr würde er gehänselt
und gequält werden. Seine unscheinbare, aber raubtierhafte Begleiterin, der Wolf im Schafspelz
stünde ihm bei, was immer geschehen mochte. Lass den Richtigen herein überschreibt Lindqvist
den letzten Teil des Romans und leitet mit einem Zitat
Morrissey's
zum spektakulären Horrorfinale
über: Let the right one in / Let the old dreams die / Let the wrong ones go / They cannot do /
What you want them to do. Während einer abendlichen Trainingsstunde im Schwimmbad, lauerten
Oskar wieder eine Clique bösartiger Jungs auf, die ihn demütigen und foltern wollten.
Nachdem sie ihn bis an den Rand des Ertrinkens unter Wasser gehalten hatten, zogen sie ihn an den
Haaren hoch und zielten mit einem Stilett auf sein Gesicht. ... Ein Lichtfleck zeichnete sich vor
dem schwarzen Mittelfenster ab, und eine Mikrosekunde später wurde es zerbrochen. Das Sicherheitsglas
zersplitterte nicht wie gewönliches Glas. Es explodierte vielmehr zu tausenden winzig kleiner,
abgerundeter Fragmente, die klirrend auf den Beckenrand fielen, in die Halle flogen, aufs Wasser
hinaus, und glitzerten wie eine Myriade weißer Sterne. ... Oskar Eriksson war von einem
Engel geholt worden. Von dem gleichen Engel, der den Zeugenaussagen zufolge seinen Peinigern
die Köpfe abgerissen und sie auf dem Grund des Schwimmbeckens zurückgelassen hatte.
Einem Raubtier gleich hatte Eli gewütet: ,,Engel ... Flügel, der Kopf platzte
... das Stilett ... versuchten Oskar zu ertränken ... Oskar war schon ganz blau ... Zähne wie
bei einem Löwen ... hat Oskar geholt ... `` Und er konnte nichts anderes denken als:
Ich sollte verreisen. Und wohin fuhren sie? Nach Norden den tiefen Wäldern entgegen,
um ihr junges Glück in der märchenhaften Jagdhütte auf der schneebedeckten oder blumenreichen
Wiese einer verwunschenen Waldlichtung zu finden? Konnte man nicht auch von der Jagd auf die Jäger
leben?
Eine albinobleiche Wüstenbewohnerin zieht zu ihrem Vater in das Zwielicht des zumeist kalten, feuchten Märchenwaldes. Als Neue in der Schule ist sie vorerst eine Außenseiterin - und fällt dem unter drei Paaren lebenden Sonderling der Klasse auf. Eine dunkle, tageslichtscheue Fremde zieht mit einem Mann in die Nachbarswohnung der Mutter eines als Schweinchen gehänselten Außenseiters, der an der Märchenwald-Tapete seines Kinderzimmers schläft. Der Vampir als Außenseiter ist ein durchgängiges Motiv vieler Fantasy- und Horrormedien. Und bei Meyer sind die Vampire als gläubige Christen darüber hinaus Außenseiter unter Außenseitern, wie auch der Mann mit der Vampirin bei Lindqvist als Pädophiler ein Außenseiter unter den Außenseitern des Problemviertels ist. Hinzu kommen die kategorialen Unterschiede zwischen Menschen und Vampiren. In den jeweils gelungenen Verfilmungen der Romane Zwielicht und Lass den Richtigen herein, bekennen die Vampire sogleich gegenüber ihren Menschenkindern, die sich ihnen nähern, dass sie weder Freunde werden könnten noch sich ineinander verlieben sollten. Das mit der Geschlechtsausbildung in der Pubertät verbundene Entfremdungsgefühl wird in beiden Romanen vortrefflich mit dem mysteriösen Vampirismus verwoben. Die mit der Pubertät einhergehende Verwandlung der Jungen in Männer und der Mädchen in Frauen kann mit der Umwandlung eines Menschen in einen Vampir verglichen werden, ebenso wie die Schärfung des Verstandes und die Verfeinerung der Sinne, das Durchbrechen der Begierde und das Aufwallen der Leidenschaften. Fortan werden Sexualität und Erotik das Leben der Menschen mitbestimmen und das verspielt-naive Kinderdasein als bloße blutleere Hülle erscheinen lassen. Wie beim Erlkönig, der sich des Knaben bemächtigt, ist er am Ende tot - und geboren ward der Mann. Bei Meyer erwächst der Vampirismus dem Christentum und verspricht letztendlich die paradiesische Glückseligkeit. Lindqvist dagegen entwickelt den Vampirismus als Kehrseite sexueller Perversion und asozialer Vereinsamung.
Der Vampir von Ropraz verbindet in einem kleinen, durchdachten und wohl formulierten Roman wieder die verschiedenen Traditionen und knüpft als kunstvolle Reportage auch an die medialen Reflexionen Stokers an: Ropraz im waadtländischen Haut-Jorat, 1903. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Land der Wölfe und der Abgeschiedenheit, mit öffentlichen Verkehrsmitteln schlecht zu erreichen, zwei Stunden von Lausanne, auf einer Anhöhe oberhalb der von dichten Tannenwäldern gesäumten Straße nach Bern. Die Häuser liegen oft weit verstreut in Einöden, die von dunklen Bäumen umschlossen sind, enge Dörfer mit geduckten Behausungen. Neue Ideen dringen nicht bis hierher, die Tradition lastet schwer, moderne Hygiene ist unbekannt. Geiz, Grausamkeit, Aberglaube, es ist nicht weit bis zur Grenze nach Freiburg, wo die Hexerei üppig sprießt. ... Die Angst geht um. Nachts spricht man Gebete zur Geisterbeschwörung und Teufelsaustreibung. Man ist protestantisch bis auf die Knochen, bekreuzigt sich aber, wenn die vom Nebel gezeichneten Ungeheuer auftauchen. Mit dem Schnee kommt auch der Wolf zurück. ... Chessex beschwört einleitend eine wahrlich schauerlich-hinterwäldliche Atmosphäre herauf. Und dann tritt auch noch der Tod zu dem Mädchen. Am 17. Februar, einem Dienstag, ist die junge Rosa, eine große taufrische Blume von zwanzig Jahren, mit heller Haut, großen Augen, langem kastanienbraunen Haar, an Gehirnhautentzündung gestorben. Der frühe Tod der jungen Frau hat die ganze Gegend schwer erschüttert. Mit der Trauerfeier und ihrer Bestattung finden die bösen Ahnungen weiteren Unheils in der allgemeinen Stimmung der Angst natürlich kein Ende. Und so ist man nicht minder entsetzt, als wenige Tage später die Leichenschändung des Mädchens entdeckt wird. Ein Wahnsinniger muss sich an der Mädchenleiche schändlich ausgetobt haben. Der Kopf halb abgetrennt, die Brüste in Stücke geschnitten, angefressen und zerkaut liegen gelassen. ... Das Geschlecht weggeschnitten, herausgelöst, zerbissen und wieder ausgespuckt. ... Alles andere ebenfalls wüst malträtiert und in viel Blut getränkt, das schauerlich vom Schnee absticht. Das allgemeine Entsetzen breitet sich wie ein Lauffeuer in der Gegend aus. Konnte es sich bei dem Ungeheuer nicht nur um einen Vampir handeln, einen Nachfahren Draculas? Mehr denn je überwachen die Mütter ihre Töchter. ... Nun jedoch lebt das Ungeheuer versteckt unter uns, hinterhältig, geschickt, gut informiert, bereit, sich die Zähne zu lecken und seinen Geifer auf unsere Träume tropfen zu lassen, bevor er die Kehlen und samtigen Bäuche unserer Verlobten aufreißt. Wilde Spekulationen und wüste Phantasien schießen ins Kraut und erlangen schnell eine politische Dimension: Soll der Vampir siegen über die öffentliche Ordnung und den Frieden eines ganzen Landes, mit dem er bald kurzen Prozess machen wird? Ein Sündenbock ist schnell gefunden und sogleich eingekerkert. Nur ein beherzter Arzt findet mahnende Worte im Prozess gegen den armen Underdog: ,,In diesen Einöden wird das Symptom des Vampirs so lange andauern, wie diese Gesellschaft Opfer des primitiven Drecks ist: Schmutz der Körper, Promiskuität, Abgeschiedenheit, Alkohol, Inszest und Aberglaube, von denen das Land verseucht ist und die noch andere Brutstätten sexuellen Missbrauchs und gnadenlosen Grauens hervorbringen werden.`` Nur eine Dame in Weiß besucht den zu mehrjähriger Haft verurteilten Unhold, der von Glück sagen kann, nicht gelyncht worden zu sein. Die weiße Dame lässt sich sogar mit dem Ungeheur in seiner Zelle einschließen. Und das nicht nur einmal. Ist sie an seiner Geschichte interessiert? Lockt sie das gefährlich Perverse? Die Dame tritt näher, um ihn zu berühren, in ihren Mund nimmt sie den Mund des Vampirs. ... Die Dame nimmt in ihren Mund den Penis, gerötet im Blut des Todes. Die Dame saugt und verschlingt den Vampir in kleinen ruckartigen Schlucken. Die Schöne wird wieder verschwinden, so unerkannt wie sie gekommen war. Und die Spuren des Biestes werden sich auf den Schlachtfeldern des großen Krieges verlieren. Aber wer weiß, vielleicht befindet sich ein Vampir noch heute im Grab des unbekannten Soldaten am ruhmreichen Arc de Triomphe: Der Vampir von Ropraz, und schläft nur mit einem Auge, denn er wartet darauf, wieder umzugehen in kommenden Nächten.