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Späte Familie

Wer den wahnhaften Glauben an die Sicherheit überwunden hat, kann sich auf den Weg in die Freiheit begeben - und sich vom Kind wecken lassen oder es sogar allein in die Schule schicken. In Freiheit können Mann und Frau nach vorübergehender Trennung wieder zueinander finden. Was aber passiert, wenn nicht eine Erkrankung an der Ehe die Ketten sprengt, sondern die Frau aufgrund einer wohl überlegten Entscheidung ihren Mann verlässt? Kein Problem, sollte man denken, aber ein Paar mit kleinem Kind wird sich nie gänzlich trennen können. Shalevs souveräner Abschluss ihrer Liebestrilogie wurde 2005 unter dem Titel Thera veröffentlicht. Ein inhaltlich wohl gewählter Titel, der für die deutsche Ausgabe allerdings nicht übernommen wurde. Dabei hat Zeruya die Familienverhältnisse dieses Mal nicht nur in die hebräische, sondern in die noch sehr viel ältere minoische Geschichte eingebettet. Und gerade darauf verweist der Name Thera, bezeichnet er doch eine Insel, auf der bereits vor 4000 Jahren eine Hochkultur blühte, die jäh durch ein Erdbeben buchstäblich im Meer versank als sich die Insel teilte. Untergang und Tod rahmen auch den Roman. Er beginnt mit einem Alptraum und endet mit einer Trauerfeier. Ich bin tot, schreit er mit aufgeregter Stimme, sein magerer Körper zappelt vor mir, ich bin wirklich tot, tot für immer, sein Mund ist aufgerissen, entblößt seine weißen, locker gewordenen Milchzähne, die nur noch an Fäden hängen. Ich bin nur ein Traum, singt er, du träumst die ganze Zeit, am Schluss findest du heraus, dass du keinen Sohn hast, für einen Moment schweigt er und betrachtet mein Gesicht mit tanzenden Augen, mein Erschrecken vergrößert sein Vergnügen, seine neue Boshaftigkeit, die an diesem Morgen geboren wurde, sechs Jahre nach ihm, und ihn schon einhüllt wie die Gewänder, die er früher so gern getragen hat. Ja, die Fallstricke der Sprache. Ebensowenig wie eine ,,Seele`` gibt es die ,,Boshaftigkeit``. Handlungen eines Menschen können boshaft sein, aber kann die Boshaftigkeit einen Menschen einhüllen wie ein Gewand? Was ist das für eine archaische Weltsicht, in der Boshaftigkeit so wirklich wie ein Mensch selbst ist, Eigenschaften so real wie die Dinge sind? Ontologie und Epistemik wurden schon in der altgriechischen Philosophie unterschieden, die Religionen kennen solche Differenzierungen bis heute nicht. Sie halten schon für existent, wofür es nur ein Wort gibt. Aber Ella, die Mutter, ist Archäologin und damit Wissenschaftlerin. Sollte sie es nicht besser wissen? Eine Träumerin oder Märchenerzählerin zu sein, musste sie sich gleichwohl von Amnon, ihrem vormaligen Lehrer und späteren Ehemann, immer wieder vorhalten lassen. Die Vorstellung von der Nichtexistenz ihres Sohnes Gili war ihr ebensowenig fremd wie die Ansicht, dass alles nur ein Traum ist. Als ob mit ,,Nichtexistenz`` irgendetwas Sinnvolles bezeichnet werden könnte, handelt es sich doch bloß um eine Pseudokennzeichnung, beliebig vieldeutig und damit nichtssagend. Die Grammatik leistet eher der Poesie als der Logik Vorschub und die Umgangssprache produziert Mythen und keine Wissenschaften. Nur wenn Zeichen und Bezeichnetes zusammenfallen, wird die Unterscheidung von Existenz und Nichtexistenz irrelevant. Solange Menschen geboren werden und sterben, sie zu existieren beginnen und ihr Existieren wieder endet, bleibt eine Asymmetrie zwischen ihren Spuren und der Erde, in die sie hineingedrückt wurden. Wütend verweht der Wind die Spuren der Trauergäste, die jetzt schon ihrer Wege gegangen sind, lässt Zeugnisse und Beweise verschwinden, bis es so aussieht, als wäre nie ein Mensch hier gewesen, wütend zerrt er an unserer Kleidung, und wir gehen langsam hintereinander zwischen den Grabsteinen hindurch, unter dem schweren Himmel, treten versehentlich auf die Reihen der Erinnerungskerzen, auf die ausgedorrten Beete, die sich an den Steinen festklammern, Michels Absätze hinterlassen kleine Löcher in der Erde, die unter Amnons schweren Sohlen wieder verschwinden, und dahinter unsere Schritte auf den schmalen Wegen zwischen den Grabsteinen, ein Schritt nach dem anderen, eine Reihe nach der anderen, wie eine Schrift, die in die Erde geritzt und nur von ihr gelesen werden kann. Das ist die Poesie einer tagträumenden Archäologin, die wütend ist (und nicht etwa der Wind) und die es gelernt hat, Spuren zu lesen (und nicht etwa die Erde). Wir können gespannt sein, mit wieviel Philosophie und Poesie Ella die natürlichen Relikte der Vorzeit und die kulturellen Spuren der historischen Zeit auf Thera und aus ihrem Leben zu interpretieren versteht.

Ein Kind schöpft aus der Konstanz der Lebensumstände, alles was wir einmal getan haben, sollen wir bis ans Ende unserer Tage wiederholen. Er hasst es, wenn man ihm beim Spielen zuschaut, er hasst es, wenn ihm die Sonne in die Augen scheint, versucht, das Licht zu verjagen wie eine lästige Fliege, er kann nicht schwimmen, er kann seine Schnürsenkel nicht binden, er hat Angst davor, Fahrrad zu fahren, seine Eltern haben sich gestern getrennt. Sie passten einfach nicht zusammen, aber wie hatten sie sich kennen gelernt? Und es begab sich: Absalom, der Sohn Davids, hatte eine schöne Schwester, die Tamar hieß; und Amnon, der Sohn Davids, gewann sie lieb ... Du hast mir zuliebe die Sonnenbrille abgesetzt, und deine blauen Augen blitzten in deinem braunen Gesicht, du hast dich zu mir gebeugt, mir deine große Hand hingehalten und gefragt, bist du mit deiner Klasse hier? Sie ist schon eine fortgeschrittene Studentin und der Ausgrabungsleiter Amnon meint, sich an sie zu erinnern: Du bist an die Wand von Thera gemalt, der minoischen Ausgrabungsstätte, man nennt dich die Pariserin, und ich frage, wo? Und du sagtest, in Thera, das ist der alte Name für Santorini, die Insel, die auseinander brach, warst du noch nie dort? Es sind wunderschöne Wandzeichnungen erhalten geblieben. ... Kaum zu glauben, hast du gemurmelt, du hast dich zu mir gebeugt und mir ins Gesicht geschaut, du existierst schon seit viertausend Jahren. Was für ein romantischer Moment, in dem sich Studentin und Professor ineinander verlieben. Aber Liebe ist nur so lange romantisch - bis sie sich erfüllt, witzelt Woody Allen. Und die Ehe ist der Tod der Liebe; denn eine Freiheit kann man nicht besitzen und ein Zufall lässt sich nicht verewigen. Für Amnon ist die Ehe ein Bund, so ,,heilig`` wie der zwischen ,,Gott`` und dem Menschen. Das Streben nach Selbstverwirklichung und freier Entfaltung der Persönlichkeit hält er für die unerträgliche Verwöhntheit einer ganzen Generation, für bloß hohle Sprüche der neuen Zeit. Ella ist entsetzt: Er wird nicht überleben, er wird ausgelöscht werden, hast du gesagt, als handelte es sich um das Schicksal alter Völker aus der Vorzeit, Hethiter, Babylonier, Sumerer, Akkadier, ganze Imperien, die vom Erdboden verschwunden sind, aber hier handelt es sich um einen kleinen, kaum sechsjährigen Jungen. Die Überdramatisierung gehört zu den üblichen ehelichen Konfliktstrategien, wie das Ausweichen auf Nebenschauplätzen und das Bagatellisieren sowie das absichtliche Missverstehen und gezielte Verleugnen. Die meisten Paare machen nach einigen Jahren aus der Not der Gewohnheit die Tugend der Vernunftehe, zumal dann, wenn Kinder da sind. Aber gibt es nicht genügend soziale Einrichtungen, wie Kinderkrippe, Kindergarten, Vorschule, Ganztagsschule und Jugendhaus, in denen die Kinder und Jugendlichen ihre Freizeit gemeinsam mit Sport und Spiel verbringen können? Wenn da nicht zugleich der soziale Druck auf den Eltern lastete, besonders auf den Frauen natürlich. Warum laden die Schulen zu Elternabenden und Feiertagen regelmäßig die Eltern ein? Warum kann nicht jeder kommen, der will? In Israel beginnt es mit dem Schabbat, und für Ella ist es wie ein Wettkampf, der heute abend beginnt, schließlich hat dieses Jahr erst angefangen, wir werden uns alle hier wiedertreffen, an Chanukka, an Pessach, an Purim und an Schawu'ot, dann werden wir sehen, wo ich stehe und wo ihr, und inzwischen bemerke ich, dass die ermüdende Zeremonie zu Ende ist und die Erfrischungen serviert werden. Und Ellas Eltern? Die gehören noch einer Generation an, die sich ergeben in ihr Schicksal fügt. Du lässt es zu, dass er dich mit Füßen tritt, wirft sie ihrer Mutter vor, wieso erkennst du das nicht, ich lasse mich von Amnon wegen viel weniger scheiden, ich lasse mich vor lauter Angst, einmal so zu werden wie du, von ihm scheiden, ... Trotzig strafft sie die Schultern, in deiner Generation ist Liebe zu etwas geworden, was man abwiegt, worüber man verhandelt, er nimmt keine Rücksicht auf mich, aber soll ich deshalb etwa aufhören, ihn zu lieben, und mich in einen anderen verlieben, der auf mich Rücksicht nimmt?

Wer den einengenden, sicheren Ehehafen verlässt und sich wieder hinaus in die rauhe, freie See begibt, fühlt sich nicht selten ziemlich allein auf der Welt. Viele Menschen sind einfach nicht stark genug, zu persönlichkeitsarm oder es mangelt ihnen an Selbständigkeit, um allein für sich in der Welt bestehen zu können. Aber wäre dem Zerfall der Welt gegenüber nicht gerade der Rückhalt einer intakten Familie wünschenswert? Ella versucht vergeblich, Gili von der rohen Außenwelt fern zu halten; denn Amnon setzt ihn immer wieder schonungslos den fürchterlichen Nachrichten aus aller Welt aus. Für ein Kind ist die Scheidung der Eltern allerdings ein sehr viel schlimmeres Ereignis als ein Terroranschlag in der Stadt oder ein Erdbeben in einem fernen Land. Gili fühlt sich hin und her gerissen zwischen Mutter und Vater, der Mann macht ihr Vorwürfe und die Frau hegen Zweifel und Schuldgefühle. Bietet vielleicht die Arbeit einen Ausweg und Thera einen Fluchtpunkt? Lass dir Zeit, sage ich mir, zweifle nicht so schnell, es ist dein gutes Recht, mehr zu erhoffen, es ist dein Recht, dein Leben zu ändern, das Tor ist offen, das Hindernis entfernt, warum gehst du nicht hindurch? Lass dir Zeit, murmle ich laut vor dem Computer, der im Schlafzimmer blinkt, lese wieder den Bericht von einer Ausgrabung, an der ich nicht teilgenommen habe, den letzten Bericht eines griechischen Archäologen, bevor er in einem der Zimmer, die er freilegte, den Tod fand, dort in Thera, der zerbrochenen Insel, er verbindet, ohne es zu wissen, seine Katastrophe mit der Katastrophe der minoischen Kultur, ein leises, aber tödliches Echo des Erdbebens, das die Welt veränderte. Lass dir Zeit, ... Ohne Mann am Hals kann die Frau auch wieder Menschen treffen, die sie lange nicht mehr gesehen hat. Ella erinnert sich an Dina, die sie mit ihren strahlend kupfernen Haaren erstmals im Nachbarhaus ihrer Eltern erblickt hatte. Viele Menschen gingen bei ihr ein und aus; aber nicht weil sie ein Callgirl war, sondern Psychologin. Ihre Clienten waren eher hilfsbedürftig als sexsüchtig. Aber war der Unterschied wirklich so groß? Soll ich noch einmal zu ihr gehen, ohne eingeladen zu sein, soll ich, wie ein Stein, der in stehendes Wasser geworfen wird, in die Routine ihres geordneten, einsamen Lebens einbrechen, in dem es weder große Freude noch großen Schmerz gibt? Stimmungen breiten sich aus wie Wasserwellen, die sich überlagern, abschwächen und wieder verebben können. Schau, sagt sie, und setzt sich gelassen mir gegenüber auf einen Stuhl, es ist klar, dass dich ein starkes Motiv zu diesem Schritt getrieben hat, deshalb stellt sich hier nicht die Frage, ob es ein Irrtum ist, die wirklichen Gründe für eine Trennung zeigen sich oft erst im Nachhinein, wenn wir uns erlauben können, sie zu erkennen, genau wie die wirklichen Gründe für eine Beziehung. War es nicht Liebe gewesen? Aber wo ist sie geblieben? Tatsächlich ist die Liebe unter den schweren, unbehauenen Steinen von Reue und Schuld, von Trauer und Sehnsucht, Kränkung und Enttäuschung schwer zu identifizieren, sogar diese offenbar so einfache, die natürlichste von allen, die Mutterliebe. War sie an die Geschlechtsliebe gebunden und schwächt sich mit ihr ab? Erstaunt verfolge ich diese Veränderungen, erschrecke vor meiner Unfähigkeit, die Zukunft vorauszusehen, entsetzt darüber, wie schnell die Grundsäulen meines Lebens zerbröckeln, und ich weiß nicht, ob Gili vor mir gefühlt hat, dass ich ihm verloren gegangen bin und er sich mir deshalb entfremdet hat, aber die Zeit ist mir hinterhergelaufen, und hat mich ausgelacht, lass dir Zeit, hat sie gesagt, ein trügerisches Heilmittel ist sie, die Zeit, eine anhaltende Steinigung. Was sollte sie tun? Wieder zu ihm zurück gehen? Ihren Aufsatz über Thera abschließen? Auf dem Spielplatz ihre Zeit mit den belanglosen Plaudereien unter Müttern verschwenden? Bis zum Bar-Mizwa, dem Tag, an dem Gili zum Militär eingezogen würde, war es noch lange hin. Aber Dina rät ihr ab von der Rückkehr: Du glaubst nicht, dass das, was ich fühle, richtig ist, frage ich, aber da irrst du dich, und sie sagt, natürlich spürst du ein Bedürfnis nach ihm, aber die Frage ist, was sich hinter diesem Bedürfnis verbirgt, Angst, Schuldgefühle, Gekränktheit, die Frage ist, ob bei dir wirklich die Bereitschaft gewachsen ist, Amnon diesmal vollkommen zu akzeptieren, oder ob es sich wieder um eine Illusion handelt, um eine kleine Atempause in euren Machtkämpfen. Du hast keine Ahnung, wie sehr einen Gefühle täuschen können.

Immer wieder wird Ella von Alpträumen der Einsamkeit heimgesucht und zum Spielball ihrer Gefühle degradiert. Wie schäbig meine Wohnung aussieht, fleckig, abgenutzt, ein Körper, der seine Seele verloren hat. Und ich mache schnell das Licht aus und schlüpfe aus dem Kleid. Eine unendliche Wut erfüllt das Bett, ein tobender Stier scheint unter der Matratze zu schnauben und droht, das Bett, das Haus, die ganze Stadt auf dem Rücken davonzutragen, in den Untergang, und ich fürchte mich nicht, ebenso wie sich in der Vorzeit die Einwohner Theras nicht vor dem Stier gefürchtet haben, der im Inneren der Erde tobte, sie wollten nur, das er sich aufrichten und die Ordnung der Welt erschüttern möge, die unvorstellbar und unerträglich geworden war. Das Urteil über Thera war längst gefällt, die schreckliche Naturkatastrophe im relegionsverzerrten Rückblick als Abwendung ,,Gottes`` von den sündigen Menschen missdeutet. Sah Ella ihr eigenes Leben nicht ganz ähnlich religionsverzerrt, wenn sie ihre bloß unaufgeräumte Wohnung als ,,seelenlos`` empfand? Dich interessieren nur Märchen, Geschichten, hatte Amnon ihr immer wieder vorgeworfen, und heute, wenn ich versuche, die Funde wissenschaftlich zu beschreiben, merke ich, wie sehr er Recht hatte, nur die Geschichten interessieren mich, nur unsere Geschichte, die in Tel Jesreel begann und in der Stadt Jerusalem endet, zehn Jahre später in einer Dreizimmerwohnung in einem der alten Viertel. Im Schlaf unter Gilis Federbett verwandelt sich ihr sein vertrauter Körper in einen riesigen Irrgarten, wie der Palast des Minos auf Knossos, dort lebt der bedrohliche Minotaurus, halb Stier, halb Mensch, der junge Opfer liebt, Knaben, Mädchen, und dann sinkt für Augenblicke Schlaf auf mich, ein Schlaf wie verbrannter Zucker, aus dem ich erschrocken hochfahre, ... Mythen und Religionen, Märchen und Geschichten: Ella hält eine Verbindung zwischen Thera und dem Exodus für möglich. Wäre das nicht eine schöne Geschichte? Aber in der Wissenschaft geht es um Theorien, die logisch durchdacht und empirisch überprüft sein sollten und nicht bloß um Hirngespinste wie Mythen oder Geschichten. Und was soll dann noch helfen, sage ich weinend, und er sagt, es würde dir sehr helfen, wenn du aufhörtest, dich damit zu beschäftigen, und wenn du deine Arbeit beenden würdest, bevor du zur Ausgrabungsstätte zurückkehrst, übrigens, ich habe beim letzten Kongress einen Archäologen getroffen, der mir erzählt hat, dass die Verbindung zwischen Thera und dem Auszug aus Ägypten als wissenschaftlich fragwürdig gilt, ... warum musst du immer gegen den Strom schwimmen? Kaum minder entmutigend wie ihr Mann ist Ellas Mutter: Eure Generation denkt, dass sie alles kann, die Müter glauben, sie können alles, den Lebensunterhalt verdienen und Kinder aufziehen und für sich selbst sorgen, und sie vergessen die Probleme, die es auf der Welt gibt. Was ist mit Krankheiten, Unfällen oder sonstigen unvorhersehbaren Schwierigkeiten? Die Alten denken an Sicherheit, die Jungen lieben die Freiheit? Hat sich dieses Verhältnis nicht schon wieder umgekehrt? Wie schmal die Schicht ist, die eine ganze Kultur darstellt, zeigt sich meistens erst im Rückblick. Und wie flüchtig die Situation war, aus der heraus ein Mythos entstand, gerät nur allzu leicht in Vergessenheit. Tradiert werden nur die heroisch aufgeblasenen und mit Wundertaten ausgeschmückten Märchen und Geschichten. Verhält es sich mit der eigenen Lebensgeschichte nicht ganz ähnlich? Ella kommt ins Grübeln als sie in einem Café Paare umeinander buhlen sieht: Könnte ich eine von ihnen sein, wenn ich ihn heute getroffen hätte und nicht vor zehn Jahren, begeistert von dem Interesse, das er für mich zeigte, und halb blind, mit dieser Art Blindheit, die man braucht, um sich zu verlieben, wäre ich noch immer fähig, so blind zu sein?

Liebesblödigkeit ist weniger eine Frage des Alters als der Gelegenheit. Dina macht Ella mit dem befreudeten Psychiater Oded bekannt, von dem sie sich professionelle Hilfe verspricht. Obwohl die Psychologin sie vor ihm warnt und er zudem verheiratet ist, findet die Patientin ihren Arzt höchst sympathisch. Und schnell verwirklicht sich die uralte Sehnsucht, die das Leben mit einem Ascheregen zugedeckt hat, die Sehnsucht, geliebt und verstanden zu werden, verstanden und geliebt, beides zugleich, denn nur eines davon genügt nicht, und ich lege zögernd eine Hand auf seine Hüfte, fahre mit den Fingern die feinen Streifen des Kordstoffs entlang, wie großzügig sind die Worte, die er gesprochen hat, und ich ziehe mir das Kleid wieder über die Schenkel und lege meinen Kopf an seine Schulter, aus seinem Kragen steigt noch derselbe angenehme Geruch nach Waschpulver, ... Vor dir das Leben und hinter dir die Waschmaschine, lästert der Poet. So richtig befreit hat sich Ella noch nicht; denn guter Sex ist schmutzig. Aber ein Anfang ist gemacht oder - hat sich ereignet. Ich bin der Meinung, dass du genau gewusst hast, was du tust, als du deinen Mann verlassen hast, das ist das verborgene Wissen, das uns führt wie ein Hund seinen blinden Herrn, es war keine impulsive Entscheidung, es war eine bedeutungsvolle Entscheidung, und ich bin sicher, dass du es wieder so machen würdest, und ich betrachte ihn zweifelnd, als wäre er verrückt geworden, und trotzdem bin ich verzaubert davon, auf welch neue Weise er das Drama meines Lebens deutet, und ich frage, und warum habe ich mich selbst dann so gequält, warum war es so schwer? Die Seele schafft Dramen, um sich lebendig zu fühlen, sagt er, die Logik der Seele mäandert, ihre Zeit unterscheidet sich von unserer, auch ihre Sprache ist anders als unsere, ... Ich habe eine Angewohnheit, wenn ich einem Patienten gegenüber sitze, ich versuche dann, in ihm seine Seele zu sehen, so wie man ein Gesicht im Mond oder in den Wolken sieht, ... Da hatten sich die richtigen Träumer gefunden. Ella will selbstredend sofort wissen, ob er auch ihre Seele gesehen habe - und er antwortet wie aus dem Kindertraum Virginias: Natürlich, sagt er, sonst wäre ich nicht hier, deine Seele ist in ständiger Bewegung, wie ein Vorhang, der bei starkem Wind hin und her weht, ein Samtvorhang, der vor einem hohen Fenster hängt, in einem schönen alten Zimmer, ... Immer wieder schwankt Ella wie ein Vorhang in stürmischem Wind, ein Gedanke, der sie auch den großen Sturm und das berstende Brausen erinnern lässt: In der Stunde, in der die Insel Thera bebte und in Stücke gerissen wurde, entstand eine riesige Flutwelle, die zu unglaublicher Höhe anstieg und ungestört über das Mittelmeer fegte, bis zur Küste des fernen Ägyptens, dort herrschte die achtzehnte Dynastie in vollkommener Dunkelheit. O Wehklage, das Land dreht sich wie eine Scheibe, die Städte werden verwüstet, Oberägypten liegt in Trümmern, alles ist zerstört. ... Seufzer erfüllen das Land, Trauerseufzer, das Land ist nicht mehr, es gibt auch kein Licht mehr, sondern nur Finsternis, die Erde ist Sklavin des Gottes Aten, des Sonnengottes, der im Schutz der Dunkelheit zu einem abstrakten Gott wird, ohne Gestalt und Form, denn er ist die Sonne selbst, er ist das heiße Rad der Sonne in der Weite des Himmels, der Pharao Amenhotep, der den Namen Echnaton annahm, erfindet den einzigen Gott ... Die Frau sieht ihren neuen Mann nicht nur in der Lichtgestalt Echnatons, sondern auch in der Abrahams; denn ein verheirateter Mann wird seine Ehefrau in die Wüste schicken müssen, wenn er sich erneut vermählen möchte: Das Wissen, dass auf eine verzerrte Art mein Glück auf ihrem Unglück beruht, lässt mir die Zunge am Gaumen kleben und ich erstarre, denn wir sind wie Hagar und Sarah, die Frauen Abrahams, und eine von ihnen wird heute in die Wüste gejagt werden, ... Die archaischen Geschichten werden von den bibeltreuen Juden und Christen wohl noch Jahrtausende weiter verfolgt werden. Freidenker kamen schon vor Jahrhunderten auf die Idee (und praktizierten sie auch), dass ein Mann mehrere Frauen oder eine Frau mehrere Männer haben könne. Außerhalb der gesellschaftlich sanktionierten Ehe ist das sogar in Israel erlaubt, aber in dem von Märchen und Geschichten beschränkten Horizont Ellas scheint diese Perspektive nicht vorzukommen. Hatte es nicht auch in Israel einmal Hippies gegeben?

Die Jugendkultur der 68er war einer Archäologin wohl zu gegenwärtig. Dabei hatte der seinerzeit wiederentdeckte und mit Marx verbandelte Freud die Seele mit einer archäologischen Ausgrabungsstätte verglichen, er sah sich selbst als Archäologen der Seele, heute behauptet man, dass das Gehirn des Menschen wie ein archäologischer Hügel aufgebaut ist, seine Schichten liegen in umgekehrter Reihenfolge übereinander, von der jüngsten bis zur ältesten. Und die tiefsten Schichten sind die unserer Natur, vor der wir am meisten Angst haben müssen? Oded, der Psychiater und Liebhaber, sieht das etwas anders: Unsere tiefsten Ängste sind die vor uns selbst. Und die hält eine Familie in Schach? Ist es das, was er in mir sieht, fragt sich Ella, eine neue Familie, eine späte Familie, während ich die Illusion einer Jugend sehe? Lagern sich nicht wie die phylogenetischen auch die ontogenetischen Erfahrungen gleichsam in Schichten des Gehirns ab? Sowenig wie man der Wohnung seiner Eltern jemals entfliehen kann, ist es auch nicht möglich, sich gänzlich aus einem Ehestand zu befreien. Aber man kann darüber schreiben, das Leben in Geschichten kleiden, um es sich verstehend zu vergegenwärtigen; ganz so wie es Ibsen formuliert hat: Leben heißt, dunkler Gewalten Spuk bekämpfen in sich; / Dichten, Gerichtstag halten über sein eigenes Ich. Und was hatte Ella gesagt bekommen? Merke dir, die Deutung menschlicher Handlungen unterscheidet sich in ihrem Wesen nicht von der Deutung der Phänomene auf naturwissenschaftlichem Gebiet, merke dir, dem Ausgrabenden wird es nie gelingen, alle Bruchstücke eines Bildes zu finden, er muss es entsprechend den historischen Fakten und nach logischen Überlegungen vollenden, auch historische Quellen können falsch sein, irrtümlich oder aus Böswilligkeit, der Archäologe verfügt zu allen Zeiten über eine bestimmte Wahrheit, und sie existiert so lange, bis neue Fakten entdeckt werden, die diese Wahrheit verändern und erweitern. Wichtig dabei ist, dass die wissenschaftliche Wahrheit durch Logik und Erfahrung verändert, erweitert und damit forwährend verbessert werden kann. Und wie war das nun mit dem Exodus? Vermutlich werden wir nie wissen, ob es wirklich so war, sage ich, bis jetzt wurde kein Beweis für diese Geschichte gefunden, aber ich glaube trotzdem, dass sie auf wirklichen Ereignissen beruht, denn die Wunder, von denen dort die Rede ist, Blut, Finsternis und die anderen ägyptischen Plagen, hängen mit einer Naturkatastrophe zusammen, die wirklich passiert ist, vor Tausenden von Jahren, und da wir dazu neigen, Angst vor etwas zu haben, was uns in der Vergangenheit schon einmal in Angst versetzt hat, haben die alten Geschichtsschreiber dieses Ereignis genau wie jenes frühere beschrieben, das sie so fürchteten. Hat die Archäologin am Ende gelernt, Leben und Forschen, Phantasie und Wahrheit, zusammenzubringen? Mit Amnon wäre ihr das kaum möglich gewesen, Oded dagegen ist selbst ein Träumer, der eher in Ella sein rationales Korrektiv gefunden hat.

Shalev ist als krönender Abschluss ihrer Liebestrilogie mit Thera ein wohlformuliertes und klar durchdachtes Romankunstwerk gelungen, mit dem sie gleichsam Gerichtstag hält über ihr eigenes Ich. Ihrer virtuosen Sprachkunst ist es zu verdanken, dass die Leserin bei der Lektüre und dem Bedenken des jeweils eigenen Lebens ebenfalls dazu in die Lage versetzt wird. Und was kann Kunst mehr sein, als der Interpretin Menschlichkeit vorzuführen und sie einzubetten in einen übergeordneten Zusammenhang, sei er nun historischer oder kosmologischer Natur. In den Romanen der Freidenkerin Zeh dominiert der rechtlich-politische und naturwissenschaftlich-kosmologische Kontext, während die Jüdin Shalev die Monologe ihrer Heldinnen stets aus einer religionsgeschichtlichen und individualpsychologischen Perspektive heraus entwickelt. Bei Zeh sind die Frauen Studentin, Schülerin, Kommissarin, Richterin, Anwältin oder Biologin. Zwei ihrer Romane sind aus männlicher, zwei aus weiblicher Sicht geschrieben. Der Ausgleich zwischen den Weltsichten entspricht ihrer geschlechtsneutralen Haltung; denn es geht ihr nicht um feministische-, sondern um Zeitromane, die sie der Menschlichkeit und Gerechtigkeit im Kontext des jeweiligen Zeitgeistes widmet. Die um das weibliche Ich zentrierten Romane Shalevs dagegen sind Liebesromane, die zwar aus eingeschränkter ichpsychologischer Sicht geschrieben sind, aber gleichwohl als feministisch gelten können, da sie von Frauen handeln, die von vornherein auf Eigenständigkeit und Selbstbehauptung zielen oder sich im Laufe frustrierender Eheerfahrungen darüber klar werden. Der intellektuell außenorientierten, eher ästhetisch-erkenntniskritischen Haltung Zehs steht die vornehmlich emotional innenbezogene, historisch-religionsorientierte Sicht Shalevs gegenüber. Beide Autorinnen verfolgen gleichwohl den Erkenntnisfortschritt und die Gefühlsbereicherung im Rahmen des aufgeklärten Humanismus. Lediglich seine Gewichtung und Ausgestaltung unterscheiden sich aufgrund der intellektuell-atheistischen bzw. jüdisch-theistischen Weltanschauung und insofern können beide Autorinnen ergänzend und kontrastierend zueinander gelesen werden. Schreiben Shalev und Zeh primär für gebildete Erwachsene in der westlichen Zivilisation, wendet sich die dritte von mir kommentierte Autorin vornehmlich an Kinder und Jugendliche. Die Bücher Meyers sind daher weder intellektuell noch psychologisch, sondern historisch-mythologisch. Es wird auch nicht argumentiert und monologisiert, vielmehr stehen Handlung und Abenteuer im Vordergrund. Kinder leben noch in der mythischen Phase und Jugendliche pubertieren und verlieben sich erstmals. An beide Entwicklungsstadien knüpft Meyer mit ihren Vampirromanzen an, indem sie aus der Sicht einer 17jährigen Schülerin die Sehnsüchte und Ängste der ersten Lieben als handfeste Abenteuer beschreibt. Die menschliche junge Frau verliebt sich nicht einfach in einen süßen Bengel, sondern in einen schönen, aber bedrohlichen Vampir ebenso wie in einen kräftigen und gefährlichen Werwolf. Die Unsicherheiten und Ängste der sich nach Erlösung aus ihrem schlichten Dasein sehnenden Mädchen und der krude Umgang mit den emotional instabilen, den Helden spielenden Jungen mit ihrer sexuellen Gier und unkontrollierten Leidenschaft, werden durch die Macht und Gewalt der Mythenwesen noch gesteigert. Und sollten sich die übernatürlichen Kräfte der virilen Helden nicht vielleicht durch die weiblichen Reize süßer Mädels erweichen und zähmen lassen? Der mit blutdürstendem Feuer unterm Eis eines kalten Vampirs einhergehende Nervenkitzel mag dazu beitragen, dass weltweit hauptsächlich Mädchen und junge Frauen die Fantasy-Liebesromane Meyers lesen und verehren. Was gibt es Schöneres für eine Frau als hingebungsvoll in die Arme eines gezähmten Untiers zu sinken? Indem das Mädchen den Mann zum Menschen macht, wird es zur Frau; darüber berichten schon die Mythen und Märchen - seit dem Gilgamesch-Epos. Welche junge Frau träumt nicht vom schönen, reichen und mächtigen Märchenprinzen, der sie beschützt und umsorgt, auf Händen trägt, in den Ehehafen führt und ihr ein ewiges Leben im Paradies verspricht? Das können nur Mythenwesen und Meyer versteht es gekonnt, die Mädchenträume von der großen Liebe in den archaischen und christlichen Mythen aufgehen zu lassen und damit die im Wortsinne rückwartsgewandte Religion gegen die Verheißungen der fortschrittlichen Wissenschaft ins Feld zu führen. Biblische Geschichten und archäologische Theorien hatte auch Shalev in ihren Romanen verarbeitet; sehen wir zu, wie es Meyer gelingt, Mythos und Aufklärung in einem zeitgenössischen Jugendroman unterhaltsam zu verquicken. Denn wie formulierten es die Altmeister dialektischer Phantasie? Schon der Mythos ist Aufklärung; und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück.


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ingo 2009-10-18