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Orlando and The Waves

Nach ihrer Erinnerungsarbeit an der Romankunst für den Weg zum Leuchtturm ihrer Kindheit, wandte sich Virginia wieder einem leichteren Thema zu: Ähnlich wie Austen im Hochgefühl der Verliebtheit ihren heiter-ironischen Liebesroman Pride and Prejudice geschrieben hatte, vermochte es auch Woolf mit Orlando, ihrem Liebesrausch unterhaltsam Ausdruck zu verschaffen. Ihre gelebte Androgynie und Bisexualität zwischen ihrem Ehemann und ihrer Geliebten verwandelte sie in die Biographie Orlandos, die im 16. Jahrhundert anhebt und in der Gegenwart ihres Schreibens endet. Wie den Anmerkungen der Romanausgabe zu entnehmen ist, heißt es nach Abschluss des Werkes im März 1928 in einem Brief an Vita: Ich habe alle diese Monate in Dir gelebt - wenn ich herauskomme, wie bist Du wirklich? Existierst Du? Habe ich Dich erfunden? Tatsachen und Phantasie durchdringen sich ebenso wie die englische Kultur- und die persönliche Lebensgeschichte. Mrs Dalloway hatte Virginia in einem Text durchgeschrieben, Zum Leuchtturm in drei benannte Kapitel unterteilt, während sie nunmehr ihren biographischen Roman in sechs unbenannte Kapitel gliederte. Wollte man sie benennen, könnten folgende Überschriften gewählt werden: Liebe und Tod, Einsamkeit und Poesie, Diplomatie und Verwandlung, Geschlecht und Gesellschaft, Feuchtigkeit und Fruchtbarkeit, Literatur und Zeitgeist. In ihrem Tagebuch vermerkt die Autorin abschließend: Die Leinwand ist bedeckt ... ich habe herumgerührt & -gespritzt, & an tausend Stellen scheint die Leinwand durch. Aber es ist ein friedliches, erfülltes Gefühl, wenn man, auch nur provisorisch, Ende hinschreibt ... Ich habe dieses Buch schneller als irgend ein anderes geschrieben: & es ist ein einziger Witz; & doch heiter & schnell lesbar, glaube ich; Ferien eines Schriftstellers. Die Ferienarbeit einer intellektuellen Schriftstellerin mag gleichwohl für die unbedarfte Leserin nicht nur zur Ferienlektüre taugen. Kenntnisse der englischen Kultur- und Literaturgeschichte sind zum Verständnis der über nahezu vier Jahrhunderte verfolgten Biographie Orlandos nicht unwesentlich.

Wie es sich für eine seriöse Biographie gehört, beginnt sie mit einem Vorwort, in dem die Autorin freimütig bekennt, auf wie vielen Schultern sie steht: Viele Freunde haben mir geholfen, dieses Buch zu schreiben. Manche sind tot und so berühmt, dass ich sie kaum zu nennen wage, jedoch kann niemand lesen oder schreiben, ohne auf ewig in der Schuld Defoes, Sir Thomas Brownes, Sternes, Sir Walter Scotts, Lord Macaulays, Emily Brontës, De Quinceys und Walter Paters zu stehen - um die ersten zu nennen, die einem in den Sinn kommen. Na, dann kann es ja losgehen mit: Liebe und Tod: Er - denn es konnte keinen Zweifel an seinem Geschlecht geben, wenn auch die Mode der Zeit einiges tat, es zu verhüllen - war soeben dabei, auf den Kopf eines Mohren einzusäbeln, der von den Dachbalken baumelte. In der kriegerischen Geschichte einer Kolonialmacht wie England waren derartige Spiele für den männlichen Nachwuchs nicht ungewöhnlich, zumal dann, wenn die Väter von Adel gewesen und Kronen auf den Köpfen tragend, aus den nördlichen Nebeln gekommen waren. Orlando stand nun mitten im gelben Licht eines heraldischen Leoparden; denn die Sonne fiel geradewegs durch das farbige Glas eines riesigen Wappens im Fenster in den Raum. Nachdem die Autorin, inspiriert von dieser Farbsymbolik, die Schönheit des Jünglings von noch nicht einmal 17 Jahren gepriesen hatte, wendet sie sich seiner täglichen Beschäftigung zu: des Schreibens. Und an was schrieb er gerade? Aethelbert: Eine Tragödie in fünf Akten. Ja, das 16. Jahrhundert hatte noch einige Jahre hinter sich zu bringen. Da die alte Königin eine Schwäche für schöne Jünglinge hatte, stand seiner Karriere nichts im Wege: Er sollte der Sohn ihres hohen Alters sein; das Glied ihrer Schwäche; die Eiche, an die sie ihre Gebrechlichkeit lehnen wollte. Aber was musste sie mitansehen, nachdem sie ihm erhebliche Reichtümer vermacht hatte? Der holde Knabe küsste ganz ungeniert ein süßes Mädel! Und so seufzte die alte Königin bis ans Ende ihrer Tage immer wieder über die Treulosigkeit der Männer.

Im elisabethanischen Zeitalter waren die Moralvorstellungen andere, ebenso wie das Wetter und die Jahreszeiten, fast alles war anders: Von unseren dämmrigen Halblichtern und verweilenden Zwielichtern wussten sie nichts. Der Regen fiel ungestüm oder gar nicht. Die Sonne glühte oder es war dunkel. Und was war die Folge davon? Der Liebhaber liebte und ging. Und was die Dichter in Reimen sagten, übersetzten die jungen Leute in die Tat. Mädchen waren Rosen, und ihre Blütezeiten waren kurz wie die der Blumen. Gepflückt wollten sie werden, ehe die Nacht anbrach. Und so war auch Orlando stets versessen darauf, zum Kern der Sache vorzudringen, wenn sich eine junge Frau auf seinen Schoß setzte und die Arme um ihn schlang. Viel interessanter fand er allerdings die Künste und die Wissenschaften, denn ihre Mannigfaltigkeit erregte seine Neugier weitaus mehr als die immer gleiche Art, einem Mädchen die Jungfräulichkeit zu nehmen. Aber dann geschah es. Nach dem Tod der Königin überfiel ihn die Liebe zu einer Prinzessin: Maruscha Stanilowska Dagmar Natascha Iliana Romanowitsch, sie war im Gefolge des moskowitischen Gesandten gekommen. Und wo anders als auf dem Eis trafen sie sich. Erhitzt vom Schlittschuhlaufen und von der Liebe, warfen sie sich oft in einem einsamen Seitenarm zu Boden, wo die gelben Weiden das Ufer säumten, und in einen weiten Pelzumhang gehüllt, nahm Orlando sie in seine Arme und erkannte, zum ersten Mal, wie er murmelte, die Verzückungen der Liebe. Aber ach! Schon bald sah er seine Eifersucht auf der Bühne gespielt: Der Wahn des Mohren schien ihm sein eigener Wahn zu sein, und als der Mohr die Frau im Bett erdrosselte, war es Sascha, die er mit seinen eigenen Händen tötete. Tränen liefen ihm über das Gesicht während er rezitierte: Nun, dächt ich, müsst ein groß Verfinstern sein / An Sonn und Mond und die erschreckte Erde / Sich auftun vor Entsetzen. Die Nacht war dunkel und nur in seiner Erinnerung ging ein Stern von einiger Helle auf. In Wirklichkeit war sein leuchtender Stern längst untergegangen, die schöne Prinzessin trotz aller Liebesschwüre wieder abgereist. Wie treulos die Frauen waren. Und so schleuderte der verschmähte Liebhaber seiner treulosen Frau all die Schmähungen nach, die von jeher das Schicksal ihres Geschlechts gewesen sind. Treulos, wankelmütig, wetterwendisch nannte er sie; Teuflin, Ehebrecherin, Betrügerin gar.

Einsamkeit und Poesie: Im Sommer, der dem katastrophalen Winter mit Frost, Flut, Tod und Hoffnungslosigkeit folgte, zog sich Orlando auf eines seiner Anwesen zurück und verfiel in einen tiefen Genesungsschlaf, der mehrere Tage währte und seine Dienerschaft in erhebliche Verlegenheit brachte. Als er nach sieben Tagen wie selbstverständlich erwachte, wurde gleichwohl vermutet, dass eine Veränderung in den Kammern seines Gehirns stattgefunden haben musste; denn obwohl er bei klarem Verstand war und nur in seiner Art ernster und ruhiger wirkte als zuvor, schien er eine nur unvollständige Erinnerung an sein bisheriges Leben zu haben. Was war mit ihm geschehen? Die Ärzte waren ratlos. Um was für einen Schlaf konnte es sich gehandelt haben? War es eine heilsame Maßnahme - eine Trance, in der die quälendsten Erinnerungen, Ereignisse, die dazu angetan scheinen, ein Leben für immer zu verkrüppeln, von einem dunklen Flügel gestreift werden, der ihre Rauheit glättet und sie, selbst die hässlichsten und niedrigsten, mit einem Glanz, einem hellen Glühen vergoldet? Im Gegensatz zu Septimus schlief Orlando den heilsamen Schlaf des Vergessens, so dass ihn das erlittene Liebestrauma nicht mehr zu behelligen schien. Charlie Kaufmann hat mit seinem Drehbuch zu dem Film Eternal sunshine of the spotless mind 2004 die medizintechnische Variante der Bewältigung von Liebeskummer parodistisch aufgegriffen und sich neben Alexander Pope auch auf Nietzsche berufen: Selig sind die Vergesslichen, denn sie werden mit ihren Dummheiten fertig. Virginia scheint ebenfalls auf Nietzsche anzuspielen; auf sein Erweckungserlebnis zum größten Dichter seines Geschlechtes und ebenso seinen Küchenwitz aufzugreifen: ,,Warum so hart?``, sprach die Küchenkohle zum Diamanten.

Jenseits von Gut und Böse, dem Zarathustra gleich, ergab sich Orlando nunmehr einem Leben äußerster Einsamkeit. Dem Temperament der Melancholie und Trägheit nachgebend, verfiel er in seiner Einsamkeit der Krankheit des Lesens; denn seine Liebe zu Büchern war eine frühe. Wiederrum liebeskrank konnte Orlando mit seinen 25 Jahren bereits auf an die siebenundvierzig Dramen, Historien, Ritterromanzen, Poeme zurückgreifen. Dem schmalen Werk Der Eich-Baum galt seine erneute Aufmerksamkeit - aber etwas ließ ihn Innehalten! Und dieses Innehalten sollte von größter Bedeutung in seinem Leben werden. Die Natur, die uns so viele seltsame Streiche gespielt hat, uns so ungleich aus Erde und Diamanten schafft, aus Regenbogen und Granit; ... die Natur, die sich an Verwirrung und Geheimnis entzückt, ... die Natur, die sich zusätzlich zur vielleicht ungefügen Länge dieses Satzes für so vieles verantworten muss, hat ihre Aufgabe noch komplizierter und unsere Verwirrung noch größer gemacht, indem sie in ihrem Innern nicht nur einen perfekten Flickensack voll von allerlei Krimskrams angelegt hat ..., sondern es auch zuwege gebracht hat, dass das ganze Sammelsurium nur lose von einem einzigen Faden zusammengeheftet sein soll. Die Erinnerung ist die Näherin, und eine kapriziöse noch dazu. Die Erinnerung führt ihre Nadel ein und aus, auf und nieder, hierhin und dorthin. ... So kam es, dass Orlando, als er seine Feder in die Tinte tauchte, das spöttische Gesicht der verlorenen Prinzessin sah und sich sofort eine Million Fragen stellte, die wie in Galle getauchte Pfeile waren. Und so gebar die Natur der Erinnerung in der Einsamkeit die Poesie: Aus Liebe hatte er die Qualen der Verdammten erlitten. Nun hielt er abermals inne, und in die so geschlagene Bresche sprang die Ehrbegier, die alte Dirne, und die Poesie, die Hexe, und die Ruhmsucht, die Metze; alle reichten sich die Hand und machten sein Herz zu einem Tanzboden. Hoch aufgerichtet in der Einsamkeit seines Zimmers stehend, gelobte er, dass er der erste Dichter seines Geschlechtes sein und unsterblichen Glanz auf seinen Namen bringen würde.

Von Geburt Schriftsteller und nicht Aristokrat wollte er sein - und wandte sich in seinem wiederlangten Glück an Nick Greene, einem damals berühmten Dichter. Der hielt die hohe Kunst der Poesie in England allerdings für tot und pries das altgriechische Zeitalter als das große Zeitalter der Literatur. Was für Hoffnungen sich Orlando machte - und wie herb er wieder enttäuscht wurde. Ein edler Lord daheim. Das Thema schien wie für den Dichter geschaffen. Und so kritzelte Nich Greene auf der Stelle eine überaus geistvolle Satire herunter. Sie war so treffend, dass niemand daran zweifeln konnte, dass der junge Lord, der hier geröstet wurde, Orlando war. Dermaßen verhöhnt, vermochte der selbsternannte Dichter nur noch tiefverletzt zu murmeln: ,,Ich bin fertig mit den Menschen``. Mit seinen rund 30 Jahren fiel Orlando erneut in eine Krise: Liebe und Ehrgeiz, Frauen und Dichter waren alle gleichermaßen eitel. Die Literatur war eine Farce. Den Ausgleich der Natur suchend, begab sich der junge Lord zu seiner Lieblingseiche, Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Die Zeit verging - und nichts geschah. So schien es jedenfalls. Denn die Zeit auf der Uhr und die Zeit im Geist sind zweierlei. Immer wieder wälzte Orlando die großen Fragen und er verzweifelte an seiner Fähigkeit, das Problem zu lösen, was Dichtung sei und was Wahrheit, und verfiel in tiefe Niedergeschlagenheit. Er ahnte noch nicht, dass eine Eigenschaft oft genau auf der anderen Seite der Mauer liegt, vor der wir sie suchen. Warum sollte er nicht einfach sich selbst zu Gefallen schreiben? Oder sich der Ausstattung des Herrenhauses widmen? Und danach eine Reihe glanzvoller Feste feiern? Gasagt, getan! Und wohin führte das? Als die Erzherzogin Harriet Griselda sich bückte, um die Schnalle festzuziehen, hörte Orlando, plötzlich und unerklärlich, weit in der Ferne, das Schlagen der Flügel der Liebe. Aber war nicht die Liebe doppelgesichtig? Was Orlando überkam, war die Wolllust, der Geier, nicht die Liebe, der Paradiesvogel, die stinkend und ekelhaft auf seine Schultern plumpste - und so rannte er - und segelte weit fort. Mit dieser Parodie einer Vertreibung aus dem Paradies, schickt Virginia ihren Helden in die weite Welt hinaus.

Diplomatie und Verwandlung: Enttäuscht von den Menschen, der Liebe und der Kunst, ließ sich Orlando als Gesandter des englischen Königs ins osmanische Reich nach Konstantinopel abordnen. Und welche Aussicht bot sich ihm dort? Zu seiner Rechten und Linken erhoben sich in kahler und steiniger Schroffheit die unwirtlichsten asiatischen Berge, an denen vielleicht die karge Burg des einen oder anderen Räuberhäuptlings klebte; aber Pfarrhaus war keins da, auch nicht Herrenhaus oder Kate oder Eiche, Ulme, Veilchen, Efeu oder Heckenrose. Der Garten Eden war längst zur öden Wüste verkommen und Virginia hatte mit ihrer Romankunst die religiöse Engstirnigkeit im Pfarrhaus Jane Austens hinter sich gelassen. Bot der diplomatische Dienst in der fremden arabischen Welt hinreichend Abwechslung und Unterhaltung? Es waren wichtigtuerisch inhaltslose Reden zu schwingen, pompöse Empfänge zu überstehen und rauschende Feste zu feiern. Aber eigentlich waren die Menschen überall auf der Welt ziemlich ähnlich; denn was trug sich in einer lauen Nacht im Hof unter dem Fenster des Gesandten zu? Eine Wäscherin, die vor Zahnschmerzen nicht schlafen konnte, sagte, sie hätte die Gestalt eines Mannes gesehen, eingehüllt in einen Umhang oder Morgenrock, die auf den Balkon hinaustrat. Dann, sagte sie, sei eine Frau, tief vermummt, aber offensichtlich aus dem Bauernstand, mit Hilfe eines Seils, das der Mann ihr hinunterließ, auf den Balkon hinaufgezogen worden. Dort, sagte die Wäscherin, umarmten sie sich leidenschaftlich, ,,wie Liebende``, und gingen mitsammen ins Zimmer hinein und zogen die Vorhänge zu, so dass nichts mehr zu sehen war. Und wieder trug sich das Mysterium einer Verwandlung zu. Dieses Mal war es aber kein Genesungsschlaf des Vergessens der ersten großen Liebe, sondern der Schlaf des Vergessens des ersten Geschlechts. Aber was war wirklich primär? Nicht Liebe und Männlichkeit; vielmehr das Selbst und die Weiblichkeit! Im ersten Schlaf hatte Orlando sein Selbst wiedererlangt und im nunmehr zweiten verkörperte sich in ihm - das eigentliche Geschlecht. Während er zu ihr wurde, zettelten Aufständische um ihn herum eine schreckliche und blutige Erhebung an, die ihn aber unbehelligt ließ, da man ihn in seinem Tiefschlaf für tot hielt. Aber was ereignete sich in Wahrheit? Trompeten schmetterten und drei Gestalten betraten seinen Raum, die Frau der Reinheit, die Frau der Keuschheit und die Frau der Sittsamkeit: Ich bin die Wächterin über das schlafende Rehkitz; der Schnee ist mir teuer; und der aufgehende Mond; und die silberne See. Trompeten schmetterten und nach der Frau der Reinheit, sprach die Frau der Keuschheit: Ich bin die, deren Berührung gefrieren macht und deren Blick in Stein verwandelt. Trompeten schmetterten und die Frau der Sittsamkeit war zu hören: Jungfrau bin ich und werde es immerdar sein. Nicht für mich die fruchtbaren Felder und die ertragreichen Weinberge. Und wieder schmetterten die Trompeten: ,,Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit!`` Wehklagend wichen die grässlichen Schwestern der Wahrheit: Jungfrauen und Geschäftsleute, Anwälte und Ärzte; jene, die verbieten; jene, die leugnen; jene, die verehren, ohne zu wissen warum; jene, die preisen, ohne zu verstehen; der noch immer sehr zahlreiche (der Himmel sei gepriesen) Schlag der Ehrbaren; die es vorziehen, nicht zu sehen; nicht zu wissen begehren; die Dunkelheit lieben; jene beten uns noch an. Zu jenen verschwanden die widerlichen Schwestern und ein Fanfarenstoß erklang: ,,Die WAHRHEIT!``, woraufhin Orlando erwachte.

Nach sieben Tagen Verwandlungsschlaf verließ Orlando wie selbstverständlich das Bett und stand splitternackt in strahlend weiblicher Schönheit vor seinem Ganzkörperspiegel. Er betrachtete sich eingehend ohne die geringste Spur von Fassungslosigkeit zu zeigen, und ging, vermutlich, in sein Bad. Im Alter von 30 Jahren war aus Orlando eine Frau geworden. Hatte sich sonst noch etwas geändert? Der Wechsel des Geschlechts, wenn er auch die Zukunft der beiden änderte, tat nicht das geringste, ihre Identität zu ändern. Seine Erinnerung - aber in Zukunft müssen wir der Konvention zuliebe ,,ihre`` statt ,,seine`` und ,,sie`` statt ,,er`` sagen -, ihre Erinnerung also reichte durch alle Ereignisse ihres bisherigen Lebens zurück, ohne auf ein Hindernis zu stoßen. Eingedenk des Überdrusses an der Scheinheiligkeit des Diplomatendienstes verließ Orlando auf einem Esel reitend, in Begleitung eines Zigeuners den Hof des Sultans in Konstantinopel. Die Zigeuner folgten dem Gras; wenn es abgeweidet war, zogen sie weiter. Und wenn sie die Erde gänzlich ausgebeutet haben werden, wird es sie auf der Suche nach einem neuen Planeten in die Weiten des Alls hinaus ziehen. Soweit dachte Orlando noch nicht; sie wunderte sich vielmehr darüber, dass die Zigeuner kein Wort für ,,schön`` hatten. Und so rief sie bei entsprechenden Gelegenheiten erfreut aus: ,,Wie gut zu essen``, wenn sie ,,ach, ist das schön`` meinte. Bei den Zigeunern erntete sie damit nur Unverständnis und so fragte sie sich fortan grundsätzlich, was diese Schönheit sei; ob sie in den Dingen selbst sei, oder nur in ihr; und so gelangte sie schließlich zur Natur der Wirklichkeit und von da zur Wahrheit und von da wiederum zu Liebe, Freundschaft, Dichtung ... Da sie stets das Manuskript des ,,Eich-Baums`` dabei hatte, begann sie flugs mit dem Schreiben auf noch freien Rändern. Und plötzlich tauchte ein Schatten, obwohl es nichts gab, was einen Schatten hätte werfen können, an der kahlen Bergflanke ihr gegenüber auf. Er vertiefte sich schnell, und bald zeigte sich eine grüne Senke, wo vorher nur karger Fels gewesen war. Während sie schaute, vertiefte und erweiterte sich die Senke, und ein großer, parkähnlicher Raum tat sich an der Seite des Hügels auf. Darin konnte sie einen wogenden grünen Rasen sehen; sie konnte hier und da Eichen hingetupf sehen. Unversehens hatte sie das Paradies ihrer Heimat wiedererlangt.

Geschlecht und Gesellschaft: Als Orlando den Schwung der Röcke um ihre Beine spürte und ihr darob die allergrößte Höflichkeit der Gentlemans entgegengebracht wurde -; erkannte sie mit Erschrecken ihre gewandelte Lage. Damals hatte sie verfolgt, jetzt floh sie. Welches ist die größere Ekstase? Die des Mannes oder die der Frau? Und dann erinnerte sie sich daran, wie sie, als junger Mann, darauf bestanden hatte, dass Frauen gehorsam, keusch, parfümiert und exquisit gekleidet sein müssten. Welch ein Dilemma! Je mehr sie die beiden Geschlechter miteinander verglich, desto größer wurde ihre Verwirrung. Aber konnte sie die höchsten menschlichen Verzückungen als Frau nicht viel besser auskosten? Beschaulichkeit, Einsamkeit, Liebe - und die Glorie der Poesie. Da traf es sich gut, dass sie in London am Cocoa Tree vorbeikam und Addison, Drydon, Pope zu Gesicht bekam. Die Stadt hatte sich durch Technik und Wirtschaft völlig verändert; Politik und Recht dagegen hatten sich kaum gewandelt. Und so wurde ihr der Prozess gemacht: Die Hauptanklagepunkte gegen sie lauteten, (1) dass sie tot sei und von daher kein wie auch immer geartetes Eigentum besitzen könne; (2) dass sie eine Frau sei, was ungefähr auf dasselbe hinausläuft; (3) dass sie ein englischer Herzog sei, der eine gewisse Rosina Pepita geehelicht habe, eine Tänzerin; und von ihr drei Söhne habe, welche nun mit der Erklärung, ihr Vater sei verstorben, den Anspruch erhoben, sein gesamter Besitz sei auf sie übergegangen. Zurück in ihrem Herrenhaus, das ihr nicht mehr lange gehören würde, vergrub sie sich in den Archiven und stieß auf die Bibel Mary's, der einstigen Königin der Schotten. Im Gebetbuch der Königin befand sich neben einem Blutfleck auch eine Haarlocke und ein Krümel Gebäck. Indem Orlando diesem Andenken noch einen Tabakkrümel hinzufügte, versetzte sie es unversehens in eine besinnliche Stimmung, obwohl sie keinerlei Verkehr mit dem üblichen Gott pflog. Nichts kann jedoch anmaßender sein, obwohl nichts verbreiteter ist, als anzunehmen, dass es an Göttern nur einen gibt, und an Religionen nur die des Sprechers. Orlando, so schien es, hatte ihren eigenen Glauben. Aber war nicht der Buchstabe S die Schlange im Garten Eden des Dichters? Sosehr sie sich auch mühte, es waren immer noch zu viele dieser Reptilien in den ersten Strophen des ,,Eich-Baums``. In ihrem Bestreben, zu schreiben, was mir Freude macht, hatte Orlando bisher an die 26 Bände heruntergeschrieben; befand sich aber immer noch im Prozess des Werdens. Da war schon einiges zusammengekommen neben - Blut, Haar, Gebäck, Tabak: Was für eine Phantasmagorie von Trugbildern der Geist ist, und was für ein Versammlungsort von Ungleichem!

Jeder hat seinen eigenen Glauben, Religion ist Privatsache und der Geist eine Ansammlung von Hirngespinsten. Was zählt sind Blut, Haare, Gebäck, Tabak: der Leib und die Nahrung. Und die Liebe? Für ihn, sagte der Erzherzog Harry, sei sie die Personifikation, die Perle, die Perfektion ihres Geschlechts und werde es immer sein. Die drei Ps wären überzeugender gewesen, wären sie nicht durchsetzt gewesen mit Gegicker und Gegacker der merkwürdigsten Art. ,,Wenn das Liebe ist``, sagte sich Orlando, den Erzherzog auf der anderen Seite des Kamins betrachtend, und zwar jetzt aus dem Blickwinkel einer Frau, ,,dann ist etwas hochgradig Lächerliches daran``. Statt sich weiter dem eitlen Gockel auszusetzen, der ihr beharrlich nachstellte und sie angeblich anbetete, war ihr eher nach Alleinsein und Schreiben zumute. ,,Das Leben und ein Liebhaber``, fing sie an -, kam aber nicht weiter, da sie in tiefes Nachdenken versank. Als sie wieder auftauchte, schrieb sie: ,,Das Leben, ein Liebhaber`` - und reiste ab. Auf dem Weg nach London konnte man allerdings bemerken, dass sie zu einem Schrei ansetzte und ihn unterdrückte, wenn die Pferde schneller galoppierten als ihr lieb war. Ihre Bescheidenheit in bezug auf das Schreiben, ihre Eitelkeit in bezug auf ihre Person, ihre Ängste um ihre Sicherheit, dies alles schien darauf hinzudeuten, dass das, was noch vor kurzer Zeit darüber gesagt worden ist, dass es keine Veränderung in Orlando, dem Mann, in Orlande, der Frau, gebe, aufhörte ganz wahr zu sein. Es war die Mischung in ihr von Mann und Frau, wobei einmal das eine die Oberhand hatte und dann das andere, die ihrem Verhalten oft eine unerwartete Wendung gab. Manchmal brach sie beim geringsten Anlass in Tränen aus. Sie war unbewandert in Geographie, fand Mathematik unerträglich. Da suchte sie lieber das Leben - und einen Liebhaber. Und was fand sie? Liebhaber hatte sie viele, aber das Leben entzog sich ihr. Oder sollte dies etwa das sein, was die Leute leben nannten? War das nicht ziemlich hündisch? Und wie zum Zeichen des Mitgefühls hob ein Hund die Vorderpfote. Aber ging es in Gesellschaft besser zu? Da wird 50 Jahre nahezu ununterbrochen geredet. Und was ist von all dem geblieben? Vielleicht drei geistreiche Bemerkungen. Mit dem Austausch von Alltagsbanalitäten bringen die Leute ihr Leben hin. Warum nur wenden sie sich nicht einfach mal der schönen großen Welt zu? Sprache dient bekanntlich nicht nur der Kommunikation, sondern auch der Signifikation. Aber die Gastgeberin ist unsere moderne Sibylle. Sie ist eine Hexe, die ihre Gäste mit einem Bann belegt. Die Hundebiographie Flush sollte noch geschrieben werden, die Gastgeberin hatte Virginia mit Mrs Dalloway verwirklicht.

Orlando suchte echten Witz, echte Weisheit und echte Tiefgründigkeit. Und so begab sie sich in die Gesellschaft der Dichter und lud Mr. Pope zu sich nach Hause ein. Ein Dichter ist Atlantik und Löwe in einem. Während der eine uns ertränkt, zerfleischt uns der andere. Wenn wir die Zähne überleben, erliegen wir den Wellen. Ein Mann, der Illusionen zerstören kann, ist beides, Bestie und Flut. Illusionen sind für die Seele, was die Atmosphäre für die Erde ist. Nimmt man diese zärtliche Luft fort, stirbt die Pflanze, verblasst die Farbe. Ja, der ursprüngliche Seelenglaube nahm den Atemhauch als Beseelung, folgte also einer ganz natürlichen Lebensauffassung. Aber je weniger wir sehen, desto mehr glauben wir. Da ist es schön, dass jedes Kräuseln und Wellen des Dichters Geistes offen vor uns liegt. Unter Männern grassierte allerdings ein kleines Geheimnis: ,,Frauen sind nichts als Kinder von größerem Wuchs ... Ein Mann von Verstand tändelt nur mit ihnen, spielt mit ihnen, hält sie bei Laune und schmeichelt ihnen``. Und so trat Orlando zur Tür hinaus. Es war ein schöner Abend zu Anfang April. Myriaden von Sternen, die sich mit dem Licht eines Sichelmondes mischten, welches wiederum durch die Straßenlaternen verstärkt wurde, ergaben ein Licht, das dem menschlichen Antlitz, und der Architektur Mr Wrens, unendlich gut zu Gesicht stand. Alles erschien in der zartesten Form, doch gerade als es im Begriff schien, sich aufzulösen, schärfte ein Tropfen Silber es zu neuem Leben. So sollten Gespräche sein, dachte Orlando (in närrischen Träumereien schwelgend); so sollte Gesellschaft sein, so sollte Freundschaft sein, so sollte die Liebe sein. Denn, der Himmel allein weiß, warum, gerade wenn wir den Glauben an den Umgang mit Menschen verloren haben, schenkt uns eine zufällige Anordnung von Scheunen und Bäumen oder ein Heuhaufen und ein Heuwagen ein so vollkommenes Symbol dessen, was unerreichbar ist, dass wir die Suche von neuem aufnehmen. Fortan erfreute sich Orlando gleichermaßen der Liebe beider Geschlechter, indem sie die Rechtschaffenheit von Kniehosen gegen das Verführerische von Unterröcken tauschte. Eines Nachts, in der Kutsche auf dem Heimweg in die Stadt, schlug es Mitternacht. Beim ersten Schlag begann sich eine kleine Wolke zu formieren, die mit jedem Schlag größer wurde. Als der neunte, zehnte und elfte Schlag erklang, lagerte eine gewaltige Schwärze über ganz London. Mit dem zwölften Schlag der Mitternacht war die Dunkelheit vollkommen. Ein stürmisches Wolkengewaber bedeckte die Stadt. Alles war Dunkelheit; alles war Zweifel, alles war Verwirrung. Das achtzehnte Jahrhundert war vorbei, das neunzehnte Jahrhundert hatte begonnen. Dem hellen Licht der Aufklärung und Revolution folgte die tiefe Schwärze der Romantik und Restauration.

Feuchtigkeit und Fruchtbarkeit: Die große Wolke über London zog eine Veränderung des Klimas in ganz England nach sich. Von nun an nahm die Feuchtigkeit ihren Weg in jedes Haus - die Feuchtigkeit, die der heimtückischste aller Feinde ist, denn während die Sonne mit Vorhängen ausgesperrt und der Frost mit einem heißen Feuer geröstet werden kann, stiehlt sich die Feuchtigkeit herein, während wir schlafen; Feuchtigkeit ist lautlos, unmerklich, allgegenwärtig. Nahrung und Paarung, Kleidung und Wohnung: alles wurde von der Feuchtigkeit durchsetzt und aufgeweicht. Das Muffin wurde erfunden und der Teekuchen. Kaffee ersetzte den Portwein nach dem Essen, und da Kaffee zu einem Salon führte, in dem man ihn trinken konnte, stand am Ende der Entwicklung ein völlig verändertes Heim, voll von Deckchen und Nippes aus Porzellan. Aber die Feuchtigkeit drang nicht nur in die Häuser, auch die Pflanzen und Menschen quoll sie auf. Und so wie das Efeu und Immergrün in der feuchten Erde draußen wucherten, zeigte dieselbe Fruchtbarkeit sich auch drinnen. Das Leben einer durchschnittlichen Frau bestand aus einer Folge von Geburten. Sie heiratete mit neunzehn und hatte, bevor sie dreißig war, fünfzehn oder achtzehn Kinder; denn es wimmelte von Zwillingen. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts sollte sich die Weltbevölkerung nach rund 200 Jahren auf eine Milliarde verdoppelt haben. Und zum Abschluss des Romans 1928 hatten die Menschen ihre Anzahl ein weiteres Mal auf zwei Milliarden verdoppelt. Der von Virginia ironisch und frivol umschriebene Zusammenhang, wie ein feuchtes Klima die Frauen zu Gebärmaschinen herabwürdigt, hatte nicht nur Folgen für die Weltbevölkerung, sondern auch für - Orlando. Sie hatte noch immer dasselbe brütende, nachdenkliche Gemüt, dieselbe Liebe zu Tieren und der Natur, dieselbe Leidenschaft für das Land und die Jahreszeiten. Und während die Feuchtigkeit nicht nur das Holz, die Stiele und Glieder schwellen ließ, sondern auch die Sätze endlos verlängerte, ungehemmt die Adjektive vermehrte und die Lyrik zur Epik aufblähte, trieb es Orlando mit Ungestüm aus dem Haus. Gerade am Fenster stehend, wurde sie sich eines ungewöhnlichen Kribbelns und Vibrierens in ihrem Leib bewusst, als bestünde sie aus tausend Drähten, auf denen ein Lufthauch oder wandernde Finger Tonleitern spielten. Jetzt kribbelten ihre Zehen; jetzt ihr Mark. Sie hatte die seltsamsten Empfindungen um die Schenkelknochen. Ihre Haare schienen sich zu sträuben. Ihre Arme sangen und schwirrten, wie die Telegraphendrähte in ungefähr zwanzig Jahren singen und schwirren würden. In Göttingen hatten Gauß und Weber bereits Telegraphendrähte über die Dächer verlegt und sich erstmals fernverständigt.

,,In was für einer Welt leben wir!``, fragte sich Orlando. Es schien ihr jetzt, als sei die ganze Welt mit Gold beringt. Sie ging zum Dinner. Es wimmelte von Eheringen. Sie ging zur Kirche. Überall waren Eheringe. Sie fuhr aus. Gold oder Tombak, dünn, dick, schlicht, glatt, es glänzte matt an jeder Hand. Sollte sie sich mit immerhin schon Anfang dreißig vollständig und ergeben dem Geist der Zeit unterwerfen und sich einen Gemahl nehmen? Aber musste sie sich an einen Mann lehnen? War die Natur nicht sehr viel reizvoller? Als sie, an der Flanke des Berges schimmernd, einen silbernen Teich sah, geheimnisvoll wie der See, in den Sir Bedivere das Schwert König Arthurs geschleudert hatte, wurde sie von einer merkwürdigen Ekstase erfasst. ,,Ich habe meinen Gemahl gefunden``, flüsterte sie. ,,Es ist das Moor. Ich bin die Braut der Natur``, flüsterte sie, sich voller Verzückung den kalten Umarmungen des Grases hingebend, während sie, in ihren Umhang gehüllt, in der Senke neben dem Teich lag. Und dann geschah es. Sie setzte sich auf. Dunkel vor dem gelb durchschlitzten Himmel der Dämmerung aufragend, während die Kiebitze um ihn her auf- und niederflogen, sah sie einen Mann zu Pferde. Er stutzte. Das Pferd blieb stehen. Hatte der Ritter der Tafelrunde seinen heiligen Gral, der Phallus seine Vulva gefunden? ,,Madam``, rief der Mann, auf den Boden springend, ,,Sie sind verletzt!`` ,,Ich bin tot, Sir``, antwortete sie. Ein paar Minuten später waren sie verlobt. Am Morgen danach, als sie beim Frühstück saßen, nannte er ihr seinen Namen. Er lautete Marmaduke Bonthrop Shelmerdine, Esquire. ,,Ich habe es gewusst!``, sagte sie, denn es war etwas Romantisches und Ritterliches, Leidenschaftliches, Melancholisches und doch Entschlossenes an ihm. Nachdem sie ein paar Tage ganz auf den Geist verzichtet und sich der Sprache der Natur überlassen hatte, schreckte sie der Butler mit einer Nachricht vom Gericht aus ihrer Verzückung auf. Die Verfahren waren entschieden und Orlando war zwar wieder unendlich adlig, aber zugleich ebenso ungemein arm. Aber was machte das schon bei der Liebesheirat eines Seemanns. Bevor der Wind den Mann wieder nach Kap Hoorn rief, knieten Marmaduke Bonthrop Shelmerdine und Lady Orlando nieder. Da gerade ein Vogel an die Scheibe knallte und ein Donnerschlag folgte, hatte niemand das Wort ,,gehorchen`` hören können. Die Orgel donnerte und der Blitz spielte und der Regen schüttete, und Lady Orlando, den Ring an ihrem Finger, ging hinaus auf den Hof in ihrem dünnen Kleid und - das frisch vermählte Paar sprengte davon.

Literatur und Zeitgeist: Orlando ging ins Haus. Es war vollkommen still. Es war sehr ruhig. Da war das Tintenfass; da war die Feder; da war das Manuskript ihres Gedichts, mitten in einer Huldigung an die Ewigkeit abgebrochen. ... Und dann hatte sich, im Zeitraum von drei Sekunden und einer halben, alles geändert - sie hatte sich den Knöchel gebrochen, sich verliebt, Shelmerdine geheiratet. Der Ring an ihrer Hand bezeugte es. Sie war verheiratet, gewiss; aber wenn der Gemahl ständig ums Kap Hoorn segelte, war das eine Ehe? Wenn man ihn gern hatte, war das eine Ehe? Wenn man andere Leute gern hatte, war das eine Ehe? Und schließlich, wenn man immer noch wünschte, mehr als alles auf der Welt, Gedichte zu schreiben, war das eine Ehe? Sie hatte ihre Zweifel. Als sie endlich wieder ihre Feder in die Tinte tauchte, flossen wie von selbst die Zeilen aufs Papier: Und ich kam an ein Feld, dessen federndes Gras / Dämmrig war von den hängenden Blüten der Schachbrettblume, / Trotzig und fremdländisch, das schlangengleiche Gewächs, / Umschleiert von dumpfem Purpur wie ägyptische Mädchen - Die Einflüsterung einer der dunkelsten Mächte des menschlichen Geistes ließ Orlando innehalten: Mädchen? Sind Mädchen notwendig? Du hast einen Gemahl am Kap, sagst Du? Ach so, dann ist es gut. Erst nach einer tiefen Verbeugung vor dem Geist ihrer Zeit konnte sie weiterschreiben und - Sie schrieb. Sie schrieb. Sie schrieb. Aber was war das Leben? Sind Denken und Leben nicht wie die Pole soweit voneinander entfernt? Und woraus eine Frau einzig lebt, ist die Liebe, hat der Dichter einst gesagt. Gewiss wird sie, da sie eine Frau ist, und eine schöne Frau, und eine Frau in der Blüte der Jahre, diesen Anspruch des Schreibens und Denkens bald aufgeben und wenigstens an einen Wildhüter zu denken beginnen. Aber was, wenn sie zur Tat schreitet wie Lady Chatterley und das schlangengleiche Gewächs unter den Schleier des ägyptischen Mädchens führt? Leben, was bist du? Licht oder Dunkelheit, die Flanellhose des untergeordneten Lakeien oder der Schatten des Stars auf dem Gras?

Während Orlando dachte und phantasierte, war die Welt weitergegangen. ,,Und wenn ich tot wäre, wäre es genau dasselbe``, rief sie. Ihr Manuskript ,,Der Eich-Baum`` dabei, machte sie sich auf den Weg nach London. Die Erfindung der Dampfmaschine hatte sie nicht mitbekommen, aber der Eisenbahnzug kam ihr gerade recht. Er würde sie in weniger als einer Stunde ans Ziel bringen. Und wen traf sie dort, unverhofft? Den einflussreichsten Kritiker der viktorianischen Ära! Nick Greene! Und wieder beklagte er, dass die großen Tage der Literatur vorbei seien: Marlowe, Shakespeare, Ben Jonson - das waren die Giganten. Dryden, Pope, Addison - das waren die Heroen. Alle, alle sind jetzt tot. Erneut gab sie ihm ihr Manuskript zu lesen. Dem Geist der Zeit unterworfen, fiel sein Urteil nunmehr - ganz anders aus: Es finde sich keine Spur, wie er dankbar war sagen zu dürfen, vom modernen Geist darin. Es ist verfasst mit einer Achtung vor der Wahrheit, vor der Natur, vor den Diktaten des menschlichen Herzens, die in der Tat selten sei in diesen Tagen der skrupellosen Exzentrizität. Es müsse selbstverständlich unverzüglich veröffentlicht werden. Verwundert blieb Orlando ohne Manuskript zurück und - suchte ein Telegraphenamt auf: ,,Leben Literatur Greene schmeichlerisch Rattigan Glumphoboo``, drahtete sie. Die letzten beiden Worte waren für Außenstehende so unverständlich wie ihr momentaner komplizierter Gemütszustand. Das Leben, die Literatur? Das eine ins andere verwandeln? Aber was war die viktorianische Literatur? Reinheit, Keuschheit, Sittsamkeit? Da traf es sich gut, dass Orlando unversehens im Garten Eden wandelte: O ja, es ist Kew! Nun ja, Kew soll uns recht sein. Hier sind wir also in Kew, und ich will ihnen heute (am zweiten März) unter dem Pflaumenbaum eine Traubenhyazinthe zeigen, und einen Krokus, und auch eine Knospe am Mandelbaum; so dass dort spazieren gehen heißt, an Knollen zu denken, haarig und rot, im Oktober in die Erde gesteckt; die jetzt blühen; und von mehr zu träumen, als man von Rechts wegen sagen kann ... Nach soviel Überschwang von Frühlingsgefühlen kann die Geburt eines Menschenkindes kaum mehr überraschen: ,,Es ist ein Junge, Mylady``, sagte Mrs Banting, die Hebamme, Orlando ihr erstgeborenes Kind in die Arme legend. Mit anderen Worten, Orlando wurde am Donnerstag, dem 20. März, um drei Uhr morgens, glücklich eines Sohnes entbunden.

Unterdessen waren die Wolken über London zu dünner Gaze geschrumpft; der Himmel schien aus Metall gemacht. In der Nacht erstrahlte die ganze Stadt im Schein unzähliger Lichter. Ebenso wie der Himmel, war auf eine Berührung hin das ganze Zimmer hell. Auf den Straßen waren Kutschen ohne Pferde zu sehen. Absurd verstümmelt sahen sie aus und schienen von ganz allein zu rollen. Orlandos Gedanken wurden auf geheimnisvolle Weise gestrafft und gespannt, als hätte ein Klavierstimmer seinen Schlüssel in ihren Rücken gesteckt und ihre Nerven sehr straff angezogen. Die Uhr schlug einem Hammer gleich zehn. Es war in der Tat zehn Uhr morgens. Es war der elfte Oktober. Es war 1928. Es war der Augenblick der Gegenwart. Was war das Leben? Orlando bestieg gerade einen Aufzug. Der Stoff des Lebens schon an sich, dachte sie, während sie sich hob, ist heute magisch. Im achtzehnten Jahrhundert wussten wir, wie alles gemacht wird; aber hier hebe ich mich in die Luft; ich höre Stimmen aus Amerika; ich sehe Menschen fliegen - aber wie das gemacht wird, darüber kann ich nicht einmal anfangen, mich zu wundern. So kehrt mein Glaube an die Magie zurück. Dabei war alles nur - Technik und Natur. Aber die Zeit war über Orlando hinweggegangen. Es näherten sich die mittleren Jahre: Wie seltsam das ist! Nichts ist mehr eine Sache. Ich nehme eine Handtasche in die Hand und denke an eine alte Bumbootsfrau, die im Eis eingefroren ist. Jemand zündet eine rosa Kerze an und ich sehe ein Mädchen in russischen Hosen. Das war 1588! Besteht die Kunst des Lebens nicht darin, die rund 70 verschiedenen Zeiten zu synchronisieren? Gerade schlug es elf und Orlando wurde in die Gegenwart zurückgerufen (wie zuvor Mrs Dalloway). Ihre Gedanken schweiften sogleich wieder ab: Wenn es (bei grober Schätzung) sechsundsiebzig verschiedene Zeiten gibt, die alle gleichzeitig im Gemüt ticken, wie viele Personen gibt es erst - Himmel hilf -, die alle zur einen oder anderen Zeit im Menschengeist hausen? Da nimmt es nicht wunder, dass das Ober-Ich, gleichsam als die Zusammenfassung aller Ichs, sich nichts mehr zu sein wünscht als es selbst. ,,Was denn? Wer denn¿`, sagte sie. ,,Sechsunddreißig; in einem Automobil; eine Frau. Ja, aber eine Million anderer Dinge zugleich``. Und die Liebe? Eine in Smaragde gefasste Kröte! Harry der Erzherzog! Schmeißfliegen an der Decke! (Hier kam ein anderes Ich hinzu.) Aber Nell, Kit, Sascha? Sie versank in Schwermut ... Wenn da nicht die Menschen wären (hier kam ein anderes Ich hinzu). Menschen? (Sie wiederholte es als Frage.) Ich weiß nicht. Schwatzhaft, gehässig, verlogen. Wie war aus diesen Myriaden von Stimmungen über die Jahrhunderte ein einziges Ich, ein wahres Ich geworden? Sie heftete sich gerne an etwas Hartes. Als sie sich auf die Erde warf, fiel ein kleines quadratisches, in rotes Leinen gebundenes Buch aus der Brusttasche ihrer Lederjacke - ihr Poem Der Eich-Baum. Und bald darauf erklang der erste Schlag der Mitternacht. Der kalte Atem der Gegenwart streifte ihr Gesicht mit seinem kleinen Hauch aus Angst. Als aber Shelmerdine, aus dem jetzt ein prachtvoller Kapitän zur See geworden war, heil, mit gesunder Gesichtsfarbe, munter, auf die Erde sprang, stob über seinem Kopf ein einzelner wilder Vogel auf. ,,Es ist die Gans``, rief Orlando. ,,Die Wildgans...``

Ähnlich wie bei Austen, war aus dem jungen Liebhaber ein prachtvoller Kapitän geworden. Und als er auf die Erde sprang, stob eine Wildgans über seinem Kopf hinauf. Wie der Glockenklang im Flügelschlag der Möwen verebbt und der Kinderschrei der Autohupe entgegenschrillt, so kontrastiert Virginia auch hier wieder Technik und Natur, den ungestümen Kapitän mit der schreckhaften Wildgans. Und der Schlittschuhlauf Orlandos mit Sascha zur Zeit des großen Frostes unter der Regentschaft Elisabeths wird 1923 an den Himmel über Mrs Dalloway verlegt, auf dem das Werbeflugzeug seine Schriftzüge malt. Am Leuchtturm hatte Virginia Klippe, Meer, Wolke und Himmel, absichtsvoll zusammengeführt, um nach außen hin die zerfallenen Teile der inneren Vision zusammenzufügen. Sollten die dauerhaft aus dem Meer ragenden Klippen als so flüchtig angesehen werden wie die Wolken am Himmel? Unterliegen beide Phänomene den gleichen erdgeschichtlichen Gesetzen? Erstarren die Gebirge der Erdkruste im Magma thermodynamsich so wie der Wasserdampf in den höheren Luftschichten zu Wolken kondensiert? Die inneren Visionen sind so flüchtig und dauerhaft, so chaotisch und gesetzmäßig wie die Wolken und Klippen in der Natur. Auf das Zeitmaß kommt es an, auch menschheitsgeschichtlich. Blut, Haaren und Gebäcksresten in der Bibel Maria Stuarts vermag Orlando Jahrhunderte später seine Tabakskrümel hinzuzufügen. Orlandos Vorfahren entstammten den Nebeln des Nordens, der Zeit als die christlichen Missionare die keltischen Druiden verdrängten, Beowulf gegen den Drachen kämpfte und König Arthus seine Ritter auf die Suche nach dem heiligen Gral aussandte. Nur Parzival wird ihn als der holden Jungfrau Wappen schau'n, um in seiner Ritterschaft - zu leben durch des Grales Kraft. Denn schon der Dichter sprach: Ich sag euch mehr von Mann und Weib: / Die beiden sind ein einz'ger Leib, / Gleichwie der Tag, der heute scheint, / Der Sonne sich untrennbar eint; / Aus einem Kern erblühen sie. / Das wisset und vergesset nie. Natur und Technik, Weib und Mann, Druiden und Mönche, Gastgeber und Weltverbesserer, Dichter und Gesandte - all das wird Virginia in ihrer subtil verhüllten Autobiographie Die Wellen zusammenführen. Nach der heiteren Lebensgeschichte von Mann und Weib im Orlando wandte sie sich ihrem eigenen künstlerischen Werdegang zu. Mit Orlando hatte sie veranschaulicht wie verschiedene gesellschaftliche Situationen, auch räumlicher und zeitlicher Art, verschiedene Persönlichkeiten hervorbringen bzw. erfordern. Das Selbst ist nichts fest Vorgegebenes, sondern lediglich eine Integrationsinstanz, ein fiktives Ober-Ich der vielen variierenden Ichs. Eingestimmt von den mit der Morgendämmerung seicht heranbrandenden Wellen am Strand, beginnt mit dem Sonnenaufgang ein Tag im Leben einer Frau, der wiederum ihr ganzen Leben umfasst. Das Buch Die Wellen ist in neun unbenannte Kapitel unterteilt, die jeweils mit einer Strandszene am Meer anheben. Der Rhythmus der Natur, ihre Lichtspiele, Windfahnen und Brandungswellen modulieren auch die Stimmungen der sie erlebenden Person, des jeweils gleichsam in Resonanz mitschwingenden Ichs. Virginias Selbstreflexionen ihrer künstlerischen Empfindsamkeit machen das Buch zu einem intellektuellen wie sinnlichen Leseabenteuer, in dem sich einem auch die eigenen Visionen der vielen Selbstanteile erschließen, die im menschlichen Bewusstsein wohnen: Jede lebt in ihrer Welt, aber alle Welten sind nur eine Welt.

Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Das Meer war vom Himmel nicht zu unterscheiden, es war nur ein wenig gefältet wie ein geknittertes Tuch. Während sich der Himmel allmählich erhellte, lag am Horizont ein dunkler Streifen, der das Meer vom Himmel trennte, und das graue Tuch war von dicken Linien gestrichelt, die sich eine hinter der anderen unter der Oberfläche bewegten, einander folgten, einander verfolgten, ohne Unterlass. Während sie sich dem Ufer näherten, hob sich eine jede, wölbte sich, brach und warf einen dünnen Schleier weißen Wassers über den Sand. Die Welle hielt inne und zog sich dann zurück, seufzend wie ein Schläfer, dessen Atem unbewusst kommt und geht. Wie der Kosmos dem Chaos entspringt, folgt der beseelende Hauch der Menschen Empfindsamkeit gleichsam den rhythmisch ihren Schaum in die Luft versprühenden Wellen. Wie die Schöpfung des Lebens in den altägyptischen und mesopotamischen Mythen als aus dem Flusswasser geschöpft verstanden wurde und damit dem Jahresrhythmus der fruchtbringenden Überschwemmungen folgte, so wurde auch die Beseelung als mit dem Einsetzen der Atmung angenommen. Das Leben auf dem Land entstammt dem Wasser und mit der Atmung koppelt es seinen Energiehaushalt an die Atmosphäre. Die alten Mythen bestehen noch im jungen Licht der Aufklärung: Das Licht fiel auf die Bäume in dem Garten und machte erst ein und dann noch ein und wieder ein Blatt durchscheinend. Hoch oben zwitscherte ein Vogel; dann kam eine Pause; ein andrer zwitscherte weiter unten. Menschen schritten noch nicht durch den Garten Eden. Die Sonne machte die Mauern des Hauses kantiger und legte sich wie die Spitze eines Fächers auf eine weiße Gardine und tupfte einen blauen Fingerabdruck von Schatten unter das Blatt neben dem Schlafzimmerfenster. Was für eine verzaubernde Morgenstimmung am Meer! Debussy's La Mer wäre als stimmige musikalische Untermalung geeignet. Im Haus erwachte unterdessen das Leben: Ich sehe einen Ring vor mir hängen, sagte Bernard. Er flimmert und hängt in einem Reifen von Licht. Ich sehe eine Scheibe von blassem Gelb sich ausbreiten, sagte Susan, bis sie an einen Streifen von Purpur stößt. Ich höre einen Laut, sagte Rhoda, tschiep-tschilp, tschiep-tschilp, auf und ab steigen. Ich sehe einen Ball, sagte Neville, wie einen Tropfen, der an den ungeheuren Flanken eines Bergs herabhängt. Ich sehe eine scharlachrote Quaste, sagte Jinny, eine von Goldfäden durchflochtene. Ich höre etwas stampfen, sagte Louis. Der Fuß eines großen Tiers ist angekettet. Es stampft und stampft und stampft. Über dem Meer bricht mit dem Sonnenaufgang ein neuer Tag an. Mit dem Schaum der Brandung und dem Licht im Haus erwachen die Menschen zu neuem Leben: Bernard, Susan, Rhoda, Neville, Jinny, Louis. Ihr Atem, ihr Puls, ihre Tageslänge, ihre Jahreszeiten sind mit den Jahrmilliarden währenden Erdbewegungen verbunden; auch wenn es sie erst seit Jahrmillionen auf der Erde gibt. Die Natur, die Planzen, die Tiere sind sehr viel älter als die Menschen: der leuchtende Sonnenring und der Brandungsschaum des Meeres künden mit jedem Tag aufs Neue davon. Und die sechs Menschen? Sehen, hören, sprechen und - werden durch ihre Namen in zwei Geschlechter unterteilt: drei Männer und drei Frauen. Louis ist allein im Garten zurückgeblieben: Hier oben sind meine Augen grüne Blätter, die nicht sehen. Hier oben bin ich ein Junge in einem grauen Flanellanzug mit Gürtel, den eine Messingschlange schließt. Dort unten sind meine Augen die lidlosen Augen einer Steinfigur in einer Wüste am Nil. Der Schlange folgt sogleich das Auge: Der Strahl trifft mich. Ich bin ein Junge in einem grauen Flanellanzug. Sie hat mich gefunden. Etwas trifft mich in den Nacken. Sie hat mich geküsst. Alles ist zertrümmert. Das Motiv wird wie bei einer Sonate vielfach variiert wiederholt. Susan sah es durch eine Lücke in der Hecke: Ich sah die beiden, Jinny und Louis, einander küssen. Jetzt will ich meine Seelenqual in mein Taschentuch wickeln. Sie soll ganz fest zu einem Knäuel zusammengedreht werden.

Junge und Mädchen küssen einander; sie können aber auch im Garten wandeln. Ich sehe den Käfer, sagte Susan, ich sehe, dass er schwarz ist; ich sehe, dass er grün ist; ich bin gefesselt von einzelnen Wörtern. Du aber schlenderst weg; du stiehlst dich davon; du steigst immer höher auf Wörtern und Phrasen aus Wörtern. Wörter und Phrasen folgen einer Grammatik; nur ihrer eigenen, die der Menschen oder die der Welt? Jede Zeitform eines Zeitworts, sagte Neville, meint etwas anderes. Es gibt eine Ordnung in dieser Welt; es gibt Unterschiede, es gibt Verschiedenheiten in dieser Welt, auf deren Schwelle ich trete. Denn dies ist nur ein Anfang. Rhoda aber erinnert das Schreckliche. Sie sieht nur Ziffern, keine Syntax, keine Logik: Alle Bedeutung ist geschwunden. Die Uhr tickt. ... Schau, die Schlinge der Ziffer beginnt, sich mit Zeit zu füllen; sie hält die Welt darin. War Rhoda beim Versagen in Mathematik aus der Welt gefallen? Warum hatte sie beim Ticken der Uhr nicht an den Takt gedacht - und die Ziffern als Zählzeichen verstanden? Wie auch Virginia hatte sie nicht den Zusammenhang zwischen Musik und Arithmetik erklärt bekommen, sondern nur den zwischen Malerei und Geometrie. Und durch Bewegung ist sogar Zeit in Raum verwandelbar. Bernard hatte ihr heimliches Reich in Besitz genommen. Dies ist unsere Welt, von leuchtenden Halbmonden und Sternen erhellt; und große, halbdurchlässige Blütenblätter verschließen die Öffnungen gleich purpurnen Fenstern. Alles ist seltsam. Die Dinge sind riesenhaft und winzig klein. Die Stiele der Blumen dick wie Eichenstämme. Blätter sind hoch gewölbt wie Kuppeln riesiger Dome. Die Dinge sind zählbar, quantitativ, unterscheidbar. Dies ist das Hier, sagte Jinny, dies ist das Heute. Aber bald werden wir gehen. Auf den Zeigehandlungen beruhen die Worte, aus ihrem Zusammenhang erwächst ihre Bedeutung. Den Worten kann man ebenso wenig entfliehen wie den Träumen; in die Rhoda so gerne verfällt, auch wenn sie zu ihrer Tante in den Wagen vor der Haustür fällt. Und was sieht sie dann? Oh, von Träumen aufzuwachen! Schaut, dort steht die Kommode! Lasst mich mich aus diesen Gewässern herausziehen! Aber sie türmen sich auf mich, und sie schwemmen mich zwischen ihre breiten Schultern; ich werde gewendet; ich werde gewälzt; ich liege ausgestreckt zwischen diesen langen Linien von Licht, diesen langen Wellen, diesen endlosen Pfaden, und Leute verfolgen mich, verfolgen mich. So wie die Wellen zu Anfang aus ihrem Aufeinanderfolgen der Welt und dem Leben ihren Rhythmus und ihre Ordnung übertragen, werden später die Menschen einander folgen und sich am Ende des ersten Kapitels auch Rhoda von Leuten verfolgt fühlen. Und wie von Wellen getragen, gewendet und gewälzt, erleben wir in unseren Träumen die schwingende Oberfläche unseres tiefen Unbewussten.

Die Sonne stieg höher. Die Zeit ist gekommen: Ich fahre zum erstenmal in die Internatsschule. Für den Aufbruch in die erweiterte Welt sind wieder vielerlei Phrasen zu erfinden. Der Schuldrill beschränkt den Freiheitsspielraum und erweitert den Denkhorizont. Jetzt werde ich mich seitwärts beugen, als wollte ich mich am Schenkel kratzen. So werde ich Percival sehen. ... Er ist weit weg von uns allen, in einem heidnischen Weltall. Aber schau - jetzt fährt er sich schnell mit der Hand übers Genick. Solcher Gesten wegen verliebt man sich hoffnungslos fürs ganze Leben. Erneut gilt es Phrasen ins Notizbuch einzutragen. Unter ,,S`` wird ,,Schmetterlingsstaub`` kommen. Wenn ich in meinem Roman die Sonne auf dem Fensterbrett beschreibe, werde ich unter ,,S`` nachsehen und ,,Schmetterlingsstaub`` finden. Einiges lässt sich aus Gesprächen erfahren, vieles aus der Naturbetrachtung gewinnen: Louis vermag ohne mit den Lidern zu zucken, stundenlang die Natur zu betrachten. Ich versage bald, wenn nicht jemand zu mir spricht. ,,Der Teich meines Geistes, seine Oberfläche von keinem Ruder unterbrochen, schaukelt gemächlich und versinkt bald in eine ölige Schläfrigkeit.`` Das wird nützlich sein. Welches ,,Ich`` spricht hier? Das Autoren-Ich? Eines der sechs eingeführten Figuren oder ein ,,Ober-Ich`` der sechs ,,Einzel-Ichs``? Sieh nur, wie sie alle hinter Percival hergehn! Er ist plump. Er geht schwerfällig über den Platz und durch das hohe Gras dorthin, wo die großen Ulmen stehn. Seine Herrlichkeit ist die eines mittelalterlichen Heerführers. Ein Kielwasser von Licht scheint hinter ihm auf dem Gras zu liegen. Der Siebte im Bunde ist eine zum Mythenwesen verklärte Person, die im Licht lebt so wie die Schiffe das Wasser zerteilen. Licht- und Wasserwellen haben aber nur oberflächlich etwas gemeinsam; so wie die durch Sprache erzeugten Mythen nur wenig von der wahren Natur erhellen. Die Mathematik kommt der ,,Sprache der Natur`` sehr viel näher, auch der Natur des Menschen. Bernard sagt, es ist immer eine Geschichte vorhanden. Ich bin eine Geschichte. Louis ist eine Geschichte. Wir sind alle Geschichten, erzählen uns selbst und werden erzählt. Ich, Louis, der an die siebzig Jahre auf dieser Erde wandeln soll, bin aus Hass, aus Zwietracht in meiner Ganzheit wiedergeboren. Hier auf diesem Rund von Gras sind wir miteinander gesessen, verbunden durch die gewaltige Macht eines inneren Zwangs. Die Bäume schwanken, die Wolken ziehen vorüber. Die Zeit naht, wo diese Selbstgespräche etwas Gemeinsames sein werden. Das Ober-Ich als Gemeinsames der Ichs? Es ist Percival, den ich brauche; denn es ist Percival, der zu Poesie inspiriert.

Ich habe kein Gesicht. Andre Leute haben Gesichter; Susan und Jinny haben Gesichter; sie sind hier. Ihre Welt ist die wirkliche Welt. Die Dinge, die sie heben, haben Gewicht. Sie sagen ja, sie sagen nein; wogegen ich mich wende und wandle und in einer Sekunde durchschaut bin. Im Gespräch bei der Betrachtung der anderen sieht man das eigene Gesicht nicht und hört nicht, was die anderen nur denken, aber nicht sagen. Sie haben einander in Winkeln etwas zuzuflüstern. Ich aber hänge mich nur an Namen und Gesichter; und horte sie wie Amulette gegen Unheil. In den Mythen sollten die Namen den Menschen die Angst vor dem unbenannten Unbekannten nehmen. Bei den schlichten Gemütern ist das noch heute so. Als ob Namen etwas über das Wesen des Benannten aussagten; das vermögen allenfalls die mathematisch formulierten und technisch überprüfbaren Theorien der quantitativen Experimentalwissenschaft - oder die Einfühlung, solange sie nicht benannt wird. Denn auch den Sinnen wohnt die Quantität inne: Wenn ich allein bin, stürze ich oft ins Nichts hinab. Ich muss meine Füße vorsichtig setzen, damit ich nicht über den Rand der Welt ins Nichts hinabstürze. Ich muss mit der Hand gegen eine harte Tür schlagen, um mich in meinen Körper zurückzurufen. Verlassen können wir ihn nur virtuell in den Träumen: Von Monat zu Monat verliert alles immer mehr seine Härte; sogar mein eigener Körper ist nun lichtdurchlässig geworden; mein Rückgrat ist weich wie Wachs neben einer Kerzenflamme. Ich träume; ich träume. Nur in den Träumen nichtet das Nichts das, was ich bin und erschließt mir die Freiheit, etwas anderes sein zu können als ich gegenwärtig bin. Jetzt fällt die Flut. Die Bäume kommen auf die Erde herab. Die lebhaften Wellen, die an meine Rippen schlagen, schaukeln sanfter, und mein Herz liegt vor Anker wie ein Segelboot, dessen Segel langsam auf das weiße Deck harabsinken. Das Spiel ist aus. Wir müssen jetzt zum Tee hineingehen. Wird Bernard wieder eine Geschichte erzählen? Bernards Geschichten, sagte Neville, unterhalten mich anfangs. Aber wenn sie lächerlich versickern und er offenen Munds vor sich hinstarrt und an einem Endchen Bindfaden fummelt, spüre ich mein Einsamsein. Er sieht jeden Menschen mit verschwommenen Rändern. Können Geschichten so scharf sein wie exakte Theorien? Papa ist unscharf, lässt Woody Allen ein Kind sagen, das seinen Vater nach einem postmodernen Arbeitstag nicht mehr scharf zu sehen vermag. Wenn Theorien zu Geschichten dekonstruiert werden, nimmt in der Satire die Unschärfe der Dinge und nicht der Sinne zu. Nun haben wir also, sagte Louis, denn dies ist der letzte Tag des Trimesters - Neville und Bernards und mein letzter Tag - empfangen, was immer unsre Lehrer uns zu geben hatten. Wir sind eingeführt worden; die Welt ist uns vorgestellt worden. Doch während der Schlusszeremonie kommt eine Biene hereingeflogen ...

Es ist der erste Tag der Sommerferien, sagte Susan. Aber der Tag ist noch zusammengerollt. Erst bei näherer Betrachtung ist er entrollbar - wie die höheren Dimensionen in der Stringtheorie. So hänge ich das Sommertrimester ab. Mit stoßweisen Erschütterungen, jäh wie die Sprünge eines Tigers, taucht das Leben auf, hebt seinen dunklen Kamm aus dem Meer. Daran hängen wir; daran sind wir gefesselt, wie Körper auf wilde Pferde. Werden wir vom Leben geritten oder reiten wir das Leben? Dies ist der Tag eines neuen Lebens, eine neue Speiche des sich heraufdrehenden Rads. Doch mein Leib wandert flüchtig wie der Schatten eines Vogels vorbei. Ich wäre vergänglich wie der Schatten auf der Wiese, der bald verschwindende, bald dunkler werdende und dort, wo er dem Wald begegnet, vergehende, zwänge ich nicht mein Hirn zu Formen in meiner Stirne; ich zwinge mich, diesen Augenblick, wenn auch nur in einem einzigen Vers eines ungeschriebenen Gedichts, auszusagen; dieses winzige Stückchen der langen, langen Geschichte zu bezeichnen, die in Ägypten begann, zur Zeit der Pharaonen, als die Frauen noch rote Krüge zum Nil hinabtrugen. Ich scheine bereits viele tausend Jahre gelebt zu haben. Aber all das erscheint nur traumhaft und verschwommen. Wenn ich selbst mich in Gesellschaft andrer befinde, bilden Wörter sogleich Rauchringe - schau, wie Phrasen sich sogleich von meinen Lippen zu kräuseln beginnen! Die Laute verbreiten sich als Schall-, die Bedeutungen als Möglichkeitswellen: Wir sind keine Einzelwesen, wir sind alle eins. Die Möglichkeitswellen regen das Denken an; aber was daran ist wirklich? Tatsächlich eigne ich mich wenig zum Nachdenken. Ich brauche bei allem das Konkrete. Nur so vermag ich die Welt zu erfassen. Eine gute Phrase aber scheint mir ein unabhängiges Dasein zu besitzen. Doch glaube ich, dass die besten wahrscheinlich in Einsamkeit zustandekommen. Sie benötigen zuerst eine Vereisung, die ich, der ich immer in warmen, löslichen Wörtern plätschere, nicht zu bewirken vermag. Wie beim Kondensationskeim, der den Phasenübergang auslöst, gilt es eine vollkommene Phrase zu finden, die genau auf diesen bestimmten Augenblick passt. Hatte Bernard sie nicht gefunden als er als Kind sein Stück Brot zu Kügelchen rollte. Das eine Kügelchen war ein Mann, das andre eine Frau. Wir alle sind Kügelchen. Wir alle sind Phrasen in Bernards Geschichte, die sich selbst zu erzählen er niemals aufhört. Mit Freude geht es zurück nach London, zurück in die Zivilisation. Ich werde eingesogen, hinabgeschleudert, himmelhoch emporgeworfen. Ich steige auf den Bahnsteig hinunter, alles umklammernd, was ich besitze - einen Handkoffer. Einen Handkoffer kann man besitzen, Wissen nicht; denn es kommt allen zu - ebenso wie die Phrasen der menschlichen Sprache und die Formeln der natürlichen Mathematik.

Die Sonne ging auf. Alles verschlingt sich immer enger, sagte Bernard, hier im College. Mit dem Licht der Sonne ging auch die Aufklärung auf; denn es wird klar, dass ich nicht ein einziger Mensch bin, sondern ein vielfältiger und vielfacher. Bernard in der Öffentlichkeit sprudelt über; im kleinen Kreis ist er verschlossen; denn,,verbunden mit einer geradezu weiblichen Feinfühligkeit besaß Bernard die nüchterne Logik eines Mannes``. Der Rhythmus des Schreibens, die Phantasie der Bilder und die Erinnerungen an das bisherige Leben: Lasst mich meine Erinnerungen zusammenfassen! Es ist im ganzen ein guter Tag gewesen. Der Tropfen, der sich abends am Dachrand der Seele bildet, ist rund, vielfarbig. Vielfarbig wie der Regenbogen; denn am farbigen Abglanz haben wir das Leben, spricht der Dichter. Das Leben scheint in jedem seiner Tage auf mit all seinen Gestalten. Aber welcher von diesen bin ich? Warum den Augenblick nicht einfach erleben? Bleibt nicht nur Unbenanntes unverändert? Oh, ich bin verliebt in das Leben! Schau, wie die Weide ihre zarten Fliedern sprießen lässt! Schau, wie durch sie hindurch ein Boot fährt, ein Boot voller müßiger, ihrer selbst unbewusster, kraftvoller junger Männer. ... Da ist Percival, lässig in die Kissen zurückgelehnt, monolithisch, in riesenhafter Ruhehaltung. Immer wieder die vielen Wörter, auch während der Empfindungen. Wörter und Wörter und Wörter, wie sie galoppieren - wie sie ihre langen Mähnen und Schweife schütteln. Mit jedem Wort wird ein ganzes semantisches Feld in Mitleidenschaft gezogen. Wer bin ich? Ein Setzling in der Spalte? Dann lass mich dich also erschaffen. (Du hast ebensoviel für mich getan.) Und wer hat dich erschaffen? Die Literatur? Byron, Shakespeare? Wie eine lange Welle, wie ein Rollen schwerer Wasser überflutete er mich mit seiner verheerenden Gegenwart - und hat mich aufgebrochen, hat die Kiesel auf dem Ufer meiner Seele bloßgelegt. Wir sind nicht das, was wir in der Literatur zu finden glauben. Und wir sind nicht einfach, wie unsre Freunde uns, um zu finden, was sie brauchen, haben wollen. Und doch ist Liebe einfach. So einfach wie eine Zwangsneurose eben. Aber alles verändert sich. Auch Jugend und Liebe. Das Boot ist durch den Torbogen der Weide hindurch und ist jetzt unter der Brücke. Percival, Tony, Archie oder ein andrer wird nach Indien gehn. Kurz nachdem Leonard und Virginia sich kennengelernt hatten, ging er nach Indien. Ich habe das Bewusstsein von beständigem Fluss; von Unordnung; von Vernichtung und Verzweiflung. Der Rhythmus im Speisehaus ist wie eine Walzermelodie: Wo ist dann der Bruch in dieser Kontinuität? Was der Spalt, durch den man das Unheil erblickt? Der junge Törless hatte den Riss in der Realität im Nachdenken über die imaginären Zahlen erahnt. Und Einstein wollte keine Singularitäten im Kontinuum der Raumzeit zulassen. Ich, der Gefährte Platos und Vergils, will an die gemaserte Eichentür klopfen. Ich setze allem, was da vorüberzieht, diesen Rammbock von gehämmertem Stahl entgegen. All dem weichen, weiblichen will ich mich nicht unterwerfen; lieber begebe ich mich auf die Suche nach der Zivilisation. Ich habe Frauen rote Krüge zum Ufer des Nils tragen gesehen. Ich erwachte in einem Garten von einem Schlag in den Nacken, einem heißen Kuss, Jinnys Kuss. Wie im heimatlichen so auch im Collegegarten. Die Zivilisation begann im Garten Eden, mit dem Überfluss an Nahrung für die Folgen der Paarung.

Nun hebt der Wind die Gardine, sagte Susan. Krüge und Waschschüsseln, Strohmatten und der schäbige Armsessel mit dem Loch darin sind nun deutlich sichtbar gworden. Die gewohnten verblichenen Bandschleifen sprenkeln die Tapete. Der Chor der Vögel ist zu Ende, nur ein einziger singt jetzt dicht bei dem Schlafzimmerfenster. Ich werde mir Strümpfe anziehen und leise an den Schlafzimmertüren entlang und hinunter in die Küche und durch den Garten, am Glashaus vorbei, auf die Wiese hinausgehn. Es ist noch früh am Morgen. Der Nebel liegt über den Marschen. Der Tag ist steif wie ein Totenhemd. Aber er wird weicher werden; es wird wärmer werden. Zurück aus dem Internat in den Bergen der Schweiz, erfreut sich Susan an der Morgenstimmung am Meer. Die Starre der Morgendämmerung löst sich. Nun beginnt sich der Tag zu regen. Farbe kehrt wieder. Der Tag wellt sich gelb mit allen seinen Kornfeldern. Die Erde hängt schwer unter mir. Die Erde hängt unter den Menschen genauso wie sie auf ihr stehen. Die Gravitation ist eine Wechselwirkungskraft. Aber wer vermag das zu spüren? Ein Mensch, für den sich der Tag mit seinen Kornfeldern wellt wie das Gravitationsfeld der Sonne mit ihren Planeten. Doch wer bin ich, die an diesem Gatter lehnt und ihrem Setter zusieht, wie er witternd im Kreis umherläuft? Ich denke mir manchmal (ich bin noch nicht zwanzig), ich sei keine Frau, sondern das Licht, das auf dieses Gatter, auf diesen Fleck Erde fällt. Ich bin die Jahreszeiten, denke ich manchmal, Januar, Mai, November; der Schlamm, der Nebel, die Morgendämmerung. Für die Augen ihres Setters auf der Wiese ist Susan das durch sie am Gatter stehend reflektierte Sonnenlicht. Aber witternd ist sie mehr: vertrauter menschlicher Geruch. Am Abend lockt der Duft purpurner Orchideen und frisch gebrühten Tees in die Stube. Ich blicke auf die bebenden Blätter in dem dunkeln Garten und denke: ,,In London tanzen sie. Jinny küsst Louis``. Wie seltsam, sagte Jinny, dass Leute schlafen, dass Leute die Lichter ausschalten und hinauf zu Bett gehen. Ist es nicht viel schöner in Gesellschaft zu sein? Das ist meine Welt. Alles ist entschieden und bereit; ... Hierhin fließend, dorthin fließend, damit er zu mir komme, aber angewurzelt. ,,Komm``, sage ich, ,,Komm!`` Blass und dunkelhaarig ist er, der nun näher kommt, schwermütig, romantisch. Und ich bin schelmisch und redegewandt und launisch; denn er ist schwermütig, er ist romantisch. Nun ist er da; er steht neben mir. Und jetzt, mit einem kleinen Ruck, wie eine von einem Felsen gebrochene Napfschnecke, werde ich weggebrochen: ich falle mit ihm; ich werde davongetragen. Zum Abschied pflückt sie ihm eine blaue Blume und steckt sie ihm, sich auf Zehenspitzen streckend, ins Knopfloch. So! Das ist wieder so ein seltener Augenblick der Ekstase. Und schon ist er vorbei. Aber diese alle sind meinesgleichen. Ich bin aus dieser Welt hier gebürtig. Hier muss ich's wagen, hier mein Abenteuer bestehn. Die Tür öffnet sich. ,,O komm!`` sage ich zu diesem, goldrieselnd von Kopf bis Fuß. ,,Komm!`` Und er kommt auf mich zu. ... Ich werde mich hinter die beiden schieben, sagte Rhoda, als sähe ich jemand, den ich kenne. Aber ich kenne niemand. Ich werde den Vorhang lüpfen und den Mond ansehen. Trünke des Vergessens sollen meine Aufregung stillen. Die Tür öffnet sich; der Tiger springt, die Tür öffnet sich; Schrecken stürzt herein. ... Wie kann man zwischen der Grausamkeit und Gleichgültigkeit der Gesellschaften und den belanglosen Einzelheiten des individuellen Lebens hindurchkommen? Verbergt mich, rufe ich, beschützt mich, denn ich bin das Jüngste, das Nackteste von euch allen! Jinny schaukelt wie eine Möwe auf der Welle, teilt geschickt ihre Blicke hierhin und dahin aus, sagt dies, sagt das, und es ist wahr. Ich aber lüge; ich mache Ausflüchte. Ja, Jinny, kann sogar davonfliegen oder ins Wasser eintauchen. Susan dagegen wird wie ein Kork auf rauher See auf- und abgeschleudert, ist diesen Männern und Frauen mit ihren zuckenden Gesichtern und lügnerischen Zungen schutzlos ausgeliefert: Wie ein Strähn von Wasserpflanzen werde ich weit geschleudert, so oft sich die Tür öffnet. Ich bin der Schaum, der die äußersten Ränder der Felsen mit Weiße überschwemmt und füllt; ich bin auch ein Mädchen, hier, in diesem Zimmer. Susan hat wenigstens ein Zimmer für sich allein. Dort kann sie echt, kann sie wahr sein und muss nicht die Verlogenheit, das Geschwätz und die Gehässigkeit ihrer Artgenossen ertragen. Herdentiere schwimmen wie die Fische im Wasser der Gesellschaft, Eigenbrötler sind ihr wie Kork auf rauher See ausgeliefert; aber Lebefrauen vermögen wie selbstverständlich allein und in Gesellschaft sein zu können.

Die Sonne war aufgegangen, und nicht mehr auf eine grüne Matratze gebettet und ihren unsteten Blick zwischen wässerige Juwelen sendend, entblößte sie ihr Antlitz und schaute geradeaus über die Wellen. Die schlugen mit regelmäßigem dumpfem Klatschen ans Ufer, mit dem Aufprall von Pferdehufen auf Rasen. Dem Rhythmus der Brandungswellen und Pferdehufen ähnlich, verkehrten auf den Eisengeländern die Dampfrosse: Wie schön, wie seltsam, sagte Bernard, liegt London, das glitzernde, vieltürmige und vielkuppelige, vor mir im Dunst. Von Gasometern, von Fabrikschloten bewacht, liegt die Stadt schlafend da, während wir uns nähern. Nicht nur die Natur wirkt anziehend, auch die Technik vermag mitzureißen: Während ich am Seitengangsfenster stehe, fühle ich auf eine merkwürdige, überzeugende Weise, dass ich durch meine große Glückseligkeit (denn ich bin verlobt) ein Teil dieser Geschwindigkeit geworden bin, dieses auf die große Stadt geschleuderten Geschosses. Mitgerissen zu werden, kann sehr befreiend sein, wenn man sich dem Strom überlässt. Aber was, wenn das Ende naht? Ich will gar nicht der Erste sein, der durch die Sperre geht, will nicht die Bürde individuellen Lebens wieder aufnehmen. Ich, der ich seit Montag, seit sie meinen Antrag annahm, in jedem Nerv mit einem Bewusstsein von Selbstheit geladen war. Wie schön es sein kann, sich vom allgemeinen Impuls treiben zu lassen: Die Oberfläche meines Geistes gleitet dahin wie ein blassgraues Gewässer, das widerspiegelt, was vorbeikommt. Losgelöst vom persönlichen Sein schreitet er dahin, aber bei aller Sympathie, die ihn dabei durchlebt, schleicht sich durch einen Sprung in dem Gebilde wieder ein - unsere Identität. Ich bin nicht ein Teil der Straße - nein, ich betrachte sie. Und der Vorgang des Betrachtens gleicht nicht dem Betrachten des Vorgangs. Um ich selbst zu sein (so vermerke ich), brauche ich die Erhellung durch andrer Menschen Augen und kann daher nicht ganz sicher sein, was mein Selbst ist. Die Authentischen, wie Louis, wie Rhoda, existieren am vollständigsten in Einsamkeit. Sartre wird wenig später die Erhellung durch andrer Menschen Augen als existentiell wesentlich in seiner phänomenologischen Ontologie der Fremdexistenz hervorheben. Wir werden uns von Percival verabschieden, der nach Indien geht. Es ist noch lange bis dahin, aber ich fühle bereits diese Vorboten, diese Vorreiter, die Gestalten unsrer abwesenden Freunde. Ich sehe Louis aus Stein gemeißelt, skulpturhaft; Neville messerscharf, exakt; Susan mit Augen wie Kristallklumpen; Jinny tanzend, fieberisch, erhitzt, wie eine Flamme über dürre Erde; und Rhoda, die Brunnennymphe, die immer feuchte. Vom Blick zum Fick: unser Leib wird zur Fremdexistenz für Andere. Was bin ich außer diesen Visionen und Erdichtungen? Es gibt nichts Feststehendes auf dieser Welt. Aber ich bin Bernard, ich selbst.

Der Atem des Windes war wie das Keuchen eines Tigers, sagte Rhoda am Abend im Restaurant. Der Tiger sprang und die Schwalbe tauchte ihre Schwinge in dunkle Teiche am andern Ende der Welt. Doch hier und heute sind wir beisammen, sagte Bernard. Was führt die Menschen immer wieder zusammen; sind sie doch alle so verschieden voneinander und haben schon tausend Leben gelebt. Jeden Tag hole ich Dinge hervor - grabe ich welche aus. Ich finde Überreste meiner Selbst im Sand, vor Jahrtausenden von Frauen geformte, als ich Lieder singen und am Nil das angekettete Tier stampfen hörte. Der, den ihr neben euch seht, dieser Mann, dieser Louis, ist nur Asche und Abfall von etwas, das einst herrlich war. ... Ich bin auch der Tiger im Käfig, und ihr seid die Wärter mit rotglühenden Stangen. In geschlossener Gesellschaft sind die anderen die Hölle; aber Jinny wird Louis nie hassen. Ein Augenblick führt nicht zum nächsten. Sondern die Tür öffnet sich, und der Tiger springt. Rhoda vermag nicht einen Augenblick in den nächsten übergehen zu lassen; sie fürchtet sich vor dem jähen Anprall des Gefühls. Susan dagegen ist gerne mit Leuten zusammen und die einzigen Äußerungen, die sie versteht, sind Rufe der Liebe, des Hasses, der Wut oder des Schmerzes. Sie wird nie ein andres als natürliches Glücklichsein kennen und - daliegen wie ein Feld, das in wiederkehrender Folge Ernten hervorbringt. Glücklich ist, wer sich dem natürlichen Lauf der Dinge hinzugeben vermag: Meine Kinder werden mich vorwärtstragen; ihr Zahnen, ihr Weinen, ihr Wegfahren in die Schule und Heimkommen werden mich wie Meereswellen dahintragen. Wer von den Meereswellen getragen wird, versteht der Phrasen? Wäre ich geboren worden, ohne zu wissen, dass ein Wort auf das andre folgt, sagte Bernard, hätte ich wer weiß was werden können. Wie es nun ist, finde ich überall Aufeinanderfolgen; ich kann den Druck des Alleinseins nicht ertragen. Wenn er nur wüsste, wie nahe es dem Alleinssein ist. Rhoda liebt das Alleinsein. Sie fürchtet sich unter Leuten, weil sie ihr das Gefühl des Seins, das in Einsamkeit so sark ist, zertrümmern. Kann eine Phrase so vollkommen wie ein Gefühl sein? Bernard wird es nie gelingen, nicht einmal im Reden, eine vollkommene Phrase zu formen. Hass und Liebe bilden die wütende, kohlschwarze Strömung, die Susan schwindeln macht. Es ist Liebe, sagte Jinny, es ist Hass, wie Susan ihn mir gegenüber empfindet, weil ich Louis einmal im Garten küsste. Und für Neville ist diese Strömung, dieses tosende Wasser allemal standfester als die schwächlichen und widersinnigen Rufe; denn Reden ist unehrlich. Bernard hatte sich verlobt und rannte, bums, in eine Briefkastensäule hinein. Zerbricht der Kreis an der Macht der Gefühle? Nun fließt die Strömung wieder. Nun schießen wir schneller dahin als zuvor. Nun steigen Leidenschaften auf, die zwischen den dunklen Wasserpflanzen dort unten auf uns lauerten, und hämmern mit ihren Wellen auf uns ein: Schmerz und Eifersucht, Neid und Begehren und etwas Tieferliegendes als diese, stärker als Liebe und unterirdischer. Der Jagdinstinkt? Die Stimme von Spürhunden auf der Fährte? Bernard könnte ein Dutzend Geschichten daraus erfinden und ein Dutzend Bilder sehen. Doch was sind Geschichten? Spielzeuge? Rauchkringel, die wie ein Ring durch den anderen in die Luft geblasen werden? Auf eine zugleich befehlende und wohlwollende Geste hin, brachte der Kellner die Rechnung. Das ist die Wahrheit; das ist die Tatsache, aber darüber hinaus ist alles dunkel und mutmaßlich. Und nun kommt Percivals Taxi; nun fährt Percival weg; nun ist Percival nicht mehr da.

Die Sonne war zu voller Höhe aufgestiegen. ... Sie gab allem und jedem sein genaues Maß von Farbe; ... Die Vögel sangen leidenschaftliche, nur an ein einziges Ohr gerichtete Lieder und verstummten dann. ... Jetzt, zu Mittag, war der Garten ein einziges üppiges Blühen, und sogar die Stollen unter den Pflanzen waren grün und purpurn und gelbrot, als die Sonne durch das rote und das sattgelbe Blütenblatt drang oder von einem dickbehaarten grünen Stengel abgehalten wurde. ... Die Wellen brachen sich und breiteten ihre Wasser geschwind über den Strand. Eine nach der andern türmten sie sich, überstürzten sich; der Schaum schleuderte sich mit der Wucht ihres Anpralls zurück. Die Wellen waren von tiefem Blau getränkt, bis auf ein Muster von diamantenen Lichtpunkten auf ihren Rücken, die sich wellten, wie die Muskeln auf den Rücken großer Pferde sich wellen, wenn sie sich bewegen. Die Wellen stürzten; zogen sich zurück und stürzten abermals mit dem dumpfen Aufprall eines großen stampfenden Tieres. Bild- wie literaturästhetisch beschwört Virginia mit dem Naturschauspiel der aufgewühlten und niederstürzenden Brandung am Strand wiederum eine Vorahnung herauf vom geschwinden Ritt und furchtbaren Sturz eines Reiters. Die mit dem Wellenschlag verglichenen, stampfenden Hufe eines Pferdes und die harmonischen, rhythmischen Wellenbewegungen seiner Muskelstränge beim Galoppieren kehren leitmotivisch immer wieder;- ebenso wie der geheimnisvolle Siebte im Bunde: Percival. Er ist tot, sagte Neville. Er stürzte. Sein Pferd stolperte. Er wurde abgeworfen. Das Segel der Welt schwang herum und hat mir einen Schlag an den Kopf versetzt. Alles ist aus. Die Lichter der Welt sind erloschen. Da steht der Baum, an dem ich nicht vorbeikam. Am 20. November 1906 war Virginias jüngerer Bruder Thoby in London an Typhus gestorben, die er sich auf einer Reise nach Griechenland zugezogen hatte. Sein früher Tod hat sie ein Leben lang beschäftigt und in den autobiographischen Wellen bildet er in der Mythengestalt des Percivals eines der Grundmotive. Von diesem Augenblick an bin ich einsam. Niemand wird mich von nun an kennen. Ich besitze drei Briefe von ihm. ... Komm Schmerz, nähre dich von mir! Grabe mir deine Fänge ins Fleisch! Zerreiße mich! Ich schluchze, ich schluchze.

Das Leben und die Natur gehen weiter: So unverständlich ist alles miteinander verknüpft, sagte Bernard, so vielfältig ist alles, dass ich, während ich die Treppe hinuntergehe, nicht weiß, ob ich Trauer, ob ich Freude empfinde. Mein Sohn ist geboren; Percival ist tot;- aber die übliche Ordnung, die natürliche Aufeinanderfolge der Dinge wird wiederkehren und das Schreckenserlebnis absinken. Jetzt aber will ich Leben um mich haben und Bücher und ... zu Jinny fahren. Da ist eine Pfütze, sagte Rhoda, und ich kann nicht hinüber. Ich höre das Schwirren des großen Schleifsteins ein paar Zoll von meinem Kopf. Sein Luftzug braust mir ins Gesicht. Alle greifbaren Formen des Lebens haben mich im Stich gelassen. Derartige Angstzustände suchten Virginia während ihrer depressiven Phasen immer wieder heim. Abhilfe bot ihr das Schreiben: Bernard lässt sich unterdessen mit geröteten Augen in einen Armstuhl sinken. Er wird sein Merkbuch hervorziehen; unter T wird er eintragen: ,,Phrasen, beim Tod von Freunden zu gebrauchen``. Der eine denkt an Phrasen, die andere an Bilder: Allein würde ich auf dem menschenleeren Gras stehn und sagen: ,,Krähen fliegen; jemand kommt mit seiner Einkaufstasche vorbei; dort ist ein Gärtner mit einem Schubkarren``. Van Gogh als Gärtner im Garten Eden und Eva als Nymphe im Paradies am Strand? Die Krähen sind aufgeflogen und dann kommt uns die aufgeschwemmte, aber von schlüpfriger Seide umschlossene Weibsperson zu Hilfe. Sie saugt die Lippen ein, nimmt einen Ausdruck von Gespanntheit an, bläht sich auf und wirft sich, haargenau im richtigen Augenblick, als sähe sie einen Apfel und ihre Stimme wäre der Pfeil, auf den Ton: ,,Ah!`` Eine Axt hat einen Baum bis ins Mark gespalten; das Mark ist warm; Klang vibriert in der Rinde. ,,Ah!`` rief eine Frau, aus einem Fenster in Venedig lehnend, ihrem Liebhaber zu. ,,Ah, ah!`` rief sie und ruft abermals ,,Ah!`` Sie hat uns mit ihrem Schrei versorgt. Aber nur einem Schrei. Und was ist ein Schrei? Der Mann hinter ihr, in the cut, hat ihr Lust oder Schmerz bereitet, je nachdem, wie tief seine Axt ins warme Mark eindrang. Der Natur gegenüber sind Schluchzer der Trauer oder Tränen der Freude gleichermaßen belanglos. Wie kann man der reinen Gleichgültigkeit der bloß seienden Natur begegnen? Man kann sie böse nennen, wie Woody Allen, oder ihr ein Opfer darbringen, wenn sie wieder einmal einen geliebten Menschen innig umarmt hat: In die Welle, die ans Ufer schlägt, in die Welle, die ihren weißen Gischt bis an die äußersten Enden der Erde schleudert, werfe ich meine Veilchen, meine Opfergabe für Percival.

Die Sonne stand nicht mehr mitten am Himmel. Ihr Licht kam schräg, fiel schief ein. Hier entzündete es sich am Rand einer Wolke und brannte zu einer Fläche von Licht, einer lodernden Insel, auf der kein Fuß ruhen konnte. Dann fing sich eine andre Wolke in dem Licht und noch eine und noch eine, so dass die Wellen unter ihnen von feurig befiederten Pfeilen getroffen wurden, die umherirrend über die wellige Bläue schossen. ... Die Wellen drängten sich, krümmten den Rücken und überstürzten sich, dass Steine und Kiesel aufsprühten. Sie fegten um Felsen, und der hochspringende Schaum bespritzte die Wände einer Grotte, die vorher trocken gewesen war, und landeinwärts blieben Tümpel zurück, in denen gestrandete Fische mit dem Schwanz schlugen, als die Welle sich zurückzog. Auf dem Trockenen nützt den Fischen der schönste Schwanz nichts. Was sie bräuchten, wäre eine Lunge. So wie Louis, der sich nach dem Landgang der Lebewesen schon weit von den Fischen fortentwickelt hatte und auf ein langerprobtes Genom zurückblicken konnte: Ein ungeheures Erbgut von Erfahrung ist in mir angehäuft. Ich habe Tausende von Jahren gelebt. Ich bin wie ein Wurm, der sich durch das Holz eines uralten Eichenbalkens gefressen hat. Aber heute bin ich kompakt; heute, an diesem schönen Vormittag, bin ich gesammelt. Aus dem Zusammenspiel von Stoffwechsel, Selbstreproduktion und Mutation hatte Darwin einen Algorithmus herausgelesen, der notwendig Selektion zur Folge hatte. Die von der Sonnenenergie in der Biosphäre der Erde getriebene Evolution hatte auch Menschen hervorgebracht, die aus den Wassern der periodisch über die Ufer tretenden Flüsse ihre Kulturen geschöpft hatten. Percival ist gestorben (er ist in Ägypten gestorben; er ist in Griechenland gestorben; alle Tode sind ein und derselbe Tod). Susan hat Kinder; Neville steigt rasch zu den höchsten Höhen auf. Das Leben vergeht. Die Wolken verändern sich ständig über unsern Häusern. Ich tue dies, tue das und dann wieder dies und das. Zusammenkommend und auseinandergehend setzen wir verschiedene Formen zusammen, bilden wir verschiedene Muster. Verändern sich die Muster menschlicher Interaktionen ähnlich wie die Wolkenbildungen aus den Wechselwirkungen der Wassertröpfchen? Die Interaktionen Sympathie, Gleichgültigkeit und Antipathie zwischen Menschen im willkürlichen sozialen Feld können in der Tat nach ähnlichen mathematischen Modellen berechnet werden wie die Wechselwirkungen Anziehung, Neutralität und Abstoßung zwischen Ladungen im stochastischen elektromagnetischen Feld. Wenn die Lerche hoch oben ihre Spirale von Klang zieht und die durch die Luft herabfällt wie eine Apfelschale, bücke ich mich; ich stille mein Kindchen. Aber genug! Ich bin übersatt vom natürlichen Glücklichsein. So glücklich wie Parzival als er den heiligen Gral fand,- der ihm wie eine Apfelschale erschien, der die Kindchen entstammten. Und so entziffern wir behend, geschickt, in ein paar Sekunden die Hieroglyphen, die auf andrer Leute Gesichtern geschrieben stehn. ... Das Leben kommt; das Leben geht; wir machen das Leben. ... Aber wir, die wir im Leibe leben, sehen mit der Vorstellungskraft des Leibes Dinge im Umriss. Ich sehe Felsen in hellem Sonnenschein und kann diese Tatsachen nicht mit in eine Höhle nehmen. Jetzt erscheint mir dieses Zimmer als ein Mittelpunkt, als etwas aus der ewigen Nacht Herausgeschältes. Ja, miteinbezogen Plato und Shakespeare. Unterminiert Kultur die Natur? Ich kann mich nicht, so wie du das tust, herumtummeln wie halbnackte Jungen auf dem Deck eines Schiffes, die einander aus Wasserschläuchen bespritzen. Ich brauche dieses Kaminfeuer, ich brauche diesen Armsessel. Bis wir der Torheit des menschlichen Herzens folgend, wieder ein anderes Du suchen und finden, wollen wir das Ticken der Zeit mit einem einzigen Schlag zum Schweigen bringen. Komm näher!

Die Sonne war nun tiefer gesunken. ... Die Wellen besuchten nicht mehr die entfernteren Tümpel und erreichten auch nicht die schwarzpunktierte Linie, die sich, unregelmäßig bezeichnet, den Strand entlangzog. Der Strand war geglättet und schimmerte perlenweiß. Vögel schwuppten und kreisten hoch oben in der Luft. Einige sausten in den Furchen des Windes dahin, wendeten dann und kreuzten sie, als wären sie ein einziger, in tausend Schnitzel zerschnittener Körper. Vögel fielen wie ein herabsinkendes Netz auf die Baumwipfel. ... Die Nachmittagssonne wärmte die Felder, goss Blau in die Schatten und rötete das Korn. Die Herbststimmung des Nachmittags hatte auch Bernard erfasst: Und die Zeit, sagte Bernard, lässt ihren Tropfen fallen. Der Tropfen, der sich am Gewölbe der Seele gebildet hat, fällt herab. Von dem Gewölbe meines Geistes lässt die Zeit, die sich formende, ihren Tropfen fallen. Letzte Woche, während ich stand und mich rasierte, fiel der Tropfen. ... Meine Jugend ist dahin. Da hilft nur noch die Flucht. Aber wo vor und wo hin? Zurück in die Jugend der Zivilisation? An einem Reisebüro vorbeigehend, drängt Bernard der Gedanke zur Tat und er kauft sich kurzerhand eine Fahrkarte nach Rom. Aber dort angekommen, erscheint ihm alles bloß als Äußerlichkeit, Oberfläche, schöner Schein. Die Wahrheit ist, ich bin nicht einer von denen, die in einer einzigen Person oder in der Unendlichkeit ihre Befriedigung finden. Ein Schriftsteller möchte sich weiter entwickeln, von einem Stadium ins nächste wechseln: Überlegen wir einmal! Der Tropfen fällt; ein neues Stadium ist erreicht. Ein Stadium nach dem anderen. Und warum sollten Stadien je zu Ende sein? Zu welchem Schluss? Zur einzig wahren Geschichte? Aber gibt es Geschichten überhaupt? Das fragt sich ausgerechnet der, der schon viele Geschichten geschrieben hat und immer wieder welche erzählt. Als Bernard die Treppe von einer Terrasse hinabsteigt, stellt sich unverhofft ein Zusammenhang her, in dem Punkte und Striche zu Linien ineinanderzulaufen beginnen und wie alles, die kahle, die gesonderte Identität verliert, die es noch beim Aufstieg hatte. Der große rote Blumentopf ist nun ein rötlicher Fleck in einer Welle gelblichen Grüns. Die Welt beginnt, sich an mir vorbeizubewegen, wie die Böschung einer Hecke, wenn der Zug anfährt; wie die Wellen des Meeres, wenn ein Dampfer sie durchschneidet. Auch ich bewege mich, werde in die allgemeine Abfolge der Dinge hineingezogen. Wie die Vögel in oder überkreuz zu den Furchen des Windes; wie der mit oder quer zur Strömung die Wellen durchschneidende Dampfer, ist es Bernard beim Auf- und Abstieg der Treppe von der Terrasse ergangen. Solche konzentrierten Erlebnisse vom Aufgehen in der Umgebung, muss auch Virginia immer einmal wieder erlebt haben; denn dann beginnen die Phrasen aufzusprudeln. Diese Augenblicke des Entfliehens sind nicht zu verachten. Sie kommen zu selten. Tahiti wird möglich. Über diese Brüstung gebeugt, sehe ich in der Ferne eine Wasserwüste. Eine Flosse wendet sich. Der nackte visuelle Eindruck ist an keinen Gedankengang gebunden, er taucht auf, wie man etwa die Flosse eines Tümmlers am Himmelsrand erblickt. Visuelle Eindrücke vermitteln uns auf diese Weise oft ganz kurze Feststellungen, welche wir später einmal aufdecken und in Worte locken werden. Ich vermerke mir daher unter F: Flosse in einer Wasserwüste. Wie die Flosse aus einer Wasserwüste ragt, ein Wellenkamm im Meer aufscheint oder sich ein Kräuseln auf dem Tümpel zeigt, so tauchen auch im Wachbewusstsein die Schatten des Unbewussten auf, bilden sich in den mehrschichtigen Nervennetzen unseres Gehirns die Erregungsmuster aus, die Sinneseindrücke in Gedanken verwandeln, um daraus Worte und Phrasen werden zu lassen. Und mit dem neuen Tropfen, der sich bildet, beginnt ein neues Kapitel in Bernard's Geschichte.

An diesem heißen Nachmittag, sagte Susan, hier in diesem Garten, hier auf dieser Wiese, wo ich mit meinem Sohn spazierengehe, habe ich den Gipfel meiner Wünsche erreicht. ... Die heftigen Leidenschaften der Kindheit, meine Tränen in dem Garten, als Jinny Louis küsste, mein Zorn im Schulzimmer, wo es nach Fichtenholz roch, mein Einsamsein an fremdländischen Orten. ... Mit der Schere zwischen meinen Blumen stehend, frage ich mich nun: Wo kam der Schatten herein? Welcher Schlag vermag mein mühsam geerntetes, unnachgiebig niedergehaltenes Leben zu lockern? Bernard findet Phrasen für jede Situation, die aber Susan nicht einzufangen vermag. Dann zerbricht die Festigkeit meines Vormittags wie die gesprungene Schüssel, und den Sack mit Mehl hinstellend denke ich: Das Leben umsteht mich, wie Glas das eingeschlossene Schilfrohr. Ein Situationserleben kann so unwiederbringlich zerbrechen wie eine Schüssel und das Leben schlechthin brechen wie die Wellen: Abends sitze ich im Lehnstuhl und strecke den Arm nach meiner Näharbeit aus; ich höre meinen Mann schnarchen; und blicke auf, wenn der Schein eines vorbeifahrenden Autos blendend auf die Fensterscheibe fällt, und fühle die Wellen meines Lebens sich aufgewühlt rings um mich brechen, die ich verwurzelt bin; und ich höre Schreie und sehe die Leben der anderen gleich Strohhalmen um Brückenpfeiler wirbeln, während ich meine Nähnadel ein- und ausfahre und den Faden durch den Kattun ziehe. Ich denke manchmal an Percival, der mich liebte. Er ritt und stürzte in Indien. Ich denke manchmal an Rhoda. Und Jinny? Hier stehe ich, sagte Jinny, in der Station der Untergrundbahn, wo alles Begehrenswerte zusammentrifft ... Züge halten, Züge fahren an, so regelmäßig wie Meereswellen. - Jinny will zu ihrem eigenen Haus fahren, an das Neville gerade neidlos vorübergeht und an seine Jugend denkt: Als wir jung waren, saßen wir, wo immer es sein mochte, auf harten Bänken in zugigen Sälen, wo die Türen fortwährend aufgingen und zuschlugen. Wir tummelten uns halbnackt umher wie Knaben auf einem Schiffsdeck, die einander mit Wasser bespritzen. Aber genügen Beschreibungen alltäglicher Szenen? Sollte es nicht eine spannende Handlung und eine vernünftige Begründung geben? So einfach ist das Leben nicht. Gleicht es nicht eher der Poesie? Um ein Gedicht lesen zu können, muss man vertausendfachte Augen haben gleich einem dieser Scheinwerfer, die sich um Mitternacht im Atlantik auf Schollen dahinjagenden Wassers richten, wo vielleicht bloß ein Zweig von Seetang die Oberfläche durchsticht oder die Wellen plötzlich klaffen und ein Ungeheuer sich heraufschultert.- Louis kommt aus dem Kontor, setzt sich an seinen Schreibtisch, öffnet ein kleines Buch und liest ein Gedicht; denn sein Leben ist nicht ein augenblicklanger heller Funke wie der auf der Oberfläche eines Diamanten. Vielmehr geht er unter der Erdoberfläche durch gewundene Gänge, als trüge ein Wärter eine Lampe von Zelle zu Zelle. Sich zu erinnern, war seine Bestimmung gewesen, bis hinab zu den Pyramiden am Nil. Ich warf Wörter in Fächern aus gleich denen, die der Sämann über die gepflügten Felder streut, wenn die Erde kahl ist. Ich wünschte immer, die Nacht auszudehnen und sie mehr und mehr mit Träumen zu füllen. Noch geht es nur in Träumen über den Abgrund hinaus: Unter uns sind die Lichter der Heeringsflotte. Die Klippen verschwinden. Klein gekräuselt, grau gekräuselt - so breiten sich unzählige Wellen unter uns aus. Ich berühre nichts, ich sehe nichts. Vielleicht geht es hinab und auf die Wellen hinunter. Das Meer wird mir in die Ohren trommeln. ... Die Wellen werden mich wälzen und hinunterschultern. Alles stürzt in einem ungeheuren Schauer, löst mich auf. Das Einswerden mit der Umgebung beim Tagträumen auf einer Treppe und der Aufschein eines Wellenkamms auf dem Meer, der an eine aus dem Wasser ragende Flosse denken lässt, vereinigen sich mit dem Traum vom Eintauchen ins aufgewühlte Meer zum strömenden Einswerden mit dem Element. Noch träumt Virginia nur von der ersehnten Umarmung der Natur, aber die Flosse ist auch ein Fingerzeig ihres Unbewussten, das so tiefgründig ist wie der Tümmler darunter - oder der Eisberg.

Die Sonne war im Untergehen. Der harte Stein des Tags war zersprungen, und Licht ergoss sich zwischen seine Splitter. Rot und Gold durchschossen die Wellen in eilenden, von Dunkelheit befiederten Pfeilen. ... Aber die Wellen wurden, während sie sich dem Ufer näherten, des Lichts beraubt. ... Nun war das Getreide gemäht. Nun waren nur starre Stoppeln übrig von all seinem Fließen und Wogen. Und nun standen sie alle in den mittleren Jahren - wie die starren Stoppeln nach dem Fließen und Wogen der Jugend. Hampton Court, sagte Bernard, Hampton Court. Dies ist unser Treffpunkt. Sie stehen bereits an der Tür zum Gasthof - und Bernard überspielt seine Unsicherheit und Verlegenheit nach der langen Zeit: ,,Auch ich habe Blumen zwischen den Seiten von Shakespeares Sonetten gepresst``, und ich bin aufgewühlt. Mein kleines Boot schaukelt unsicher auf dem wilden Wellengetümmel. Es gibt kein Wundermittel (möchte ich hier vermerken) gegen den Schock des Wiedersehens. Hat die Gewohnheit die Augen blind gemacht? Wer vermag noch die namenlosen Zeichen wahrzunehmen? Bernard's Beziehung ist nicht stumm, fahl und null geworden, wie bei den anderen, sondern warm und mannigfaltig geblieben. Jeder Anblick ist ihm eine Arabeske, eine plötzlich hingekritzelte, um den Zufall und das Wunder einer sich plötzlich ergebenden Vertrautheit zu veranschaulichen. Der Schnee, das geplatzte Rohr, die Blechwanne, die chinesische Gans - sie sind hoch in der Luft schwingende Zeichen, aus denen ich, zurückblickend, die Wesensart jeder meiner Liebschaften lese; wie verschieden eine jede war. Für Bernard ist Susan wie eine Napfschnecke auf demselben Feld kleben geblieben. Eine Veränderung ist nicht mehr möglich. Wir haben uns festgelegt. Früher, wenn wir uns mit Percival in einem Londoner Restaurant trafen, wallte und wogte alles. Was hätten sie nicht alles werden können? Aber kommt es nur auf die äußere Entwicklung an? Geht es nicht eher um die innere Wandlung? Ich empfand den Stempel des Lebens nicht äußerlich sondern innerlich, auf die bloßen, die weißen, die ungeschützten Fasern. Ich bin umwölkt und wundgeschlagen von den Stempeln vieler Geister und Gesichter und mancher Dinge, die so subtil sind, dass sie Geruch, Farbe, Struktur, Substanz aber keinen Namen haben. Für euch, die ihr die engen Grenzen meines Lebens seht und die Linie, über die es nicht hinauskam, bin ich bloß ,,Neville``. Mir selbst aber bin ich unermesslich; ein Netz dessen Fäden sich unmerklich unterhalb der Welt erstrecken. ... Vor meinen Augen öffnet sich - ein Buch; ich sehe bis auf den Grund, ins Herz - ich sehe in die Tiefe. Ich weiß, welche Arten von Liebe mit Zittern entbrennen; wie Eifersucht ihre grünen Blitze hierhin und dorthin schießt; wie unentwirrbar eine Liebe die andere durchkreuzt; wie Liebe Knoten knüpft; Liebe sie brutal zerreißt. Auch ich bin verknüpft worden; auch ich bin weggerissen worden. Wer zittert, ist noch nicht festgelegt, noch frei, etwas zu werden - wie die Nullpunktsfluktuationen oder die Zitterbewegungen der Elementarteilchen. Nur eine Freiheit zittert in der Umarmung; und nur, wenn nichts gesagt wird; denn Worte tun dem geheimen Sinn nicht gut; es wird immer ein wenig närrisch, wenn man es ausspricht, sagt der Romantiker - oder es geht ganz einfach im Wortschwall unter. Bei Susan ist es umgekehrt. Sie wendet sich gegen die bloßen Teilansichten ihrer Freunde, die nichts ganz zu sehen vermöchten. Ich aber habe das Leben in ganzen Blöcken gesehen, massig, riesenhaft; seine Zinnen und Türme, Fabriken und Gasometer; eine Wohnstätte, eine nach einem seit unvordenklichen Zeiten weitervererbten Mustern gebaute. Diese Dinge bleiben vierkantig, hochragend, unaufgelöst in meiner Seele bestehn. Ich bin nicht geschmeidig, nicht beredt; ich sitze unter euch und schürfe eure Weisheit mit meiner Härte, lösche das silbergraue, flackernde Falterflügelgeflatter von Worten mit dem Spritzstrahl meiner klaren Augen. Unter den Bloomsberries wurde regelmäßig über die Fortschritte in den quantitativen Wissenschaften diskutiert. Das geometrische Verständnis der Gravitation in der Relativitätstheorie mit dem Ziel einer umfassenden Kosmologie stand der algebraischen Beschreibung der Atome in der Quantentheorie gegenüber, um die mikroskopischen Feinheiten der Atomstruktur und Molekülbildung zu verstehen. In der Romankunst wurde daraus der Gegensatz zwischen einem Leben in ganzen Blöcken, riesenhaft und massig und - dem flackernden Wortgeflatter und Phrasengedresche. Die Geweihe aufeinanderkrachen zu lassen, ist natürlich ein normales Vorspiel beim Wiedersehen alter Freunde.

Sind sie alle von diesem Wildbach von Dingen mitgerissen worden? Doch Louis, der scheu blickende aber gestrenge, hat in seiner Dachkammer, in seinem Kontor unabänderliche Schlüsse über die wahre Natur dessen, was wir wissen können, gezogen. Ganz so wie Einstein, als er noch in seiner Kammer (zu Hause) und in seinem Kontor (beim Patentamt) an den Grundlagen der Naturerkenntnis arbeitete. Er reißt, sagte Louis, der Faden, den ich zu spinnen versuche; euer Lachen zerreißt ihn, eure Gleichgültigkeit und eure Schönheit. Jinny hat den Faden zerrissen, als sie mich vor Jahren in dem Garten küsste. Der Einbruch der Außenwelt ins Innenleben; ein Sündenfall wie einst im Paradies? Gibt es jenseits von Eden noch einen Individualismus? Dabei ist auch Jinny am liebsten allein: Ich verurteile euch. Und doch sehnt sich mein Herz zu euch hin. Ich ginge mit euch durch die Feuer des Todes. Und doch bin ich am glücklichsten allein. Statt dem Wortgeflatter vertraut Jinny lieber ihrem Körper: Und weil ich vorschnell und viel mutiger bin als ihr, verwässere ich meine Schönheit nicht durch Knauserigkeit, damit sie mich nicht brenne. Ich schlucke sie, wie sie ist, herunter. Sie ist Fleisch; sie ist Stoff. Meine Vorstellungskraft ist die des Körpers. Ihre Visionen sind nicht feingesponnen und weiß vor Reinheit wie die Louis'. Dafür ist des Körpers Vorstellungskraft sinnlich und zartfühlend, feucht und wolllüstig: So flüssig ist mein Körper geworden, dass er sich sogar bei der bloßen Berührung durch einen Finger zu einem vollen Tropfen formt, der sich füllt, der zittert, der funkelt, der in Ekstase herabfällt. Für Susan klingen die Stimmen des vielen Geredes bloß, wie Bäume im Wald knarren. Geht da vielleicht gerade Lady Chatterley mit ihrem Wildhüter spazieren? Die war es jedenfalls auch leid, ständig die Possen des Individuums zu vollführen. Viel lieber ging es Susan darum, sich in immer größeren Kreisen des Verstehens ausbreiten zu dürfen, die vielleicht ... am Ende die ganze Welt umschlössen. Die Möglichkeitswellen der Quantenmechanik sollten einmal die Laborwelt der Physiker überschreiten und das ganze Universum umfassen. Die Wellen entgrenzen das Individuum. Aber für Bernard fällt das Schweigen, Tropfen auf Tropfen. Ein jeder bildet sich am Dachrand des Geistes und fällt in kleine Pfützen hinab. Auf immer allein, allein, allein - hör Schweigen fallen und seine Ringe bis an die äußersten Ränder senden! Herrscht Schweigen außerhalb der Erde? Doch horcht, sagte Louis, wie die Welt sich durch Abgründe unendlichen Raums bewegt! Sie braust dahin; der erhellte Streifen Geschichte ist vorbei, und unsre Könige und Königinnen sind verschwunden; wir sind verschwunden; unsre Zivilisation; der Nil; und alles Leben. Unsre gesonderten Tropfen haben sich aufgelöst; wir sind ausgestorben, verlorengegangen in den Abgründen der Zeit, in Finsternis. Mit dem Tick-tack der Uhr und dem Töff-töff der Autos ruft die Welt für Bernard alle wieder zu sich zurück. Uns diesem grenzenlosen Chaos entgegenstellen, sagte Neville, diesem gestaltlosen Schwachsinn? Mit einem Kindermädchen hinter einem Baum liebelnd ist jener Soldat bewundernswerter als alle Sterne. Doch manchmal erscheint ein flimmernder Stern am klaren Himmel und macht mich glauben, dass die Welt schön ist und wir Maden sogar die Bäume mit unsrer Lust verunstalten. Beim Betrachten einer Blume vervielfältigen sich für Bernard ihre Seiten: Die rote Nelke, die in der Vase auf dem Tisch in dem Restaurant stand, als wir mit Percival zusammen dort zu Abend saßen, ist zu einer sechsseitigen Blume geworden; zu einer aus sechs Leben gemachten. Ist wie die Blume auch das Bewusstsein sechsseitig geworden? Sind die verschiedenen Stimmen der Freunde nur die sechs Erinnerungen, in denen Percival weiter erhalten bleibt? Ein Vogel fliegt heimwärts, sagte Louis. Der Abend schlägt die Augen auf und wirft einen schnellen Blick zwischen die Büsche, bevor er einschläft. Wie sollen wir sie zusammensetzen, die wirre, vielfältige Botschaft, die sie alle uns hinterlassen? ... Wir hören die Buchen und die Birken ihre Zweige heben, als hätte die Braut ihr seidenes Nachtgewand fallen lassen und wäre an die Türschwelle gekommen und sagte: ,,öffne, öffne!`` Alles scheint lebendig zu sein, sagte Louis. Unterdessen beginnt sich der Himmelrand zu wellen. Der ganze Wahnsinn persönlichen Daseins beginnt von neuem - und so schlüpfen sie davon.

Nun war die Sonne untergegangen. Himmel und Meer waren von einander nicht mehr zu unterscheiden. Die sich brechenden Wellen breiteten ihre weißen Fächer weit über das Ufer, sandten weiße Schatten in die Vertiefungen klangvoller Höhlen und rollten dann seufzend über den Kieselstrand zurück. Bernard hatte als erster den Lichtfinger der aufgehenden Sonne erblickt. Nun hat die Erde das Licht der Sonne wieder verdeckt und es ist Zeit zusammenzufassen. Bernard will uns den Sinn seines Lebens erklären. Mich überkommt die Illusion, dass etwas für einen Augenblick Zusammenhang hat, Umfang, Gewicht, Volumen hat, vollrund wird. Das scheint für den Augenblick mein Leben zu sein. Wenn es möglich wäre, würde ich es Ihnen als ein Ganzes hinreichen. Ich würde es abpflücken, wie man eine Traube pflückt. Ich würde sagen: ,,Nehmen Sie! Dies ist mein Leben.`` Ja, die großen Worte sind verführerisch. Als ob mit einem Leben irgendetwas dinglich fest Umschriebenes oder Bezeichenbares gemeint wäre. Jedes Ganzheitsgefühl wird mit dem Reden darüber zerstört und ist sowieso nur aus der Innenperspektive erlebbar. Worüber Virginia sich hier lustig macht, hatte Bertrand in seiner Theorie der Beschreibung als Pseudokennzeichnung entlarvt. Aber was bleibt einem Schriftsteller von seinem Leben? Bernard fährt fort: Um Ihr Verständnis zu wecken, um Ihnen mein Leben darzustellen, muss ich Ihnen eine Geschichte erzählen - und es gibt so viele, so unendlich viele: Geschichten aus der Kindheit, Geschichten aus der Schule, Geschichten von Liebe, Ehe, Tod und so weiter; und keine von ihnen allen ist wahr. Und doch erzählen wir einander wie Kinder Geschichten, und um sie auszuschmücken, erfinden wir diese lächerlichen, schillernden schönen Phrasen. Wie satt ich Geschichten habe, wie satt ich Phrasen habe, die wunderschön mit allen vier Füßen auf dem Boden landen! Und wiesehr ich säuberlichen Lebensplänen misstraue, die auf halben Briefbogen entworfen sind! Das Leben und der Lauf der Welt haben keinen Plan. Da ist es umso schöner, auf Entdeckungsreisen zu gehen. Die Dinge wieder wie die Kinder mit offenen Augen zu sehen - und die Worte nur noch als das zu nehmen, was sie sind: bloße Zeichen in einem Geflecht anderer Zeichen, die regelgeleitet zu einer Sprache werden. Und wenn sie auch häufig etwas Nichtsprachliches bezeichnen, werden sie meistens bloß zur Unterhaltung benutzt: Prädikation und Signifikation gehen in Kommunikation auf. Es schälen sich Charaktere heraus, die zu Persönlichkeiten werden. Louis war angeekelt von unserer fleischlichen Natur; Rhoda abgestoßen von unserer Grausamkeit; Susan vermochte nicht teilzuhaben; Neville wollte Ordnung; Jinny Liebe; und so weiter. Wir litten schrecklich, während wir zu gesonderten Körpern wurden. Und Percival? Der blieb Bernard durch seine bemerkenswerten Bewegungen im Gedächtnis. Und so ergeht sich unser Erzähler in ausschweifenden Schilderungen der Gestalten aus seiner Erinnerung. Um aber zurückzukommen! Tun wir wieder so, als wäre das Leben eine feste Substanz, wie ein Globus geformt, den wir zwischen den Händen drehn. Tun wir, als könnten wir eine einfache und logische Geschichte wahrnehmen, so dass wir, sobald die eine Sache - etwa Liebe - erledigt ist, schön ordentlich zur nächsten weitergehn. So wie sich Geschichten beim Schreiben ändern und sich mehr und mehr selbst zu schreiben scheinen, ist es auch mit dem Leben, das sich einfach lebt; trotz aller Stadien der Entwicklung, die jede auf ihre Weise zu nehmen hat. Bei Bernard war es eine Weide, die für ihn eine besondere Bedeutung hatte. Ich blieb stehen und sah die Weide an, und ebenso wie damals, als ich im Herbst auf die brennroten gelben Zweige blickte, bildete sich eine Ablagerung; ich selbst bildete mich; ein Tropfen fiel; ich selbst fiel - das heißt, ich war aus seinem vollständig gewordenen Erlebnis hervorgegangen. Das Leben ging weiter, aber das biographische Bewusstsein wurde durch eine bleibende Erinnerung bereichert. Und die Wirkung des Ganzen? Die könnte wohl nur Musik vermitteln. Was für eine Symphonie mit ihren Harmonien und Disharmonien und ihren Melodien in der Höhe und ihrem komplizierten Bass in der Tiefe da erwuchs! Jedes spielte seine eigene Melodie: auf Fiedel, Flöte, Trompete, Trommel oder was immer das Instrument sein mochte. Bei Neville war sie: ,,Sprechen wir über Hamlet!`` Bei Louis die Wissenschaft. Bei Jinny die Liebe. Und Rhoda, die Brunnennymphe, die stets feuchte? Sie verweigerte sich ebenso wie Louis, der Mansardenbewohner, dem Ehegefängnis. Louis wählte die Wahrheit und Rhoda die Freiheit. So entgingen sie der Unzufriedenheit und dem Stumpfsinn der sich einschleichenden Gewohnheit.

Aber Percival fand vorzeitig den Tod. War die Geschichte damit zu Ende? Eine Art von Seufzer? Ein letztes Sichkräuseln der Welle? Ein Wegrieseln von Wasser in eine Gosse, in der es sich gurgelnd verläuft? Erhaben dreht sich die Erde weiter. Das Leben ist angenehm; das Leben ist gut. Nach dem Montag kommt der Dienstag, und dann folgt der Mittwoch. ... Und dann geschieht es vielleicht , dass zwei Gestalten, die mit dem Rücken zum Fenster stehn, sich gegen die ausladenden Äste eines Baums abzeichnen. Mit plötzlich erschüttertem Gemüt fühlt man: ,,Es gibt Gestalten ohne Gesichtszüge, in Schönheit gewandete.`` In der darauf folgenden Pause, während die Wellenringe sich ausbreiten, sagt das Mädchen, mit dem man sich unterhalten sollte: ,,Er ist alt.`` Aber sie hat unrecht. Es ist nicht das Alter: ein Tropfen ist gefallen, wieder ein Tropfen. Die Zeit hat die Anordnung abermals durcheinander geschüttelt. Unser Leben passt sich je aufs neue dem majestätischen Marsch des Tages über den Himmel an. Und in der Nacht fiel das Sternenlicht auf unsere Hand, das seit Jahrmillionen unterwegs war, während wir Zucker in den Tee tauchten. Mit den verebbenden Gesprächen versanken wir in ein Stillschweigen, wie es dann und wann von nur wenigen Worten unterbrochen wird, als tauchte eine Flosse aus der Wasserwüste von Schweigen auf; und dann sinkt die Flosse, der Gedanke, zurück in die Tiefe und verbreitet um sich herum kleine Wellenkreise von Befriedigung, von Zufriedenheit. Und Rhoda, die Brunnennymphe, die immer feuchte, von Visionen besessene, träumende? Sie hatte sich Felder gekauft und bestellte sie als ihren Garten, in dem nicht selten Louis wandelte. Dann Jinny - die zweifellos einen jungen Mann zu Gast hatte. Die beiden erreichten die Krise des üblichen Gesprächs. Das Zimmer würde verdunkelt, Stühle gerückt werden. Denn sie trachtete noch immer nach dem Augenblick. Ohne Illusionen, hart und klar wie Kristall, ritt sie mit entblößter Brust auf den Tag los. Sie ließ sich von seinen Stacheln durchbohren. Immer wieder ist sie bereit wie in jenen ersten Frühlingsnächten, als der Baum vor den großen Londoner Wohnhäusern, in denen achtbare Bürger nüchtern zu Bett gingen, ihr Lieben kaum vor Blicken barg; und das Kreischen der Trambahn sich mit dem Schrei ihrer Lust mengte und das Gekräusel der Blätter ihre Erschlaffung beschatten musste, ihre köstliche Mattigkeit, wenn sie gekühlt von all der Süße befriedigter Natur hinsank.- Wie jede Welle sich irgendeinmal bricht, brachen auch wir auseinander. Ich konnte mich nicht wiedererlangen aus diesem endlosen Sichwegwerfen, Sichvergeuden, ungewollten Hervorquellen und lautlosen Einteilen, dort unter den Brückenbogen hervor, um eine Baumgruppe oder eine Insel herum, hinaus, wo Möwen auf Pfählen sitzen, und über das aufgerauhte Wasser, um Wellen im Meer zu werden,- ich konnte mich nicht wiedererlangen aus dieser Vergeudung. So gingen wir auseinander. War dies also, dieses Hinwegströmen, vermischt mit Susan, Neville, Rhoda, Louis, eine Art von Tod? Eine neue Zusammensetzung von Elementen? Eine Andeutung des Kommenden? War Bernard's Leben unvollkommen gewesen, eine unvollendete Phrase geblieben? Die Wucht meiner Niedergeschlagenheit drückte das Gatter, an dem ich lehnte, auf und schob mich, einen ältlichen, einen schwerfälligen Mann mit grauem Haar über das farblose Feld. Der melancholische Pfad führte Bernard in noch mehr Farblosigkeit und Winterlichkeit, Kälte und Dunkel. Wie kehrt dann nach einer Sonnenfinsternis das Licht in die Welt zurück? Auf wundersame Weise. Erst ganz schwach, in feinen Streifen, danach ein Erglühen. Dann ein Dunst, als atmete die Erde ein und aus. Hatte auch Bernard seinen Atem wiedererlangt? Der Energiestrom von der Sonne hält die Erde auf ihrer Bahn und lässt das Leben auf ihr sprießen. Wir alle sind Teil dieses fühllosen Weltalls geworden. Doch wie die ohne ein Selbst erblickte Welt beschreiben? Da gibt es keine Worte; aber quantitative Wechselwirkungen, Individuen und Relationen, Mathematik? Die Angelegenheit des ,,Seins`` hinter mich lassend, frage ich mich nun: ,,Wer bin ich?`` Ich habe von Bernard, Neville, Jinny, Susan, Rhoda und Louis gesprochen. Bin ich sie alle? Bin ich ein einziger und gesondert? Ich weiß es nicht. Wir saßen hier beisammen. Nun aber ist Percival tot und Rhoda ist tot; wir sind geschieden, wir sind nicht hier. Die Individualität ist überwunden: ,,Ich bin ihr.`` Nach Percival und Rhoda war auch Bernard gestorben, der Mann, der immer ein Büchlein in der Tasche hatte, in das er Eintragungen machte. Ist der Rest Stillschweigen, in Einsamkeit, ohne Phrasen? Der Anprall der sich überstürzenden Welle, der mein Leben lang erklungen ist, der mich geweckt hat, so dass ich den goldenen Ring an dem Schrank sah, bringt, was ich enthalte, nicht mehr zum Erbeben. Es bleibt eine Ahnung von Tagesanbruch, keine Morgendämmerung zwar, aber,- ja, dies ist die ewige Erneuerung, das unaufhöhrliche Sichheben und Sichsenken, auf und ab und wieder auf. Und auch in mir hebt sich die Welle. ... Der Tod ist es, wogegen ich anreite, mit eingelegtem Speer und zurückwehendem Haar wie das eines jungen Mannes, wie das Percivals, wenn er in Indien galoppierte. Ich gebe meinem Pferd die Sporen. Unbesiegt und unnachgiebig will ich mich dir entgegenwerfen, o Tod! ... Die Wellen brachen sich am Ufer.

Was für ein furioser Schluss menschlicher Selbstbehauptung der gleichgültigen Natur gegenüber. Mit Rebellion und Ergebung, Innenansicht und Außenansicht hat Wiggershaus ihn umschrieben und ist fortgefahren: Es ist unmöglich, sich mit einer Natur zu versöhnen, zu der die Unausweichlichkeit des Todes gehört. Aber gerade mit dieser Unversöhnlichkeit sind wir Teil der Natur, tragen wir unser Teil bei, sind in sie eingefügt. Und mit Darwin könnte man ergänzen, dass wir bloß Ausgestaltungen von Möglichkeiten sind in der Selbstentwicklung der Materie. In ihrem verhüllt autobiographischen Künstlerroman ist Woolf immer wieder auf diesen Zwiespalt zurückgekommen zwischen der existentiellen Selbstbehauptung durch die Aneignung individueller Freiheitsspielräume und ihrer Einbettung in das kosmisch-evolutionäre Werden und Vergehen. Und so hat die Autorin jedes ihrer neun Kapitel ebenfalls eingebettet in den Tagesablauf am Meer; von der Vorahnung des Sonnenaufgangs bis zum Einbruch der Nacht. Und im Rhythmus der heranbrandenden und wieder zurückströmenden Wellen folgen auch die Lebensäußerungen der Figuren aufeinander; die alle sechs Ausprägungen eines Bewusstseins sind, des Bewusstseins Bloomsbury's, wie Gordon hervorhebt. Durability and imagination, these are the two irreducible conditions of proper friendship as defined in The Waves. Six friends live in one another's generous imaginations. ... The missing Thoby, Lytton's pinnacle of creation, remained the presiding genius of Bloomsbury, in the same focal way as in The Waves the dead, magnificent Percival remains central to the lives of his six friends. Ein Tag im Herbst am Strand umhüllt mit seinem Wellenschlagen und Lichtgeflimmer gleichsam die ganze Lebensspanne eines Menschen von der Kindheit bis ins Alter. Warum sind es sechs Freunde? Weil sie den sechs schon den Ägyptern und Babyloniern bekannten Wanderern am Himmel entsprechen? Die schon vor Jahrtausenden anhand ihrer Bewegungen vor dem Fixsternhimmel entdeckten Planeten Jupiter, Venus, Merkur, Saturn, Mars und der Mond gaben auch Anlass für die Verbindung von Sechser- und Zehnersystem zum Sexagesimalsystem, nachdem die Bahnwinkel und Umlaufzeiten noch heute eingeteilt werden in Grad bzw. Sekunden bis Jahren. Der Siebte im Zentrum der Freunde ist Percival, eine zum Mythos gewordene Lichtgestalt, die der Sonne im Zentrum des Planetensystems entsprechen dürfte. Auf sie beziehen sich die Freunde immer wieder im Laufe ihrer Zusammenkünfte während des Lebens. Und ebenso sorgen die Mythen in der Kulturgeschichte der Menschen für Zusammenhalt. Woolf bezieht sich mit dem Forschergeist Louis wiederholt auf den Nil, an dessen Ufern schon vor 3500 Jahren der Sonnengott als der einzige Herrscher auf Erden ausgezeichnet worden war. Die systemstabilisierende und lebensspendende Wirkung der Sonnenenergie konnte von den Wissenschaften fortan nur bestätigt werden. Und die neun Kapitel? Orientieren die sich vielleicht an den neun Tagesstunden der hervorgehobenen Herbstzeit? Zudem sind bis heute zu den sechs damals bekannten Wanderern noch Uranus, Neptun und Pluto hinzugekommen und der Mond wurde zum Trabanten der Erde, dem wir ihre Rotationsstabilität verdanken und der den Sechsstundenrhythmus von Ebbe und Flut an der See zur Folge hat. Derartige Überlegungen wird sich Woolf gemacht haben dürfen; denn Die Wellen hat sie klarsichtig und wissensreich durchkomponiert. Dazu gehören neben den leitmotivisch immer wiederkehrenden Phrasen nach Wiggershaus auch die durch Form und Farbe umschriebenen Symbole. Den sechs Figuren sind jeweils Farb- und Formsymbole zugeordnet, die das Spezifische ihrer Naturen noch deutlicher hervortreten lassen. Rot und Gold beispielsweise, Jinny zugeordnet, sollen das dionysisch Rauschhafte ihrer Person unterstreichen. Der Ring, der gleich im ersten Satz als eine Vision Bernards vorkommt, symbolisiert seine Fähigkeit zu kommunizieren. Wörter, sagt er, ,,bilden sogleich Rauchringe``. Neben den Symbolen sind es natürlich auch die wohlformulierten Phrasen und Metaphern, die den besonderen literaturästhetischen Reiz des Romans ausmachen und in ihrem Bedeutungsreichtum eine Interpretationsfülle ermöglichen, die aber nur im englischen Original ausgeschöpft werden könnte. Es lohnt sich also, den Roman immer wieder zu lesen und jeweils dem Muster nachzuspüren, das er in unserem Bewusstsein erzeugt. Woolfs Empfindsamkeit, ihr Vorstellungsvermögen und ihre Beobachtungsgabe schaffen in Verbindung mit ihrer virtuosen Fabulierkunst ein Sprachuniversum faszinierender Vielfältigkeit; genau richtig für die Beschreibung der Vielfalt und des Wandels in unseren alltäglichen Bewusstseinszuständen.

Für Jane Goldman in ihrer Cambridge Introduction und Kate Flint in der Einleitung zur Ausgabe als Pinguin Classic ging es Virginia Woolf in The Waves darum, sprachlich auszuloten, wie es trotz der Fülle unserer Bewusstseinszustände und ihres ständigen Wandels, möglich ist, so etwas wie eine dauerhafte Selbstheit hervorzubringen. Nach Flint ging Woolf bei ihrem development of selfhood von einem Gedicht Wordsworth's aus, in dem es heißt: Who, looking inward, have observed the ties / That bind the perishable hours of life. Und Flint kommentiert: In the novel, Woolf, like Wordsworth, is preoccupied with the particularizing details of language through which one establishes one's own private sense of identity, internalizing aspects of the outer world. Es sind die mannigfachen Phrasen und Symbole, die im flüchtigen Bewusstseinsstrom, den Wellen gleich immer wiederkehrend, für Selbststabilisierung sorgen. Flint hält dabei das Wellenbild für geeigneter als die Vorstellung eines gleichsam strömenden Bewusstseins zur Darstellung des Woolf'schen Bewusstseins-Verständnisses: It is thought such verbal accretion, Woolf suggests, that identity establishes itself. ``Stream of consciousness'', a term often losely used of Woolf's prose in this novel, is in fact inappropriate in its suggestion of a continuous flow. Instead, the image of waves, with their incessant, recurrent dips and crests, provides a far more helpful means of understanding Woolf's representation of consciousness as something which is certainly fluid, but cyclical and repetitive, rather than linear. Das wiederkehrende Moment der Selbstvergewisserung und Fremdbestätigung verfestigt gleichsam den Tropfen aus dem Nebel - bis er fällt und sich ein neuer Tropfen bildet. In ihrer Modernen Romankunst vermag Virginia Wellen- und Teilchenbild, Werden und Sein, ganz ähnlich wie in der Optik Hamiltons und in der Quantenmechanik Schrödingers, zusammenzudenken. In der Malerei entsprechen dem die Wellenlinien Munchs und besonders van Goghs, der sie zudem in diskrete Pinseltupfer auflöst. Auch die Beziehungen zwischen Untergrund und Oberfläche, der Flosse über der Wasserwüste, haben nicht nur eine Entsprechung in der Tiefenpsychologie Freuds, sondern auch in der Thermodynamik Boltzmanns, der Quantentheorie Plancks und der Relativitätstheorie Einsteins, in denen jeweils makroskopische Größen wie Energie, Entropie oder Temperatur auf die Frequenz, Masse oder Ladung vieler bewegter Mikroteilchen bezogen werden. Die Natur und unser ihr entstammendes Gehirn sind aus vielen Teilen modular und mehrschichtig gewachsen - und so verhält es sich auch mit unserem Bewusstsein oder dem Selbsterleben unseres Gehirns. Die dem Identitätsgefühl des Bewusstseins erwachsende Selbstheit bedarf nach Virginia allerdings der sprachlichen Verfestigung und Reproduktion.

Für die Wiederkehr eines Selbstverständnisses hat Woolf in den Wellen ein schönes poetisches Bild gefunden, indem sie es vergleicht mit der Rückkehr des Lichts nach einer Sonnenfinsternis. Nach dem Durchlaufen einiger Stadien der Selbstheit aus seltenen vollkommenen Erlebnissen heraus, gleichsam der Bildung und dem Fallen eines Tropfens entsprechend, zerfiel Bernard in der Alters-Melancholie das Selbstverständnis. Mit Recht hebt Goldman diese Schilderung eines vollkommenen Erlebnisses als eine der wesentlichsten Episoden des Romans hervor: As well as examining the self in relation to others, The Waves also explores the solitary self in existential crisis. One of the most powerful episodes is Bernard's descpription of the sun going out on his sense of himself. In losing himself, he also seems to loose the world: ``The scene beneath me withered. It was like the eclipse when the sun went out and left the earth, flourishing in full summer foliage, withered, brittle, false. ... The woods had vanished; the earth was waste of shadow. ... A man without a self, I said. A heavy body leaning on a gate. A dead man.'' This is an expression of individual masculin subjective loss, but it is simultaneously a metafictional moment in a self-conscious stylised work that seeks to test the limits of language itself: ``But how describe the world seen without a self? There are no words. Blue, red - even they distract, even the hide with thickness instead of letting the light through.'' Bernard appears to achieve a state of androgyny when he claims: ``Nor do I always know if I am man or woman.'' The novel, nevertheless, to some extent dissents from Bernard's imperialist attemps to ``sum up'' all identities. In describing the return of the self, Bernard dwells on a sense of subjective fragility as the return of the light is described: ``Miraculously. Frailly. In thin stripes. It hangs like a glas cage. It is a hoop to be fractured by a tiny jar. There is a spark there. Next moment a flush of dun. Then a vapour as if earth were breathing in and out, once, twice, for the first time. Then under the dullness someone walks with green light. Then off twists a white wraith. The woods throb blue and green, and gradually the fields drink in red, gold, brown. Suddenly a river snatches a blue light. The earth absorbs colour like a sponge slowly drinking water. It puts on weight; rounds itself; hangs pendent; settles and swings beneath our feet.'' Eine derart verzauberte Stimmung bei der Wiederkehr des Lichts nach einer Sonnenfinsternis ist neben dem Gleichnis für die Wiederkehr des Selbst auch ein Verweis auf die Ursprünge der Zivilisation angesichts der kosmisch-irdischen Bedingungen unserer Existenz. Damals haben die gelegentlichen Verfinsterungen der Sonne am Tag Entsetzen ausgelöst und Untergangsvisionen heraufbeschworen. In der Pinguin-Ausgabe wird angemerkt, dass die Woolfs zusammen mit den Sackville-Wests und Quentin Bell am 29. Juni 1927 von London ins Moor von North Yorkshire fuhren, um nach über 200 Jahren einmal wieder eine in England sichtbare Sonnenfinsternis beobachten zu können. Für Virginia mag es ein vollkommenes Erlebnis gewesen sein, das sich mit schönen Phrasen an ihrem Selbst ablagerte. Eine Sonnenfinsternis war es auch, die erstmals die Vorhersage Einsteins bestätigte, wie stark Lichtstrahlen durch große Massen gekrümmt werden. Woolf verstand es, ganz ohne akademische Bildung, sich in vielfältiger Weise von der intellektuellen Avantgarde ihrer Zeit inspirieren zu lassen. Sehen wir zu, wonach weitere 100 Jahre später den nunmehr auch akademisch gebildeten Schriftstellerinnen der Sinn steht. Oriententieren sie sich zukunftsorientiert an Wissenschaften und Künsten oder greifen sie rückwärtsgewandt auf Mythen und Religionen zurück? Und was ist aus der feministischen Kultur- und Gesellschaftskritik geworden? Hat ihre Verwirklichung sie überflüssig gemacht? JuLi schreibt dazu auf dem Rasen: Ich gehöre einer Generation an, die mit einem neuen, ja, man könnte sagen: beinahe ohne Rollenverständnis aufgewachsen ist. Als Kind habe ich weder mit Puppen noch mit Waffen gespielt. Mein Lieblingsspielzeug war ein Bagger. In der Schule führte ich eine Kinderbande und verprügelte aufmüpfige Klassenkameraden. Ich habe zwei juristische Staatsexamen und besiege noch heute Schriftstellerkollegen im Armdrücken. Alice und ihren Schwestern bin ich wirklich dankbar dafür, was sie quasi pränatal für mich getan haben. Aber das verpflichtet mich nicht, auf leeren Schlachtfeldern zu kämpfen.


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ingo 2009-07-26