Niels stand an der Tafel und erläuterte zwei Tabellen , als Sofie noch leicht verschlafen in die letzte Reihe schlich. Sie hatte von Chris und Janet, Franz und sich auf einer Hochzeitsfeier geträumt ... Niels setzte sich wieder und schlug ein Buch auf: Praktische Philosophie und konstruktive Wissenschaftstheorie, herausgegeben von Friedrich Kambartel. ,,Ich möchte die Differenzen und Parallelen zwischen dem methodischen Konstruktivismus und der Universalpragmatik anhand einer tabellarischen Gegeüberstellung erläutern. Es geht um drei Diskurs- bzw. Beratungsleistungen, die zu erbringen sind: Bevor ich auf die einzelnen Beratungsteile eingehe, haben wir dem Prinzip der methodischen Ordnung folgend, Einigung über unser lebenspraktisches Vorverständnis herbeizuführen. Lorenzen beginnt mit der Rekonstruktion einer rationalen Grammatik, die wie folgt unterteilt werden kann: Bei den Einwort-Sätzen genügt zum Verständnis die Unterscheidung von Imperativ- und Indikativ-Sätzen. Ich denke, jeder kennt solche meist von Kindern geäußerten Sätze wie Haben!, Komm!, Heiß., Hart. Worte, die man Gegenständen zu- oder absprechen kann, werden Prädikatoren genannt. Gegenstände werden durch Nominatoren identifiziert und durch Prädikatoren charakterisiert. Kindern macht es viel Spaß, die Wort-Einführungs-Situation ständig durch die Wort-Verwendungs-Situation zu festigen. In einer Sprachgemeinschaft übliche Weisen der Wort-Verwendung werden Prädikatorenregeln genannt. Kinder vermögen ihnen zu folgen, ohne sie explizit zu kennen: Hunde bellen, Steine sind hart, Pferde bellen nicht (sie wiehern), Kissen sind weich (nicht hart) usw. Um Wort-Verwendungen zu vereinfachen, werden Definitionen eingeführt, z.B. Schimmel für weißes Pferd. Oder Elementarsatz für einen Satz, der nur aus einem Prädikator und einem Nominator besteht. Ein Satz, der aus Elementarsätzen besteht, die durch logische Partikel miteinander verbunden sind, wird komplexer Satz genannt. Bevor wir zur Logik übergehen, ist es wichtig, im Auge zu behalten, daß nicht die Indikativ-, sondern die Imperativsätze primär sind. Entsprechendes gilt auch für die zugrunde liegenden Handlungen. Kinder lernen sprechen in Verbindung mit ihrer Bedürfnis-Befriedigung. Zunächst schreien sie bloß (nach den Zitzen); später äußern sie Mama! oder Haben! Und erst wenn sie befriedigt sind und sich geborgen fühlen, wenden sie ihr Augenmerk in neutraler Weise den Dingen zu, die sie umgeben. Dieses normative Fundament ist auch in den Wissenschaften zentral. Seine Anerkennung scheidet die kritischen von den analytischen Wissenschaftstheorien.

Allen Wissenschaften geht bekanntlich die Logik voran. Sie beginnt mit der Normierung von Modalitäten und logischen Partikeln:

In der konstruktiven Logik werden Beweise weder syntaktisch durch Axiome und Ableitungsregeln noch semantisch durch Wahrheitstafeln und Boole'sche Algebra vorgenommen. Dem Primat der Praxis folgend, werden logische Begründungen vielmehr pragmatisch nach Dialogregeln geführt. Neben allgemeinen Rahmenregeln der Dialogführung werden die logischen Partikel durch besondere Angriffs- und Verteidigungsregeln eingeführt.`` Niels wies auf eine Tabelle , die er an die Wand geheftet hatte. ,,Die Verneinung einer Behauptung kann z.B. nicht verteidigt, sondern nur durch einen Gegenangriff behauptet werden. Wer eine mit und verknüpfte Behauptung verteidigen möchte, hat beide Teilbehauptungen zu verteidigen. Für die Widerlegung eines Allsatzes genügt der Angriff mit einem Gegenbeispiel. Heute nachmittag solltet ihr einige Beispiele logisch wahrer Sätze dialogisch zu begründen versuchen.``

,,Das will ich gerne tun``, meldete Hilde sich zu Wort und wurde sogleich grundsätzlich. ,,Wenn ich mich an Russell und Wittgenstein erinnere, dann hatten sie zwei Weisen des logischen Schließens benutzt: die Ableitung aus Axiomen und das Rechnen mit Wahrheitswerten. Gödel konnte 1930 in seinem Vollständigkeitssatz zeigen, daß beide Schlußweisen äquivalent sind. Die Wahrheitswerte stellen also eine angemessene Semantik klassisch logischer Formeln dar. Man könnte auch sagen: die klassische Logik ist wahrheitsdefinit. Nun nehme ich an, daß die konstruktive Logik dialogdefinit ist. Aber gibt es nicht trotzdem ein Axiomensystem oder Kalkül auch der konstruktiven Logik?``

,,Gute Frage``, begann Niels seine Antwort. ,,Einen Kalkül der damals noch sogenannten intuitionistischen Logik hatte Heyting bereits 1930 vorgelegt.`` Niels blätterte in der Metamathematik Lorenzens. ,,Die Dialogregeln sind aus dem Sequenzenkalkül Gentzens von 1934 hervorgegangen. Den Zusammenhang zwischen den logischen Dialogen und den sequenziellen Ableitungen beweist Lorenzen im sogenannten Deduktionstheorem. D.h. jede im Dialog gewinnbare Behauptung ist ableitbar (und umgekehrt). Das ist der Grund dafür, daß es auch für die dialogische Logik ein Computer-Programm gibt.

Kommen wir zu den Modalitäten. Wann ist ein Urteil notwendig? Wann ist eine Norm geboten? Wie hängen die beiden Modalitäten mit der Wahrheit von Sätzen zusammen?``

,,Ein Satz ist wahr genau dann, wenn er ableitbar ist``, entgegnete Hilde.

,,Das gilt für komplexe Sätze. Die können je nach verwendetem Kalkül klassisch oder konstruktiv wahr sein. Und wann sind Elementarsätze wahr?`` ließ Niels nicht locker.

,,Wenn Einführungs- und Verwendungssituation übereinstimmen``, ließ Sofie sich vernehmen.

,,Diese umgangssprachliche Wahrheitsdefinition ist natürlich im Zweifelsfall durch wissenschaftliche Kriterien zu ergänzen``, merkte Franz an.

,,Ein's nach dem ander'n``, fuhr Niels fort. ,,Soweit sind wir noch nicht.``

,,Aber die Notwendigkeit eines Ereignisses läßt sich nur physikalisch rechtfertigen, nämlich bezüglich eines allgemeingültigen Naturgesetzes. D.h. Anfangsbedingungen und Verlaufsgesetz machen eine Prognose notwendig. Um ein Beispiel zu geben: Lasse ich einen Ziegelstein von einem 11 m hohen Gerüst senkrecht herunter fallen, wird er notwendigerweise nach 1,5 s auf dem Boden aufschlagen ... ``

,,... sofern nicht gerade ein Lastwagen unter dem Gerüst hindurchfährt``, warf ein Schüler scherzhaft ein.

,,Anfangsbedingungen und Verlaufsgesetz sind genau genommen durch eine Vielzahl weiterer Randbedingungen zu ergänzen``, räumte Franz ein. ,,Worauf ich nur hinaus wollte, ist, daß notwendig definiert werden kann durch die Ableitbarkeit aus einem Verlaufsgesetz unter besonderen Anfangs- und Randbedingungen. Relativ zu diesem Wissen ist ein Ereignis notwendig.``

,,In der formalen ontischen Modallogik werden die wissensinvarianten Beziehungen zwischen notwendigen Urteilen untersucht``, knüpfte Niels den Faden weiter.``

,,Und wann ist ein Ereignis möglich?`` wollte ein Schüler wissen.

,,Wenn das Nicht-Eintreten des Ereignisses nicht-notwendig ist``, antwortete Niels und ergänzte: ,,Und ein Ereignis ist kontingent, wenn es möglich und nicht-notwendig ist.

Wir haben die Notwendigkeit auf Zukunftsaussagen bezogen; daß etwas notwendigerweise sein wird. Zur Gebotenheit kommen wir dadurch, daß etwas sein soll. Eine deontische Modalität meint also die Gebotenheit eines zukünftigen Zustandes. Die Notwendigkeit gilt mit Bezug auf physikalische Gesetze, die Gebotenheit nimmt Bezug auf Rechtsgesetze. Es ist z.B. geboten, Menschen in Not zu helfen. Erlaubt und freigestellt können analog zu möglich und kontingent definiert werden. D.h. eine Handlung ist erlaubt, wenn ihr Unterlassen nicht-geboten ist. Eine Handlung ist freigestellt, wenn sie erlaubt und nicht-geboten ist. In der formalen deontischen Modallogik werden die zweckinvarianten Beziehungen zwischen gebotenen Normen untersucht.``

,,Du hattest am Anfang auch die Zeitmodi vergangen - zukünftig erwähnt``, begann Pieter, ,,nun hast Du die ontischen und deontischen Modalitäten auf die Zeitmodi zurückgeführt: daß etwas zukünftig sein wird bzw. sein soll. Müssen wir nicht noch einen Schritt weitergehen und die Wahrheitswerte zeitabhängig definieren? Wenn Ableitbarkeit im Kalkül oder Gewinnbarkeit im Dialog Wahrheitsbedingungen sind, dann gibt es nicht nur wahre oder falsche Urteile, sondern auch unentschiedene. Und wie Gödel und Turing bewiesen haben, gibt es sogar unentscheidbare Sätze.``

,,Deshalb haben die methodischen Konstruktivisten von vornherein auf die Beschränkungen der klassischen Logik verzichtet``, bestätigte Niels. ,,Das tertium non datur und die doppelte Verneinung sind nicht dialogdefinit.

Schreiten wir fort auf dem Weg zur Auszeichnung sicheren Wissens. Nach Grammatik und Logik kommen wir zur Mathematik. Auch sie zählt zu den Formalwissenschaften. In ihr geht es um den Beweis allgemeingültiger Formeln. Formeln stellen Gleichheitsbehauptungen zwischen Termen dar. Terme bestehen aus arithmetischen Verknüpfungen von Zahlen oder Variablen. Verknüpfungen lassen sich durch Rechenregeln definieren. Aber woher kommen die Zahlen?

,,Zahlen sind Äquivalenzklassen gleichmächtiger Mengen``, erwiderte Franz.

,,Und woher kommen die Mengen?`` bohrte Niels weiter.

,,Mengen sind die Extensionen der Prädikate``, kam prompt Franzens Antwort.

,,Die Menge der Gegenstände, auf die ein Prädikat zutrifft``, erläuterte Niels. ,,Damit wird Mengenlehre zu Semantik``, fuhr er fort. ,,Was Du aber unterschlagen hast, ist der Umstand, daß die Feststellung gleichmächtiger Mengen den Zahlbegriff bereits voraussetzt. Deine auf Russell zurückgehende Definition ist zirkulär.''

,,Warum können wir als Zahlen nicht einfach diejenigen Dinge auffassen, die den Peano-Axiomen genügen?`` wollte ein Schüler wissen.

,,Weil mit Axiomen der Begründungsweg willkürlich abgebrochen bzw. begonnen wird``, meldete Hilde sich zu Wort. ,,Russells Logizismus genauso wie Peanos Formalismus verkennen die Fundierung des Wissens in der Lebenspraxis. Beginnen wir doch schlicht mit dem Zählen. Strichlisten sind seit der Steinzeit überliefert. Nehmen wir also an, das Zählen gehöre zu den originären menschlichen Fähigkeiten und lasse sich nicht auf das logische Schließen zurückführen.``

,,Und wie kommen wir vom Zählen zu den Zahlen?`` fragte eine Schülerin.

,,Indem wir abstrahieren``, hob Niels an. ,,Das Abstrahieren ist ein methodisch nachvollziehbares Verfahren. Es besteht darin, verschiedene Dinge als äquivalent zu betrachten und sich fortan darauf zu beschränken, bezüglich der Äquivalenzrelation invariant zu reden. Das hört sich komplizierter an als es ist. Denn schließlich gehört es zu den Grundvermögen aller Lebewesen.

Immer wenn sich Organismen von ihrer Umwelt abgrenzen, sind sie gezwungen, den für ihr Überleben wichtigen Stoffwechsel mit ihrer Umgebung aufrechtzuerhalten. Damit reduzieren sie aber ihre Umwelt auf einige für sie wesentliche Eigenschaften. Dieses grundlegende biologische Verfahren der Invariantenbildung bzgl. eines Energie- und Stoffaustausches ist auch in der Sinnesphysiologie wirksam. Unsere Sinne abstrahieren ständig aus der Fülle der Sinneseindrücke Gestalten oder Muster, die unter den verschiedendsten Bedingungen als äquivalent erkannt werden müssen. Andernfalls könnten wir keine Gesichter oder Stimmen wiedererkennen. Oder denkt nur `mal daran, welch ein Verrechnungsaufwand dahintersteckt, euer Gesichtsfeld konstant zu halten, obwohl ihr den Kopf bewegt.

Die Erfolge in der Vereinheitlichung der physikalischen Theorien beruhen ebenfalls auf Abstraktion. Einstein führte mit dem Relativitätsprinzip eine Äquivalenzrelation zwischen Bezugssystemen ein, bzgl. der die physikalischen Sätze invariant sein sollten. Die Physiker übertrugen das Prinzip von der Gravitation auf die anderen Wechselwirkungen . Die physikalische Basis des Abstrahierens liegt im Bosonen-Austausch zwischen Fermionen. Auf der Ebene des Sozialsystems wird von der Reichhaltigkeit der Lebenswelt bzgl. der Steuerungsmedien abstrahiert. Aufgrund der Austauschbeziehung kann die Abstraktion auch umgekehrt gesehen werden. Durch die Sozialsysteme werden die Menschen auf wenige Eigenschaften reduziert. Diese durch Geld und Macht vermittelte Invariantenbildung hat Habermas Realabstraktion genannt. Der Ausdruck deutet an, daß es sich um einen realen Vorgang handelt.

Lorenzen rekonstruiert das Abstrahieren als logisches Verfahren. Er beginnt mit der Definition einer Äquivalenzrelation ($\sim $), die (1) reflexiv und (2) komparativ sein muß:

(1)
(2) $x \sim z \land y \sim z \rightarrow x \sim y $
Eine Aussageform A(z) heißt invariant bzgl. $\sim $, wenn gilt:

\begin{displaymath}
x \sim y \rightarrow (A(x) \leftrightarrow A(y)) \end{displaymath}

Mindestens zwei Äquivalenzrelationen kennt ihr bereits: die Gleichheit (=) und die Bijunktion ($\leftrightarrow $). Die Tragweite des Abstraktionsverfahrens möchte ich durch einige Beispiele erläutern:

Die philosophische Bedeutung des konstruktiven Abstraktionsverfahrens liegt in zweierlei. Zunächst ist es wichtig hervorzuheben, daß es beim Abstrahieren nicht um das Absehen-von etwas geht, wie es traditionell so gerne metaphorisch umschrieben wird. Vielmehr kommt es auf das Hinsehen-auf etwas an. Lebewesen abstrahieren aus ihrer Umwelt bzgl. des Stoffwechsels die Nährstoffe, die sie für ihr Überleben brauchen. Würden sie von etwas absehen, kämen sie nie zu einem Ende, da es potentiell unendlich viel wäre. Möglich wäre ein Abstrahieren durch Absehen nur bzgl. endlicher Gegenstandsbereiche. Aber auch dann wäre es noch extrem ineffizient. Zum anderen ist darauf hinzuweisen, daß mit dem Abstrahieren keine realen Objekte erzeugt werden. Es wird lediglich über bereits vorhandene Dinge bzgl. einer Äquivalenzrelation invariant geredet. Abstrakte Gegenstände werden bloß fingiert, sie existieren nur aufgrund ihres Bezuges zu realen Dingen. Natürlich kann man auch Abstraktionshierarchien bilden, z.B. Blut - Rot - Farbe oder Strich - Zählzeichen - Zahl. Analytische Wissenschaftstheoretiker halten Farbe oder Zahl für irreduzibel abstrakt, nur weil es sich um eine Meta-Abstraktion handelt.

Aber betrachten wir die Zahlabstraktion etwas genauer. Unsere Ausgangsfrage lautete: Woher kommen die Zahlen? Jetzt wissen wir: Zahlem werden abstrahiert aus Zählzeichen. Zählzeichen werden abstrahiert aus Strichlisten. Strichlisten werden hingeschrieben oder gelesen. Wie werden sie erzeugt? Vielleicht nach folgenden Regeln ($\Rightarrow $): (1) $\Rightarrow \mid $, (2) n $\Rightarrow n\mid $. D.h. es ist erlaubt, einen Strich hinzuschreiben. Wenn bereits n-Striche hingeschrieben wurden, darf ein weiterer hinzugefügt werden. So weit, so gut. Worin besteht denn dabei der erste Abstraktionsschritt? Die Strichliste $\mid \mid \mid \mid \mid $ z.B. stellt das Ergebnis des Zählens bis fünf dar. Statt Strichlisten könnte ich auch Steine oder Muscheln als Zählzeichen verwenden. Und indem ich Dinge zum Zählen verwende, abstrahiere ich sie zu Zählzeichen. Der erste Abstraktionsschritt meint also einen Aspekt des jeder Handlung zugrunde liegenden Handlungsschemas. Ein Handlungschema umfaßt Invarianten der Sensorik, der zentralen Verarbeitung und der Motorik. Dem Prinzip methodischer Ordnung folgend, können wir natürlich nicht die Ergebnisse empirischer Wissenschaften, wie der Hirnphysiologie, in Anspruch nehmen. Deshalb beginnt Lorenzen seine Rekonstruktion der Zahlabstraktion bei den Zählzeichen und verweist auf das lebenspraktische Faktum, daß schon Kinder mühelos zählen können. Setzen wir also die Abstraktion vom physikalisch-sinnlichen Signal zum philosophisch-sprachlichen Zeichen voraus. Wie kommen wir vom Zählzeichen zur Zahl? Bezüglich der Äquivalenzrelation der Gleichheit verschiedener Zeichen: $\mid \mid \mid \mid \mid = 5 = V = 101 (dual)$. Die Rechenregeln der Arithmetik sind dann invariant bzgl. dieser Gleichheit zu formulieren.

Wir sollten im Auge behalten, daß das Abstrahieren letztlich immer von konkreten Gegenständen ausgeht und daß mit dem Abstrahieren keine neuen Dinge erzeugt werden, sondern lediglich metasprachlich in neuer Weise über die Dinge gesprochen wird. Erst kommen die Zählzeichen, dann die Zahlen; erst die Worte, dann die Begriffe; erst die Elemente, dann die Mengen. In der axiomatischen Mengenlehre wird demgegenüber z.B. ein Auswahlaxiom für plausibel gehalten. D.h. es wird allen Ernstes davon ausgegangen, daß es zulässig sein soll, Elemente aus einer Menge auszuwählen, ohne sicher sein zu können, ob Elemente überhaupt vorhanden sind! Ebenso bleibt schleierhaft, was mit der Leer- und Allmenge gemeint sein mag. Auch die sogenannte Überabzählbarkeit der reellen Zahlen ist bloß eine Stilblüte des Mengenplatonismus ...

Aber kommen wir wieder zu den natürlichen Zahlen zurück. Wie geht es weiter? Über die ursprünglichen Motive des Zählens können wir nur spekulieren. Warum ritzten unsere Vorfahren Strichlisten in Knochen? In den frühen Hochkulturen war das Zählen dann ein etabliertes Handlungsschema der Statistiker und Händler. Es diente dem Eintreiben von Steuern und der Festlegung von Tauschwerten. Was motivierte nun den Übergang zu den ganzen Zahlen? Das Schuldenmachen! Die negativen Zahlen wurden nicht zufällig in Verbindung mit dem aufblühenden Handel in Norditalien der Renaissance eingeführt. Schulden sind quasi negatives Einkommen. Sie erleichern wesentlich die Geldgeschäfte per Kredit oder Wechsel. Es gibt aber auch ein innermathematisches Motiv zur Abstraktion negativer Zahlen. Die Addition natürlicher Zahlen liefert immer wieder eine natürliche Zahl. D.h. hinsichtlich der Addition sind die natürlichen Zahlen abgeschlossen. Aber was passiert, wenn wir die Addition umkehren und subtrahieren? Wie lautet das Ergebnis für m - n, wenn n größer m ist? Die Subtraktion sprengt offensichtlich den Rahmen. Adorno würde sagen: Der Immanenz ist die Transzendenz immanent. Im Modell der Ebenen und Krisen handelt es sich um ein mit der Subtraktion eingeführtes Strukturproblem. Wie lösen wir die Subtraktionskrise? Durch Abstraktion! Die mit der Subtraktion weitergeführte Differenzierung des Rechnens motiviert einen erweiterten Zusammenschluß. Wir definieren folgende Äquivalenzrelation ($\sim $) zwischen Paaren natürlicher Zahlen (m,n):

\begin{displaymath}
(m_1,n_1) \sim (m_2,n_2) := (m_2 + n_1 = m_1 + n_2) \end{displaymath}

Damit können z.B. 1, 0 und -1 durch folgende Äquivalenzklassen definiert werden:

1 := $(2,1) \sim (3,2) \sim (4,3) ... $
0 := $(1,1) \sim (2,2) \sim (3,3) ... $
-1 := $(0,1) \sim (1,2) \sim (2,3) ... $
Den aus der Vereinigung positiver und negativer Zahlen hervorgegangenen Zusammenschluß zu den ganzen Zahlen nennen die Mathematiker eine Gruppe. Ihr könnt euch sicher denken, wie es weitergeht. Das nächste Problem in der algebraischen Struktur tritt auf bei der Umkehrung der Multiplikation: Was ist das Ergebnis einer Division zweier ganzen Zahlen, wenn der Nenner gößer als der Zähler ist? Und was kommt heraus, wenn der Nenner 0 ist? Wir definieren eine Äquivalenzrelation ($\sim $) zwischen Paaren ganzer Zahlen (m,n):

\begin{displaymath}
(m_1/n_1) \sim (m_2/n_2) := (m_1 * n_2 = m_2 * n_1) \end{displaymath}

Die so definierten Äquivalenzklassen von Brüchen heißen rationale Zahlen:

\begin{displaymath}
1/3 \sim 2/6 \sim 4/12 \sim 8/24 ... \end{displaymath}

Das zweite Strukturproblem der Division durch 0 ist schwerwiegender. Denn wir können nicht einfach n/0 unendlich setzen, da unendlich überhaupt nicht existiert und die Division beliebig vieldeutig werden würde. Mathematische Objekte müssen aber kennzeichenbar, d.h. existent und eindeutig sein. Bei Termen n/0 handelt es sich überhaupt nicht um Zahlen, sondern bloß um Pseudokennzeichnungen . Pseudokennzeichnungen sind in der Sprache weit verbreitet und sollten von redlichen Philosophen und Wissenschaftlern gemieden werden.
Die Vereinigung zweier Gruppen nennen Mathematiker einen Körper. Die rationalen Zahlen bilden bzgl. der Addition und Multiplikation also einen Körper. Die nächsten Strukturprobleme will ich nur andeuten. Die Umkehrung des Potenzierens motiviert die Abstraktion irrationaler und imaginärer Zahlen. Bzgl. geeignet definierter Äquivalenzklassen lassen sich die rationalen und irrationalen Zahlen zu den reellen Zahlen und die reellen und imaginären Zahlen zu den komplexen Zahlen vereinigen ... ``

,,Was meint denn hier geeignet``, unterbrach ein Schüler.

,,Geeignet sind Äquivalenzklassen, die die algebraische Struktur erhalten, so daß weiter mit den gleichen Rechenregeln gearbeitet werden kann``, entgegnete Niels und kam zum Schluß der Veranstaltung. ,,Worauf ich noch hinweisen möchte, ist, daß wir im Fortgang des Auftretens und Lösens der mathematischen Strukturprobleme eine leicht nachvollziehbare Interpretation von Dialektik im Modell der Ebenen und Krisen erhalten haben. Das Abstrahieren als Lösungsmethode von Strukturproblemen bewährte sich nicht nur in der Mathematik, sondern auch in vielen anderen Wissenschaften, wie der Physik und Informatik sowie der Psychologie und Ökonomie. Das Konzept der Typenlogik Russells zur Unterscheidung unvereinbarer Sprachebenen und die Gruppentheorie zur Auszeichnung abgeschlossener Strukturen übertrug Paul Watzlawick auf die Psychotherapie. Und die Dialektik von Arbeit und Kapital läßt sich im Fortgang des Abstrahierens von Arbeits- und Tauschwerten rekonstruieren. Darüber solltet ihr euch ein paar eigene Gedanken machen. Dann bis morgen.''

,,Minus mal Minus ergibt Plus, weil nur so die algebraische Struktur der natürlichen Zahlen erhalten bleibt``, sinnierte Hilde. Eine Einsicht, die Niels ihr natürlich schon längst vermittelt hatte. Mit wissendem Lächeln schauten sie sich an. Auch Dialoge der konstruktiven Logik hatten sie geführt. Ihre Ahnungen waren nicht unbegründet geblieben. Im Überschwang des Hochgefühls sprang sie auf und fiel ihm beglückt um den Hals. Die Mitschüler kommentierten ihre Heftigkeit mit mildem Lächeln.

Auch Sofie beflügelte die gewonnene Einsicht: ,,Von den Einwort-Sätzen zur Abstraktion; so klar war mir der Weg von der Kindheit in die Wissenschaft bisher nicht gewesen``, ließ sie sich auf dem Weg in die Mensa vernehmen. ,,Das Abstrahieren als Lösungsmethode von Strukturproblemen in Psychologie und Ökonomie. Dazu fallen mir die Beziehungsfallen und der Klassenkampf ein.``

,,Der Erfolg des Wirtschaftens bagann mit der Abstraktion des Tauschwertes, die der Einführung des Geldes voranging``, hob Pieter an und erläuterte: ,,Nachdem, was wir gerade gehört haben, wird es sich bei der Tauschwertgleichheit um eine Äquivalenzrelation handeln. Und die Sätze der Markttheorie sind invariant bzgl. der Tauschwertgleichheit zu formulieren. Bestimmend für die Tauschwerte sind die Marktpreise. Nun haben Waren aber bekanntlich nicht nur einen Tauschwert, sondern auch einen Gebrauchswert für den Konsumenten und einen Arbeitswert für den Produzenten. Wie hängen diese drei Werte zusammen?``

,,Der Arbeitswert, die in einem Produkt steckende Arbeit, sollte sich auf die Energie zurückführen lassen``, entgegnete Hilde.

,,Und der Gebrauchswert steht mit dem praktischen Nutzen und dem sinnlichen Genuß in Beziehung``, ergänzte Sofie.

,,Womit wir wieder bei den drei Weltbezügen wären``, fiel Hilde ein.

,,Du meinst, Produktion, Markt und Konsumtion entspringen der objektiven-, sozialen- und subjektiven Welt?`` zweifelte Pieter und gab zu bedenken: ,,Aus den Humanities erinnere ich eine Interpretation des dialektischen Dreischritts durch Erzeugung, Austausch und Ansammlung. Dieses Schema reicht von der physikalischen Energie bis hin zur politischen Gewaltenteilung. Die Energie wechselwirkt in Bosonen und speichert sich in Fermionen. Die gesetzgebende Gewalt des Parlaments (Legislative) tauscht sich aus in der Verwaltung (Executive) und sammelt sich an in der Urteilspraxis der Gerichte (Judikative).`` In der Mensa angekommen, griff Pieter sich ein Flugblatt. Während des Essens sammelten sie auf der leeren Rückseite passende Stichworte.

Franz schaute dem Treiben belustigt zu. ,,Was versprecht ihr euch eigentlich von dem name dropping? Das ist doch finsterste Hegel'sche Begriffsgymnastik``, spöttelte er.

,,Du scheinst die Weisheit ja mit Löffeln gegessen zu haben``, brachte er Sofie gegen sich auf. ,,Wenn es von der Energie in Wellen und Teilchen bis hin zur Freiheit in Gerechtigkeit und Wahrheit keinen Zusammenhang gäbe, widerspräche das der Evolutionstheorie.``

,,Ja, ja, alles hängt irgendwie mit allem zusammen und der Kosmos ist nur eine Blase im Quantenschaum. Esoterik und science fiction sind das eine, Physik und Biologie das andere. Mich fasziniert die Evolutionstheorie gleichermaßen. Dennoch sollte man zwischen empirisch bestätigter Wissenschaft und nebulöser Spekulation unterscheiden ... ``

,,Nur die Fülle führt zur Klarheit. Und im Abgrund wohnt die Wahrheit``, gab Sofie Schiller zum besten.

,,Willkommen in der Märchenstunde``, fuhr Franz ironisch fort. Er schaute Sofie offen an. ,,Zu welchem Problem soll das name dropping denn eine Lösung sein?``

,,Sei doch mal locker, entspann Dich``, fuhr Sofie mit ironischem Unterton fort. ,,Du siehst ja den Wald nicht mehr vor lauter Bäumen. Leben heißt eben nicht nur Problemlösen. Es geht auch um die Freude beim Spielen und Phantasieren ... ``

,,Wenn ich mich recht erinnere``, lenkte Franz charmant lächelnd ein, ,,ging es euch ursprünglich um Strukturprobleme im Modell der Ebenen und Krisen ... `` Sofie beschlich der Verdacht, daß Franz nur provoziert hatte, um ins Gespräch zu kommen. Sie hätte nicht auf den Inhalt, sondern auf den Gebrauch seiner Äußerung eingehen sollen ... ,,Welcher Zusammenhang besteht zwischen Arbeits-, Tausch- und Gebrauchswert? Wie lassen sich Beziehungsfallen sprengen? Das sind ganz konkrete Fragen, die man nicht durch name dropping löst. Das ist natürlich einfacher. Wenn Philosophen nicht weiter wissen, was sehr häufig der Fall ist, flüchten sie in die Rhetorik und überlassen sich dem freien Assoziieren ... ``

,,Du hast selbstredend bereits die richtigen Antworten parat?`` unterbrach Hilde.

,,Selbstredend``, wiederholte Franz und lächelte ihr zu. ,,Die kommen einer Problemlösung jedenfalls näher. Den Arbeitswert bestimmen die Energie-, Material-, Lohnkosten und Sozialabgaben. Der Gebrauchswert folgt der subjektiven Wertschätzung. Und den Tauschwert bestimmt der Marktpreis. Gleich einem Regelmechanismus paßt er Produkt- und Nutzwert einander an.``

,,Soweit die idealtypische Theorie``, wandte Niels ein. ,,Ich werde das Thema bei der Behandlung des Ideationsverfahrens aufgreifen.``

,,Dein naiv positivistischer Ansatz``, hob Pieter an, ,,bleibt doch bloß an der Oberfläche. Du übervereinfachst aus der hedonistischen Perspektive des Yuppies. Was interessieren mich die in der Produktion verschwendeten Ressourcen?`` fragte er ironisch. ,,Könnte es nicht sein, daß das Wirtschaften umweltverträglicher wäre, wenn wir nicht nur die Geldwerte, sondern auch das unterliegende materielle Substrat betrachteten? Du verkennst den Umstand, daß die Seinsebenen faktisch auseinander hervorgegangen sind. Mit den Wertabstraktionen ist das kritisch zu rekonstruieren. Der Zusammenhang zwischen der Schuldenwirtschaft und den negativen Zahlen spricht doch wohl für sich.``

Den Nachmittag widmeten die Schüler ihren Hausarbeiten. Sofie hatte sich entschieden, anhand einiger Bücher Paul Watzlawicks die Bedeutung der Kommunikation in der Psychotherapie zu behandeln. In Nachwirkung des Magischen Theaters bedachte Hilde den Zusammenhang zwischen Kunst und Wissenschaft. Und Pieter arbeitete die Wertabstraktionen heraus. Obwohl die Arbeiten auch später noch abgegeben werden konnten, saßen die drei bis tief in die Nacht zusammen; lasen, diskutierten und schrieben.

Unterdessen sichtete Niels mal wieder seine e-mails. Das subject Teleportation machte ihn neugierig. Er klickte die Mail an und wurde nach Österreich verbunden. Das is' ja `n Knüller, dachte er. Die instantane Übertragung eines Photonen-Zustandes ist gelungen! Damit war wieder eine der verblüffenden quantenmechanischen Hypothesen bestätigt worden. Er lehnte sich vor dem Bildschirm zurück. Gemessen an den Myriaden von Atomzuständen in einem Menschen war das nur ein winziger Schritt. Aber im Prinzip war das Beamen geglückt ...

,,Nachdem wir auf dem Weg zur Auszeichnung sicheren Wissens die Anfänge der Formalwissenschaften rekonstruierten``, leitete Niels die nächste Sitzung ein, ,,geht es heute darum, mit den Realwissenschaften zu beginnen. In ihnen geht es nicht nur um das theoretische Argumentieren mit Formeln, sondern um das praktische Handhaben von Realien. Das Sprachhandeln kann dafür nicht hinreichend sein. Wesentlich zur Gewinnung von empirischem Wissen ist das Tathandeln. Nach der Sprachpraxis des Miteinanderredens ist die Handwerkspraxis in den Werkstätten zu rekonstruieren. Im Unterschied zur Sprache, die der intersubjektiven Kontrolle bedarf, sind es beim Werken die Eigenheiten der Dinge selbst, die eine Erfolgskontrolle gestatten. Geräte funktionieren zweckmäßig - oder eben nicht. Gleichwohl bedarf natürlich die wissenschaftliche Redlichkeit der ständigen Überprüfung durch die scientific community. Unseren Vorfahren gelang z.B. der Bau von Mammutfallen, das Fertigen von Speeren, das Aushöhlen von Einbäumen so gut, daß sie überlebten und sich behaupten konnten. Bis heute sind wir lebenspraktisch an die Periodizität von Tag und Nacht gewöhnt. Neben der Bestimmung von Dauern, z.B. durch das Zählen der Sonnenaufgänge oder der Mondzyklen, lernten unsere Vorfahren auch die Abschätzung von Entfernungen, z.B. durch Vergleich mit Fußlängen oder Wurfweiten. Den Realwissenschaften ging also eine langjährige Meßpraxis zur Bestimmung von Dauern, Entfernungen und Gewichten voran. Sie gilt es zu rekonstruieren. Denn im Selbstverständnis der methodischen Konstruktivisten ist Wissenschaft bloß hochstilisierte Lebenspraxis. Schauen wir zu, was darunter zu verstehen ist.

Im Gegensatz zur unmittelbar über Leben und Tod entscheidenden Erfolgskontrolle im Lebensalltag unserer Vorfahren, entstand die Wissenschaft im Schutz hoher Stadtmauern der frühen Hochkulturen, z.B. mit der Beobachtung des Sternenhimmels oder der Ausmessung von Baugelände. Neben kontrollierter Beobachtung und Messung ist seit Galilei das Experiment zentraler Bestandteil der Erfolgskontrolle empirischer Hypothesen. Was es zu rekonstruieren gilt, ist also die Physik als quantitative Experimentalwissenschaft. Quantitativ ist das Messen durch Vergleich von Entfernungen, Dauern und Gewichten mit Standard-Einheiten. Das Messen liefert also dimensionslose Verhältniszahlen. Z.B. wie häufig ein Fuß als Wegeinheit in der Entfernung zum Tempel enthalten ist. In der Schule habt ihr sicher gelernt, daß physikalische Größen immer aus einem Zahlenwert und einer Maßeinheit bestehen. Genaugenommen ist das nicht ganz richtig. Es soll lediglich daran erinnern, welche Einheit der Messung zugrunde gelegt wurde. In der Meßpraxis entstand übrigens ein Einheitenproblem, das als Inkommensurabilitätsproblem in die Wissenschaftsgeschichte einging. Was ist zu tun, wenn z.B. die Zahl der Wegeinheiten nicht ganzzahlig in der zu messenden Entfernung aufgeht? Es sind die rationalen Zahlen zu abstrahieren oder die Einheiten zu verkleinern. Bereits in der Antike trat zudem das Problem auf, daß Entfernungen sogar irrational sein konnten. Ich will hier die mathematische Fragestellung nicht weiter vertiefen, aber auf den Euklidischen Algorithmus verweisen, mit dem die Kommensurabilität zweier Zahlen durch Bestimmung des größten gemeinsamen Teilers gelingt.

Kommen wir zum Experiment. Es dient der Erfolgskontrolle und muß reproduzierbar sein. Die Reproduzierbarkeit ist eine sehr starke Forderung und setzt viel Geschick und Erfindungsreichtum beim Experimentieren voraus. Bei den heutigen Experimenten in der Hochenergiephysik z.B. sind jeweils weltweit mehrere hundert Wissenschaftler und eine Vielzahl von Ingenieuren und Technikern beteiligt. Aus dem Zwang zur weltweiten Teamarbeit heraus ist ja auch das WWW entstanden. Ich komme zum Grundproblem einer methodischen Rekonstruktion der Physik. Das Experiment dient der Bestätigung einer Hypothese, z.B. der Voraussage, daß die Fallbeschleunigung unabhängig vom Gewicht des fallenden Steins ist. Galilei übertrug das Problem auf die schiefe Ebene. Die so meßbaren Falldauern bestimmte er in Einheiten seines Pulses oder indem er sie mit der Wasserstandsänderung in einem Behälter verglich, aus dem er zugleich kontinuierlich Wasser auslaufen ließ. Man muß sich zu helfen wissen. Ich glaube, ihr erahnt das grundsätzliche Meßproblem. Wie kann ich die Konstanz und Invarianz der Maßeinheiten garantieren, ohne bereits auf wissenschaftliche Hypothesen zurückgreifen zu können? Die Antwort der Konstruktivisten lautet: durch Ideation.``

,,Die Antwort der Analytiker lautet: durch selbstkonsistente Iteration``, warf Franz ein.

,,Um der methodischen Ordnung zu entgehen, wechseln die Analytiker sogar ins Lager der Dialektiker``, kommentierte Niels. ,,Aber fahren wir fort. Wie kommen wir zur Auszeichnung einer geraden Linie oder ebenen Fläche als Basis der Geometrie? Wie konstruieren wir eine gleichförmige Bewegung zur Grundlegung der Chronometrie? Im Schulunterricht werden Raum und Zeit einfach als Grundgrößen unterstellt. Wissenschaftstheoretiker können sich diese Nachlässigkeit nicht erlauben. Lorenzen hat nun ein Ideationsverfahren vorgeschlagen, daß aus zwei Schritten besteht:

1.
Es werden Homogenitätsprinzipien für reale Ecken, Kanten und Seiten von Dingen formuliert.
2.
Die Ideation von einer realen Seite eines Dinges zur idealen Ebene eines Körpers erfolgt durch logische Ableitung aus dem Homogenitätsprinzip.
Es ist wichtig hervorzuheben, daß es sich beim Homogenitätsprinzip um eine Norm handelt. Zur Auszeichnung einer Ebene wird z.B. die Ununterscheidbarkeit aller Bereiche einer Seite gefordert. Diese Norm wird z.B. realisiert durch das Dreiplattenverfahren des aufeinander Abschleifens je zweier Steine. Zwei Seiten werden dadurch hinsichtlich ihres Passens durch Verschiebung aufeinander ununterscheidbar. Wesentlich beim Ideieren ist das Realisierungsverfahren. Ideale existieren nur bzgl. einer Realisierung. Genau wie beim Abstrahieren werden auch beim Ideieren keine neuen Gegenstände erzeugt. Es wird lediglich so getan, als ob die (ideale) Norm (real) erfüllt worden sei. In logischer Formulierung:

\begin{displaymath}
(H(r) \rightarrow A(r)) \Rightarrow (A(r) \Rightarrow A(i)) \end{displaymath}

H(r) steht für ein Homogenitätsprinzip bzgl. eines realen Terms r. A(i) meint eine Aussageform bzgl. eines idealen Terms i. Reale Terme, wie Ecken und Kanten, sind Bestandteil der Handwerkspraxis. Ideale Terme, wie Punkte und Geraden, sind Ausdrücke der Geometrie. Die Ideation ($\Rightarrow $) von Aussageformen mit realen Termen zu Aussageformen mit idealen Termen kann vollzogen werden, wenn die Aussageform logisch aus dem Homogenitätsprinzip folgt.

Die Erlanger haben das Ideationsverfahren mit Erfolg zur methodisch geordneten Auszeichnung von Strecken, Dauern, Massen und Ladungen angewandt. Die Details können ihrer Protophysik entnommen werden. Ich will hier nur noch anmerken, daß auch die Bestimmung von Dauern durch uhrenfreien Vergleich der Gleichförmigkeit von Bewegungen möglich ist. Neben Raum und Zeit gehören zur Realisierung von Experimenten natürlich noch eine Fülle weiterer Normen. Die quantitative Reproduzierbarkeit als Leitforderung des Experimentierens jedenfalls ist allein technisch, d.h. vorwissenschaftlich erfüllbar. Der Physik als Experimentalwissenschaft gehen nicht nur Sprachpraxis und Mathematik voran, sondern auch Handwerk und Technik. Das ist der Grund, warum die Konstruktivisten die Physik lediglich als Hilfsdisziplin der Ingenieurwissenschaften einstufen.``

,,Also ...``, begann ein Schüler mit Bedacht einen Einwand. ,,Du hast Dich bemüht, den Ansatz der Konstruktivisten als Mittelweg zwischen Formalismus und Realismus bzw. Idealismus und Materialismus darzustellen. Du sprachst in einem Atemzug von der Zweckmäßigkeit idealer Normen und von den Eigenheiten realer Dinge. Das paßt nicht zusammen. Hinsichtlich der Zweckmäßigkeit können Handlungen natürlich scheitern oder gelingen. Das ist aber eine Frage des Pragmatismus und nicht des Realismus. Was soll darüber hinaus ein Kriterium für Realien sein?``

,,Zu Realien werden die schlicht vorgefundenen Dinge, indem wir sie bearbeiten, Hand anlegen. Betrachten wir als Beispiel einen Tisch. Der Weg seiner Herstellung führt aus dem Wald über verschiedene Transportwege, das Sägewerk, die Möbelfabrik und das Möbelgeschäft zum Nutznießer in die Wohnung. Den Wald finden wir zunächst einfach vor. Egal ob wir die Bäume als Schattenspender nutzen oder roden, um Möbel herzustellen. Es gehört zu den Eigenheiten von Holz, daß es nicht lichtdurchlässig ist und schwimmt, so daß wir als Transportwege auch Flüsse wählen können. Ein durch Blitzschlag getroffener Baum falle ins Wasser und werde mit der Strömung fortgerissen. Das Holz des Baumes ist in beiden Fällen leichter als Wasser, egal ob wir den Baum rodeten oder ein Unwetter ihn niederriß. Mit Eigenheiten meinte ich die quasi zweckinvarianten Eigenschaften des Holzes. Und daß wir Rohstoffe wie Holz einfach vorfinden, ist eine Erfahrungstatsache der Lebenspraxis.``

,,Den common sense des Alltags will ich hier gar nicht in Frage stellen``, hob Franz an. ,,Was mich am Konstruktivismus aber stört, ist, daß er mit den Prototheorien ein gesichertes vorwissenschaftliches Wissen meint auszeichnen zu können. Das ist ein Rückfall in den Apriorismus Kants. Der konstruktivistische Wissensfanatismus ist unvereinbar mit dem Fallibilismus und Relativismus des Wissens.``

,,Nun, die Fehlbarkeit des Alltags und der Wissenschaften wird gar nicht geleugnet``, erwiderte Niels. ,,Als sicher erweisen sich lediglich methodisch geordnete Verfahren hinsichtlich ihrer Zweckmäßigkeit. Wenn wir uns auf den Zweck der Physik als einer quantitativen Experimentalwissenschaft geeinigt haben, kommen wir nicht um eine normative Bestimmung des Experimemtieraufbaus herum. Empirisch am Ausgang eines Experiments ist lediglich die Quantität einer Meßgröße; ihre Qualität ist normativ und kann mit den Mitteln des Experiments natürlich nicht in Zweifel gezogen werden. Normative Gewißheit und empirische Fehlbarkeit ergänzen einander, sie widersprechen sich nicht.

Wenn Du mit Relativismus darauf anspielst, daß die Euklidische Geometrie der Handwerkspraxis nicht als Grundlage der Relativitätstheorie taugt, kann ich an dieser Stelle nur darauf verweisen, daß die Euklidische Geometrie im Meßgerätebau sogar zwingend ist. Den Beweis dazu kann ich Dir `raussuchen.``

,,Was mir noch nicht plausibel erscheint``, meldete sich der sprachphilosophierende Schüler zu Wort, ,,ist die Unterscheidung von Sprach- und Tathandeln. Insofern man zu Handlungen auffordern können muß, gibt es überhaupt keine sprachfreien Handlungen.``

,,Das mögen weltfremde Sprachphilosophen so sehen``, entgegnete Niels, ,,die selten Hand angelegt, im stillen Kämmerlein gebastelt oder Kinder beobachtet haben. Kinder handeln häufig schlicht durch Nachahmung, nicht nach Aufforderung. Gemessen an der Lebenspraxis ist eine Definition des Handelns in Abhängigkeit einer Aufforderung einfach unangemessen und viel zu einschränkend.

Bevor wir in der letzten Stunde auf Ethik, Sozial- und Naturphilosophie einzugehen haben, möchte ich abschließend die Lebenspraxen benennen, aus denen neben Mathematik und Physik Informatik, Biologie und Soziologie hochstilisiert werden können:

,,Nun, Handwerk und Technik, kurz die Zweckrationalität des Pragmatismus, will ich gar nicht in Zweifel ziehen``, schalte der Sprachphilosoph sich wieder ein. ,,Aber dann schon konsequent! Deine zweckinvarianten Eigenheiten der Dinge; was bleibt von ihnen ohne sprachlichen Ausdruck?``

,,Na, das meiste bleibt! Daß wir Dinge nur sprachlich vermitteln können, heißt nicht, daß es nur sprachliche Dinge gibt!`` erwiderte Niels erheitert. ,,Das gleiche gilt für das Tathandeln sowie für Sinne und Motorik. Die Welt existiert nicht nur, weil wir sie bearbeiten oder sinnnlich-motorisch erfahren. Gleichwohl sind uns natürlich nur Aspekte des Seins zugänglich; nämlich nur insoweit wie wir aus den Evolutionsbedingungen auf der Erde heraus in der Lage sind zu extrapolieren.``

Auch Franz erhob erneut das Wort: ,,Aus Deiner Gegenüberstellung von normativer Gewißheit und empirischer Fehlbarkeit könnte ein tragfähiger Kompromiß hervorgehen.`` Das klang ungewöhnlich versöhnlich, dachte Sofie. ,,Im Gegensatz zu den Dialektikern wissen die Konstruktivisten wenigstens wovon sie reden. Und im Gegensatz zu den Analytikern orientieren sie sich an der Lebenspraxis. Greifen wir also das Beispiel des Marktes auf. Du hattest von einem Idealtypus gesprochen. Der Markt der Ökonomen ist in der Tat ein Ideal im Sinne der Konstruktivisten. Aber wie sieht es mit dem Ideal der Gesellschaft aus? Hat sein Erstreben im Faschismus und Kommunismus nicht unsägliches Leid über die Menschen gebracht? Was können wir dagegen tun, daß Politiker und Ideologen die Gewißheit der Ideale nicht mit der Fehlbarkeit der Realien verwechseln?``

,,Gegen Dummheit ist kein Kraut gewachsen``, räumte Niels ein. ,,Auch nicht gegen das Opium der Ideale, wenn sie keinem Realisierungsverfahren genügen, wie in den Religionen und Ideologien. Bis auf weiteres haben wir nichts besseres als Toleranz und Demokratie. Das Erstreben der idealen Sprechsituation ist ja Grundlage der res publica. Die Ideale der Freiheit, Gleichheit, Klarheit und Wahrheit bleiben die Richtschnur des Handelns, nicht eigensüchtige Machtpolitik durch Volksverführung und Ausbeutung.``

,,Mir ist noch ein weiterer Punkt wichtig``, begann Pieter. ,,Wenn ich Dich richtig verstanden habe, dann ist das Messen im Kern lediglich ein Vergleichen. D.h. was meßbar ist, das wirkt nicht nur im Meßgerät, sondern auch in den Realien. Kurz: was meßbar ist, das existiert bzw. nach Transposition: was nicht existiert, das ist nicht meßbar. Da die Meßgeräte aus den gleichen Stoffen bestehen wie die vorgefundenen Dinge, ist das auch nicht verwunderlich. Denn die Realien, seien es nun Konsumgüter oder Meßgeräte, werden lediglich durch Umwandlung aus den Naturressourcen gewonnen, nicht erzeugt. Die Zwecke bilden das Ziel der Umwandlung; sind aber nicht der Stoff. Insofern ist die Meßbarkeit ein Existenzbeweis für Realien.``

,,Auch nach meinem Dafürhalten kann der methodische Konstruktivismus ein analytischer Materialismus sein``, entgegnete Niels. ,,Das ist eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Dialektikern und Konstruktivisten.``

Hilde, Sofie und Pieter waren am Nachmittag derart von ihren Hausarbeiten in Anspruch genommen, daß sie ein weiteres Mal die zweite Heimat versäumten.