Wie mit Gaußens Stimme, fing Hilde behutsam zu sprechen an.
,,Stell Dir vor, Du willst die Gleichung im Bereich
der rationalen Zahlen lösen. Da irrational ist, hast Du den
rationalen Zahlenbereich zu erweitern. Nimm weiter an, Du hast die
Gleichung im reellen Zahlenbereich zu lösen. Da
nicht reell ist, hast Du den reellen Zahlenbereich zu
erweitern. Eine Zahlenbereichserweiterung erfolgt durch Abstraktion
unter Erhalt der algebraischen Struktur ... ``
,,Erst die Quantenkommutatoren sprengen den Rahmen``, rief
Hilde hochfahrend aus. Verwirrt schaute sie umher. Vertraute Stimmen
wehten herüber. Alberto und Sofie saßen bereits auf der Terrasse.
Hilde ließ sich zurückfallen und schaute durchs Fenster auf einen
wolkenverhangenen Himmel.
Kurz darauf liefen die Mädels zum Anleger des Ausflugsdampfers nach
Potsdam.
Von dort ging es weiter nach
Wannsee
und anschließend mit der S-Bahn bis
Bahnhof Zoo.
Der Tiergarten lud zum
Spazierengehen
ein. Durchs Brandenburger Tor
sollte es weiter unter den Linden zur
Humboldt Universität
und dem Pergamon Museum
gehen. Ermüdet vom weiten Weg erstiegen sie die Treppen des Museums und
gelangten in eine große Halle. Vor dem
Pergamonaltar ließen sie sich auf eine Bank fallen. Staunend gewahrten
sie die Plastiken. Eine Weile saßen die beiden einfach nur da. In der
Halle herrschte reges Kommen und Gehen.
,,Der Kampf der Götter und Giganten. Der Sieg des Geistes über die
Natur ... ``, hob Hilde an.
,,Warum steht der Altar eigentlich nicht in Griechenland?`` wunderte
sich Sofie.
,,Wie Niels uns erzählte``, entgegnete Hilde, ,,überhöhte
er die zweite deutsche Reichsgründung ins ... ``
,,Ja, schon``, beharrte Sofie. ,,Die Deutschen Reiche sind doch
längst Geschichte! Anscheinend leben wir noch immer im
Kolonialismus.``
,,Wie dem auch sei``, wiegelte Hilde ab und wollte noch `was sagen,
aber eine merkwürdige Gestalt erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie befand sich
an der rechten Seite des Altars. Der Mann sah aus wie - ja, wie ein
altgriechischer Gelehrter. Seinen Gesten nach sprach er mit einem jüngeren
Mann, der bei ihm stand. Hilde fühlte sich unwiderstehlich zu den beiden
hingezogen. Unvermittelt erhob sie sich. Verwundert schaute Sofie auf und
folgte ihr. Jetzt sah auch sie den bärtigen Philosophen in der Toga. Sie
bildete einen auffallenden Kontrast zur Lederkleidung des Jüngeren.
Neugierig traten die Mädchen hinzu.
,,... sie verkörpern die Tages- und Nachtgestirne. Die
Morgenröte Eos,
Helios, der Sonnengott, und die
Mondgöttin Selene. Alle drei sind Enkel des Uranos``, hörten
sie den Gelehrten verhalten erläutern und blickten zum Fries.
,,Eos und Selene werden von Pferd und Maultier getragen. Helios
steht in seinem Gespann. Der Zug der Tiere symbolisiert den Lauf der
Zeit - vom Sonnenaufgang - zum Sonnenuntergang.`` Der Philosoph
wies auf einen Giganten, der sich breitbeinig vor den Pferden des Helios
aufgebaut hatte. ,,Helios soll an der Weiterfahrt gehindert werden.
Und das Reittier der Selene scheint den Anschluß verloren zu
haben.``
,,Die Giganten bringen den gleichmäßigen Gang der Zeit
durcheinander``, vernahmen die Mädels die Stimme des Jüngeren.
,,Ganz recht``, erwiderte der Alte. ,,Einer romantischen Anschauung
stellt sich die Welt primär als unmittelbar wahrnehmbare
äußere Erscheinung dar. Die klassische Anschauung dagegen
nimmt die Welt primär als innere Form wahr.``
Sofies Blick sog die wohlgestalteten Körper der Götter und Giganten auf.
Ihr Gefallen drängte zur Äußerung: ,,Hier geht die Sinnenfreude
an der äußeren Erscheinung mit dem Bedenken der inneren Form
einher.``
Der Jüngere schaute sie einen Moment lang eindringlich an: ,,Welch'
Geschick vergönnt mir die Sinnenfreude Deiner Wohlgestalt?``
Sofie verschlug es die Sprache. Warm wallte es in ihr auf und rötete
ihre Wangen. ,,Es ist die innere Form klassischer
Anschauung``, löste Hilde die Verlegenheit. ,,Entstammst Du auch einem
Philosophiekurs?``
,,Ich heiße Chris``, wandte sich der Jüngere ihr zu. ,,Das ist
Phaidros. Er
unterweist mich in der
Kunst, ein Motorrad zu warten.``
Der Gelehrte nickte leicht und schaute sie freundlich an.
,,Ich heiße Hilde und lebe in Sofies Welt.``
,,Ah, wir teilen die Welt der Weisheit``, sagte Phaidros.
In Sofie löste sich die Anspannung. ,,Was ist denn so kunstvoll am
Warten eines Motorrades?``
,,Du scheinst eine romantische Ader zu haben``, erwiderte
Phaidros. ,,Die klassische Anschauung enthüllt im Bauplan eines
Motorrades eine ungeheure Fülle innerer Form.``
,,Motorrad fahren stelle ich mir romantischer vor als Motorrad
warten``, bestätigte Sofie. Chris lächelte ihr vielsagend zu.
,,Die äußere Erscheinung ist real, die innere Form imaginär``,
entfuhr es Hilde als ihr der Traum wieder in den Sinn kam.
,,So sieht es der Romantiker``, entgegnete Phaidros. ,,Der
Klassiker sieht hinter der Wirklichkeit die Fülle der
Möglichkeiten ... ``
Hilde schaute ihn verwundert an. Ihr erschloß sich ein neuer Zusammenhang.
,,Das ist es!`` rief sie begeistert. ,,Wirklich zu möglich
wie reell zu imaginär. Quantenvorgänge werden durch imaginäre
Zahlen beschrieben. Meßresultate sind real. Wirklich ist die
wahrscheinlichste Möglichkeit.`` Sie mußte an den Zweizeiler
denken: Nur die Fülle führt zur Klarheit ...
,,Das Betragsquadrat einer imaginären Zahl ist reell``, ergänzte
Chris.
,,Nun sind wir vom Gang der Zeit in die imaginäre Welt des Möglichen
gelangt``, kam Sofie ins Grübeln. ,,Die Giganten dehnen das
Zeitmaß der Götter wie die Schwere das Raum-Zeit-Kontinuum.``
,,So folgen wir denn weiter dem Kampf der Götter und Giganten``,
schlug Phaidros vor und wandte sich dem Fries zu.
Cassiel
und Damiel
hatten sich aus dem Himmel über Berlin herabgeschwungen und
traten vor den Pergamonaltar. Gern lauschten sie den Gedanken der
Menschen in ihren stillen Betrachtungen.
Hilde folgte den Ausführungen Phaidros' nur mit geteilter Aufmerksamkeit.
,,Kontinuierlich-deterministische Theorien beschrieben, was wirklich
ist``, ging es ihr durch den Kopf. ,,Diskontinuierlich-statistische
Theorien beschrieben, was möglich ist ... ``
Sofies Blick ertastete die wohlgeformten Konturen der Plastiken.
,,Wenn sie bloß nicht so schlecht erhalten geblieben wären``,
dachte sie. Hinter den Körperkonturen meinte sie den Lebenspuls zu spüren.
Unwillkürlich trat sie näher. Wie gerne wäre sie in Bergama um den
ursprünglichen Altar gewandelt ...
Cassiel und Damiel lächelten sich zu. Die vier hier waren von
ihrer Art.
,,... war nicht die Zeit genaugenommen auch imaginär?`` fragte
sich Hilde versonnen. ,,Durch den Raum kann man frei herumwandeln. Er ist
real. Aber die Zeit?``
,,Da hast Du ganz recht``, hob Cassiel an. Hilde wandte sich um. Der
ruhige Blick eines Engels nahm sie gefangen. ,,Die Zeitachse des
Minkowski-Raums ist imaginär.``
,,Und was ist der Grund dafür?`` las Cassiel ihre Gedanken.
,,Es gibt nur auslaufende Wellen.``
,,Wie bitte?``
,,Denk doch `mal an einen ins Wasser fallenden Stein. Hast Du schon
`mal eine am Stein einlaufende Welle beobachtet?``
Hilde war verblüfft. So etwas gab es nicht. Wieso hatte sie noch
nie daran gedacht? Vor ihrem inneren Auge explodierte der Kosmos.
,,Alle Wellen verlaufen synchron zur auslaufenden Energiewelle des
Urblitzes``, rief sie begeistert ihre Eingebung in die weite Halle.
Nur wenige merkten auf.
Als das Kind Kind war,
warf es einen Stock als Lanze gegen den Baum.
Und sie zittert da heute noch
sang Damiel ihr ins Ohr.
,,Ja, wirklich ist nur die gerichtete Zeit. Die umkehrbare
Zeit ist imaginär``, dachte Hilde und schaute versonnen den Engeln
nach. Sie nickten ihr freundlich zu und gingen ihres Weges.
Die vier verließen das Museum. Sofie schwang sich zu Chris auf den
Soziussitz und brauste davon. Hilde und Phaidros wählten den
Uferweg an der Spree in Richtung Charlottenburg. Der Sonne entgegen
ließen sie die Museumsinsel hinter sich. Einige Zeit hingen sie still
ihren Betrachtungen nach. Am
Reichstagsgebäude
vorbei schritten sie in sanfter Rechtskurve zwischen Spree und Tiergarten
voran. ,,Uns hat wohl die Liebe zur Weisheit am Pergamonaltar
zusammengeführt``, unterbrach Hilde Phaidros in seinen Gedanken.
Wohlwollend betrachtete er sie; sagte aber nichts. ,,Der Blick für
die innere Form hinter den Erscheinungen ... ``
,,Komm``, rief er unvermittelt, ergriff ihre Hand und sprang die
Uferböschung hinunter. Lachend hielten sie am Wasser inne. Einen Moment
blickte er ihr ruhig in die Augen. Er hielt einen Umhang in der Hand.
,,Würdest Du den für mich anlegen?``
Hilde war überrumpelt und zögerte einen Moment. ,,Warum nicht``,
sagte sie lächelnd, streifte Jeans und T-Shirt ab und hüllte sich in das
Gewand.
Am Abend des nächsten Tages trafen die beiden Gewänderten im Garten des
Schlosses Sophie Charlottes auf die
Ledernen. Sofie und Chris lagen ausgestreckt im Schatten einer mächtigen
Baumkrone. Der Herbst kündete sich an und ließ Hilde und Phaidros
leicht frösteln, so daß sie dem wärmenden Licht zustrebten. ,,Kein
Schatten ohne Licht``, dachte Hilde und schaute Sofie aufmerksam an.
Die Lederkluft hatte sie verändert und gab ihrem weichen Wesen eine
harte Schale. Chris und Sofie waren derart ineinander vertieft, daß
Phaidros und Hilde sich in ihrer Nähe unbemerkt hatten niederlassen
können. Verhalten wehten Chris' Worte herüber: Was einen guten
Mechaniker - oder Mathematiker - von einem schlechten unterscheidet,
ist die Fähigkeit, auf der Grundlage der Qualität die brauchbaren
Tatsachen aus der Vielzahl der überflüssigen auszusondern. Es muß ihm
etwas daran liegen! ... Der echte Zug des Wissens ist nichts Statisches,
das man anhalten und in Teile zerlegen kann. Er ist immer in Fahrt. Auf
einem Gleis namens Qualität. Und die Lok und die 120 Güterwagen
fahren nie woanders hin, als wo das Gleis der Qualität sie hinführt;
und die romantische Qualität, die Leitkante der Lok, führt sie das
Gleis entlang. ... Die Leitkante enthält all die unendlich zahlreichen
Möglichkeiten der Zukunft. Sie enthält die gesamte Geschichte der
Vergangenheit.
,,Qualität geht vor Quantität``, hörte Hilde Sofie antworten und
sah, wie sie ihren Kopf in seinen Schoß schmiegte als er sich hochsetzte und
an den Stamm lehnte.
Die Beat-Generation
bezeichnete das Unvermögen, Qualität wahrzunehmen, als squareness,
fuhr Chris fort und spielte sanft mit Sofies Haaren. Die Welt der
Beatniks zerfiel in zwei Hälften: hip und square, romantisch
und klassisch, humanistisch und technologisch.
,,Haben die Beats `was mit den
Beatles
zu tun?`` rief Hilde aus. Die Ledernen ließen voneinander ab
und blickten auf.
,,Hallo``, rief Sofie erfreut.
,,Die Beats
gingen den Beatles und den
Hippies
der 60er voran. Sie traten bereits Anfang der 50er hervor und bildeten
eine bis heute einflußreiche Subkultur. Eine Keimzelle ihres
Schaffens war San Francisco ... ``
,,Vielleicht sollten wir in
Kalifornien
überwintern``, entfuhr es Hilde. Die Erde hatte sie in den
Schatten gedreht.
Erwartungsvoll schaute Sofie Chris an. Er fingerte Stift und Papier
aus dem Leder, schrieb etwas auf und reichte ihr den Zettel:
261 Columbus Avenue,
San Francisco, CA 94133.
Nach innigem Kuß stand er auf. Die beiden Männer verabschiedeten sich.
Verträumt blickte Sofie ihnen nach. Hilde griff sich Sofies abgelegte
Kleidung und zog sie über. ,,So werden wir es hier aushalten``,
sagte sie; blieb aber ungehört.
Sie erwachten mit der Morgenröte und machten sich auf den Weg. Gegen
Mittag erreichten sie Caputh. Das Haus war leer. Im Wohnzimmer fanden
sie eine Nachricht Albertos: Hallo Mädels, die Jünger Galileis
haben mich besucht. Sie werden sich um Euch kümmern. Ich werde
über Ulm und Bern ins
CalTech
nach Kalifornien
reisen. Bis dann, Alberto. ,,Ihn zieht es also auch nach Kalifornien``,
merkte Hilde an.
Die beiden traten vors Haus und schlenderten über den Bootssteg.
Zum Baden war es ihnen zu kalt. So setzten sie sich an den Stegrand
und ließen die Füße ins Wasser baumeln. Schweigend betrachteten
sie das Treiben auf dem See. ,,Wie sie wohl aussehen?`` fragte
Sofie nach einer Weile.
,,Ich stelle sie mir wie Galilei vor``, entgegnete Hilde,
,,Renaissance-Menschen an der Schwelle zwischen wiedererwachter
Antike und hereinbrechender Moderne. ... Warte `mal, ... ja, das
müssen sie sein.``
Sofies Blick folgte dem ausgestreckten Arm Hildes. Sie wies auf
ein gemächlich herannahendes Ruderboot. Die Mädels sahen angestrengt
dem Boot entgegen und versuchten Details auszumachen. Sie erkannten
drei in weite Gewänder gehüllte alte Männer mit langen Bärten.
Zwei trugen eine Kopfbedeckung. Dem Ruderer war nur ein Haarkranz
geblieben. Seine gelegentlichen Kopfdrehungen ließen einen umso
üppigeren Bart hervortreten. Die Mädchen winkten den Alten zu,
sprangen auf und gingen ihnen ein Stück entgegen. Nach einer Weile
stieß das Boot an den Steg. Hilde ergriff das zugeworfene Tau und machte
es fest. Sofie reichte dem ersten die Hand zum Aussteigen und Begrüßen.
,,Simplicio``, sage er lächelnd. Nachdem auch Salviati und
Sagredo wieder festen Boden unter den Füßen und sich alle bekannt
gemacht hatten, schritten sie gemeinsam aufs Landhaus zu.
,,Wir stehen im 20. Jahrhundert an der Schwelle einer wissenschaftlichen
Umwälzung wie wir sie einstmals zu Zeiten Galileis, unseres ehrwürdigen
Schöpfers, erlebt haben``, hob Sagredo an.
,,Galilei begann im Buch der Natur mit der Sprache der Mathematik
zu lesen``, ergänzte Simplicio.
Und Salviati fügte hinzu: ,,Mit Galilei wurde die Naturphilosophie
abstrakt. Bohr begann das Reich des Möglichen auszuloten. Nach ihm
wurde der Zufall Grundlage der Physik.``
,,Ich schlage vor, daß wir uns morgen vormittag zur Interpretation des Wissenschaftswerks der Quantentheorie zusammensetzen``, sagte Sagredo an die Mädels gewandt. Sie nickten zustimmend. ,,Zur Vorbereitung solltet Ihr Euch die Aspekte des Welle-Teilchen-Dilemmas in Erinnerung rufen. Wir werden drei Interpretationsansätze verfolgen, den subjektiven, den objektiven und den abstrakten der Kopenhagener Deutung.``
Die Alten zogen sich auf ihre Zimmer zurück. Sofie und Hilde setzten sich
auf die Terrasse. Aus tiefhängenden Wolken begann es leicht zu regnen.
Unterm Sonnenschirm ließ es sich aushalten. Hilde sog innig die
feucht-frische Luft ein.
,,Ich freue mich schon auf
Kalifornien``,
schwärmte Sofie.
Verschmitzt blickte Hilde sie an. ,,Chris hat es Dir wohl
angetan ... `` Sofie sah sich über die Küstenstraße fahren.
Mit wehenden Haaren dem
goldenen Tor
entgegen. Amüsiert sah Hilde sie an.
,,Er hat uns im nächsten Jahr zu einer Sommerschule nach Berkeley
eingeladen. ...
chautauqua
hat er sie genannt``, sagte Sofie leicht verträumt.
,,Auch Phaidros sprach davon``, ergänzte Hilde. ,,Sie wird
von traditioneller und kritischer Theorie handeln.``
,,Mir hat die Unterscheidung von klassischer und romantischer Sichtweise
gefallen``, kam Sofie ins Grübeln. ,,Aber besonders die der
Qualität! Spießer sind square, sie sind unfähig, Qualität
wahrzunehmen!``
,,Sie leben in der Quantität``, setzte Hilde hinzu, ,,machen
nach, was fast alle machen, gehen mit der Mode, sind
Herdentiere ... ``
Die beiden schauten sich an. ,,Sollten wir auf unserem Fall durch die
Sprachebenen vielleicht unsanft in der Quantität landen? Ist nicht
Vereinzelung die Kehrseite der Qualität?`` zweifelte Sofie. Aber
dachte sie überhaupt selbst? Oder waren es Erinnerungen an Chris?
,,Es gibt Joker und Spielkarten``, ergänzte Hilde. ,,Nur ein
Joker löst das Kartengeheimnis.``
,,Beginnen wir mit der Lösung unseres Geheimnisses``, setzte
Sofie heiter hinzu.
,,Das Welle-Teilchen-Dilemma``, legte Hilde los, ,,ist eine
Konsequenz der Existenz diskreter Ladungen und kontinuierlicher
Felder. Die Relativitätstheorie hat es an den Tag gebracht. Die durch
Relativitätsprinzip und Gruppeneigenschaften gesetzten theoretischen
Rahmenbedingungen haben die Proportionalität von Energie und Masse
sowie Energie und Frequenz zur Folge.`` Sie machte eine Denkpause.
Sofie sah sie erwartungsvoll an. ,,Bohr suchte nach einer Lösung des
Dilemmas in den Entstehungsbedingungen des Lichtes. Beim Übergang
zwischen diskreten atomaren Zuständen wird Strahlung emittiert bzw. absorbiert.
Die empirischen Rahmenbedingungen werden hierbei durch die Atomstruktur
gesetzt.``
,,Sollte es sich beim Welle-Teilchen-Dilemma um ein Scheinproblem
handeln?`` sagte Sofie zögernd und fuhr sogleich fort: ,,Was
haben schon Wasserwellen und Tennisbälle mit Licht und Elektronen zu tun.
Vorurteilsfrei betrachtet, wissen wir von Atomen lediglich, daß sie
in energetisch unterscheidbaren Zuständen vorkommen. Ja, mehr können
wir von der Materie schlechthin nicht sagen.``
,,Du meinst, Wellen und Teilchen sind ebenso irreal wie die
Gleichzeitigkeit und der euklidische Raum?`` zweifelte Hilde.
,,Ganz recht``, erwiderte Sofie. ,,Wir sehen die Welt nicht
so, wie sie wirklich ist, sondern nur so, wie sie uns
erscheint.``
,,Wirklich ist die wahrscheinlichste Möglichkeit``, wiederholte
Hilde ihre Einsicht vom Berlin-Ausflug.
,,Ist Wirklichkeit bloße Konstruktion?`` fragte Sofie schon
merklich schläfrig. Flüsternd fuhr sie fort: ,,Ich bin gespannt,
was wir darüber noch erfahren werden.``
Ruhig atmend lagen die Mädels im Tiefschlaf. Vom See strich eine frische
Brise herüber. Die getriebenen Wolken kündeten das Nahen eines Unwetters.
Jäh ergriff eine Böh den Sonnenschirm. In dichten Streifen prasselte es
herunter. Die Mädchen schreckten hoch. Klatschnaß stürzten sie ins Haus.
Schlotternd entstiegen sie ihrer Wäsche und ließen warmes Wasser ein.
Im wohligen Naß drohten sie erneut einzuschlafen. Aber Ungleichgewichte
haben die Tendenz, sich auszugleichen. Temperaturunterschiede nähern sich
an. Das abkühlende Wasser machte sie munter. Behutsam schlichen
sie in ihre Zimmer. In Böhen klatschte der Regen an die Scheiben.
Geborgen im kuscheligen Bett schliefen sie sogleich wieder ein.