,,Laßt uns beginnen``, erhob Sagredo das Wort und griff zum Glas.
,,Auf Wahrheit und Klarheit, Freiheit und Gerechtigkeit!`` Sie
stießen an. ,,Wir wollen drei Thesen zur
Interpretation der Quantenmechanik diskutieren. Ich werde mit der
Abstraktionsthese beginnen. Salviati wird für die Objektivitätsthese
eintreten und Simplicio die Subjektivitätsthese verteidigen.`` Die
Mädels blickten gespannt in die Runde. Hilde griff zu Brot und Käse.
Sofie begann mit den Trauben. ,,Bevor wir zu diskutieren beginnen,
soll jeder seine These an Hand der Grundbegriffe erläutern und möglichst
prägnant formulieren``, beendete Sagredo seine Einleitung.
,,Die Grundbegriffe waren``, versicherte Hilde sich ihres
Verständnisses, ,,Objektivität und Realität, Lokalität und
Vollständigkeit, Gesetzlichkeit und Kausalität.``
,,Sowie Korrespondenz und Komplementarität``, fügte Sofie
hinzu.
,,Ihr sagt es``, stimmte Sagredo ihnen zu. ,,So will ich also
beginnen.`` Er nahm ein Buch von Peter Mittelsteadt zur Hand und las
die Kernthese der Kopenhagener Deutung vor: Die Quantentheorie
bezieht sich auf das atomare Naturgeschehen, wie es sich zeigt, wenn es
mit realisierbaren Meßgeräten untersucht wird. Diese auf
Bohr
und Heisenberg
zurückgehende Abstraktionsthese räumt dem Meßvorgang eine zentrale
Rolle ein und sieht in der Quantenmechanik eine Theorie, die sich nur auf
beobachtbare Größen bezieht.``
,,In welchem Zusammenhang steht denn nun die Algebra der Atome
mit den Strahlungsübergängen zwischen den Energieniveaus atomarer
Elektronen``, fragte Hilde ungeduldig.
Sagredo griff sich ein Blatt Papier. ,,Ihr erinnert Euch an die Schrödinger Gleichung:
H ist der nach Hamilton benannte Energieoperator und bezeichnet die Zustandsfunktion. Denkt man an die Materiewellen, wird sie auch Wellenfunktion genannt. In der Algebra der Atome wird als Bestandteil eines linearen Funktionenraumes behandelt und Zustandsvektor genannt. Die Struktur linearer Funktionenräume wurde zuerst von Hilbert untersucht. Deshalb wird der Zustands-Raum der Quantenmechanik Hilbert-Raum genannt. Kennzeichen eines linearen Raumes ist das Superpositionsprinzip. D.h. jede Überlagerung von Zuständen bildet wieder einen Zustand:
Die a's werden auch Entwicklungskoeffizienten genannt und sind komplex, d.h. als Summe einer reellen und einer imaginären Zahl darstellbar. Die Erwartungswerte der Energieniveaus lassen sich aus den Matrixelementen berechnen:
wenn es sich bei A um den Energieoperator H handelt ... ``
,,Nun ist es aber an der Zeit, `mal ein Beispiel zu geben``, unterbrach
Sofie Sagredo in seinem Eifer.
,,Einmal in Fahrt, ist er nur schwer zu bremsen``, merkte Salviati
an und hob das Glas. ,,Auf die Akademie!``
,,Die Formalisierung der Heisenberg'schen Algebra im Hilbert-Raum
ist noch interpretations-invariant``, warf Simplicio ein.
,,Aber fahre fort, oh Freund, Dir wird sicher schon ein Beispiel
auf der Zunge liegen.``
,,Du sagst es``, begann Sagredo. ,,Denken wir uns ein Photon oder Elektron, das in zwei möglichen Zuständen vorkommen kann. Z.B. die Richtungen auf und ab des Drehimpulses, oder zwei Energieniveaus des Elektrons. Ein Photon könnte z.B. in zwei entgegengesetzten Richtungen polarisiert sein. Der Zustandsvektor hat dann die Form:
Psi = a_1 x Psi_1 + a_2 x Psi_2 = (a_1 a_2)(Psi_1) (Psi_2)
Nehmen wir das Beispiel des in zwei Energieniveaus vorkommenden Elektrons. In linearen Räumen können die Operatoren durch quadratische Rechenschemata dargestellt werden, die Matrizen heißen. Die Zustandsvektoren sind durch ihre Entwicklungskoeffizienten bestimmt, und zwar als Zeilen- oder Spaltenvektoren. Für den Erwartungswert folgt damit explizit:
(a_1* a_2*)(E_11 E_12)(a_1) (E_21 E_22)(a_2)
Komponentenweises Ausmultiplizieren liefert:
Matrix mal Spaltenvektor ergibt einen Spaltenvektor. Zeilenvektor mal Spaltenvektor liefert eine reelle Zahl, das Skalarprodukt. Die Terme mit unterschiedlichen Indizes 12 bzw. 21 heißen Mischterme. Im Wellenbild entsprechen ihnen Interferenzen. Derartige Überlagerungen zweier Zustände in einem, machen die Quantenmechanik zu einem Rätsel. Wir werden darauf zurück kommen. Handelt es sich nun bei den Zuständen um sogenannte Eigenzustände des Operators, verbleiben in der Matrix lediglich zwei Diagonalelemente und werden Eigenwerte genannt:
(a_1* a_2*)(E_11 )(a_1) ( E_22)(a_2)
Wir multiplizieren komponentenweise aus:
wobei das reelle Betragsquadrat des komplexen
Entwicklungskoeffizienten bezeichnet.
Mit einem Verhältnis der relativen Wahrscheinlichkeiten
und von z.B.
... ``
,,... folgt, daß der Energieeigenwert 10 mal häufiger gemessen
würde als der Energieeigenwert ``, setzte Hilde den Satz fort.
,,Das ist ja gar nicht so schwierig. Sie dachte eine Weile angestrengt
nach. ,,Sind wir aber nicht unversehens in die Interpretationsproblematik
gelangt?``
,,Du hast es erfaßt``, erwiderte Sagredo anerkennend. ,,Darauf
sollten wir anstoßen!`` Nach einer Pause fuhr er fort. ,,Die
statistische Interpretation der Quantenmechanik liegt in der Annahme,
im Zustand mit der Wahrscheinlichkeit den Eigenwert
zu messen. Durch den Vorgang der Messung wird aus den Meßwerten des
Operators H genau ein Wert ausgewählt. Z.B. befinden sich die Elektronen
des Wasserstoffs in der Flamme des Bunsenbrenners auf dem Energieniveau
.``
Hilde erinnerte Russells Korrespondenztheorie der Wahrheit und fragte:
,,Wie sieht denn die Korrespondenz zwischen Tatsachen und Aussagen
in der Meßpraxis der Physiker genauer aus?``
Sagredo griff zu Heisenbergs Physikalischen Prinzipien der Quantentheorie. Der Meßprozeß muß in zwei scharf unterschiedene Akte zerlegt werden. Der erster Schritt der Messung besteht darin, daß das System einem äußeren physikalisch realen, den Ablauf der Ereignisse ändernden Eingriff - z.B. Bestrahlung mit Licht oder Einschalten eines Feldes - unterzogen wird. Dieser Eingriff hat zur Folge, daß das zu beobachtende System in ein Gemenge von - im allgemeinen unendlich vielen - Zuständen übergeht. ... Der zweite Akt der Messung greift dann unter den unendlich vielen Zuständen des Gemenges einen ganz bestimmten heraus. Dieser zweite Schritt stellt keinen Prozeß dar, der selbst den Verlauf des Geschehens beeinflußt, sondern verändert lediglich unsere Kenntnis der realen Verhältnisse.
Wenn wir an die Zerlegung des Meßoperators H durch die Matrixelemente denken, dann wird H durch die Messung zu einem Operator erweitert. bezieht sich auf das eigentlich zu messende System und auf die Wechselwirkung zwischen System und Meßgerät während der Messung. Die Meß-Wechselwirkung überführt die Superposition aller Zustände von System und Meßgerät in ein Gemenge. Das ist eine Zustands-Überlagerung ohne Mischterme. Erst mit der Trennung von Meßgerät und System wird vom Meßgerät abstrahiert und zu einer objektiven Eigenschaft des Systems. Diese erkenntnistheoretische Forderung, Objekte zu beschreiben, hat also die statistische Unbestimmtheit in der Voraussage der Eigenschaften der Objekte zur Folge!``
,,Am Beispiel des Zwei-Zustands-Systems``, begann Hilde langsam,
,,muß ich mir den Gedankengang noch `mal klarmachen.
Also: Nehmen wir an, in der Flamme des Bunsenbrenners werden fast alle
Elektronen des Wasserstoffs auf das Energieniveau gehoben. An
Hand der Frequenzmessung im Spektrum der emittierten Strahlung werden
wir mit einer Wahrscheinlichkeit von 99% die Frequenz
registrieren. Worin besteht denn hier überhaupt das Rätsel? Handelt es
sich nicht um eine der üblichen Wahrscheinlichkeits-Aussagen
bzgl. statistischer Gesamtheiten? So wie z.B. aus der Medizinalstatistik
bekannt ist, daß auf dem Lande 99% der Erkrankten an Lungenkrebs
Raucher sind?``
,,Das Rätsel der Quantenmechanik besteht darin, daß sich der
Erwartungswert auch auf den
Zustand eines einzelnen
Elektrons bezieht! Diese von Bohr sogenannte Individualität
atomarer Zustände bereitet den Naturphilosophen bis heute
Kopfzerbrechen``, entgegnete Sagredo und schaute Hilde
aufmerksam an.
,,Das ist in der Tat verblüffend! Wie kann sich denn ein und
dasselbe Elektron zugleich in zwei verschiedenen Zuständen
befinden?`` staunte sie.
,,An dieser Frage scheiden sich die Geister``, fuhr Sagredo fort.
,,Für die Kopenhagener kommt den Zuständen bzw. den Wellenfunktionen
deshalb überhaupt keine Realität zu.
bzw. legt für sie lediglich die Wahrscheinlichkeit
fest, im Zeitintervall einen der beiden Energiewerte
zu messen. D.h. vor der Messung befindet sich das Elektron
in einer quantenmechanischen Zustands-Überlagerung. Nach der
Messung liegt demgegenüber ein klassisch eindeutiger Meßwert,
z.B. , vor.``
,,Heißt das etwa, die Messung erzeugt selbst den Wert, der erst
als Ergebnis der Messung herauskommen soll?`` empörte sich Hilde.
,,So weit gehen die Kopenhagener nicht in ihrer Deutung``, beruhigte
Sagredo sie. ,,Die Natur bzw. das physikalische System wird vielmehr
genötigt, Farbe zu bekennen. Zunächst werden ja durch den Meßeingriff
aus der quantenmechanischen Zustandsentwicklung alle Mischterme getilgt.
Aus dem so entstandenen Gemenge wird dann genau ein Wert als
Meßwert ausgewählt. Um der Objektivität willen, wird also
die Eindeutigkeit und Reproduzierbarkeit der Messung mit dem Preis
der statistischen Unschärfe erkauft. Denn aufgrund der Heisenberg'schen
Unschärferelation können Zeitpunkt und
Energiewert des Elektrons nicht zugleich exakt bestimmt
werden.``
,,Weil die Frequenzmessung einer Spektrallinie ein minimales
Zeitmaß erfordert``, setzte Hilde den
Gedanken fort und wunderte sich. ,,Welch weitreichende Folgen die
nichtkommutative Algebra hat!``
,,Und nicht nur das``, setzte Sagredo seine Ausführungen fort.
,,Die Nichtkommutativität der Quantenmechanik widerspricht
zudem der klassischen Logik und Wahrscheinlichkeitstheorie. Es gilt
z.B. nicht die klassische Tautologie !
Denn die Messung sogenannter inkommensurabler Eigenschaften mit
nichtverschwindendem Kommutator hängt von der Reihenfolge der
Messung ab.``
,,Weil jede Messung den Systemzustand stört ... ``, warf
Sofie ein.
,,So ist es! Dieses Problem der Objektivierung nichtkommensurabler
Eigenschaften ist für die Kopenhagener der Grund dafür, der Natur und
dem physikalischen System zwar grundsätzlich Realität zuzusprechen.
Zugleich aber den subjektiven Eingriff der Messung anzuerkennen und die
Theorie auf die Behandlung beobachtbarer Größen zu
beschränken ... ``
,,Um den Preis der Vollständigkeit``, meldete Salviati sich zu
Wort.
,,Du wirst noch Gelegenheit haben, uns Deine Objektivitätsthese
vorzutragen``, fuhr Sagredo fort. ,,Unterstellen wir eine endlich
schnelle ( ) und endlich große ( ) Wirkungsausbreitung, dann
ist die Quantenmechanik eine lokale und vollständige Theorie. Sie
ist allerdings unvereinbar mit der Annahme einer objektiven
Realität. Aussagen über das wie des Seins sind immer auch
subjektiv ... ``
,,Womit wir bei der Subjektivitätsthese wären ... ``
,,Später, Simplicio, später. Kommen wir zur Gesetzlichkeit
und Kausalität des Naturgeschehens. Die Schrödinger Gleichung
legt in streng deterministischer Weise den raum-zeitlichen Wirkungsverlauf
fest; allerdings nur für die Wahrscheinlichkeitsverteilung atomarer
Zustände. Für Wirkungen oberhalb der Planck'schen Konstanten geht die
Ursache der Wirkung stets voran. Lediglich Erwartungswerte ändern sich
also gesetzmäßig und kausal.``
,,Unterhalb des Wirkungsquantums verschwimmen die Konturen: Das
Naturgeschehen wird zufällig und akausal``, merkte Hilde an.
,,Raum-Zeit-Beschreibung und Kausalität atomarer Vorgänge sind
nur um den Preis einer prinzipiellen Unschärfe vereinbar. Eine
eindeutig-exakte Zuordnung von Ursache und Wirkung wäre nur ohne
störende Messung möglich. Das atomare Naturgeschehen erfolgt entweder
im Raum-Zeit-Kontinuum der Schrödinger Gleichung, die den gesetzmäßigen
Verlauf ungestörter Zustands-Entwicklungen
bzw. Wahrscheinlichkeits-Verteilungen beschreibt. Oder aber
wir führen eine Messung aus. Der Gesamtzustand zerfällt dann
diskontinuierlich und willkürlich in ein Gemenge.
Ein Eingriff, der auch Kollaps der Wellenfunktion genannt
wird``, betonte Sagredo und hob nochmals hervor: ,,Die
Heisenberg'sche Algebra ist exakt und kausal, abstrahiert aber von
den Besonderheiten konkreter Zustands-Beschreibungen in Raum und Zeit.
Die Schrödinger'schen Wellenfunktionen sind raumzeitlich exakt, kausal aber
unscharf. Bohr hat deshalb das Naturgeschehen im Raum-Zeit-Kontinuum einerseits
und die Kausalität atomarer Vorgänge andererseits als komplementär
betrachtet.``
,,Das muß ich mir noch `mal vergegenwärtigen``, unterbrach Hilde. ,,Die Zeitentwicklung für den Meßoperator in der Heisenberg Gleichung
ist exakt und kausal, weil auf keinen speziellen Zustand Bezug genommen
wird. Die Algebra der Atome ist damit Zustands-invariant. Eine
konkrete Messung zu bestimmter Zeit am gewählten Ort setzt aber immer
eine spezielle Zustandsentwicklung voraus, die bis zum Meßeingriff
streng kausal verläuft; dann aber kollabiert und nur unscharfe Resultate
liefert.``
,,Also``, begann Sofie konzentriert. ,,gerade indem wir
möglichst genau den Ursache-Wirkungs-Zusammenhang, die Kausalität des
Naturgeschehens, in Erfahrung bringen wollen, zerstören wir das
Raum-Zeit-Kontinuum und damit die Kausalität! Sägen quasi den Ast ab, auf
dem wir sitzen.`` Ihr Blick ging in die Weite. Nach einem Moment der
Stille fuhr sie fort: ,,Dann ist das Wirkungsquantum der
Dreh- und Angelpunkt dafür, Welle- und Teilchen-Vorstellung sowie
Raum-Zeit-Kontinuum und Kausalität selbstkonsistent in Einklang
zu bringen.``
,,Nach Gödel schließen sich Konsistenz und Vollständigkeit aus``,
erinnerte Hilde und fügte hinzu. ,,Eine ganzheitliche Theorie, die
Subjekt und Objekt vereint, kann nur bis auf eine endliche
Unbestimmtheit konsistent sein.``
,,Nun ist es aber an der Zeit, der Objektivitätsthese das
Wort zu geben``, hob Salviati ungeduldig zu reden an. ,,Du
hast mich nicht minder verwirrt mit Deinem sowohl-als-auch der
Kopenhagener, Sagredo. Mir scheint, Du scheust ein klares Urteil.``
Nur die Fülle führt zur Klarheit. Und im Abgrund wohnt die Wahrheit
zitierte Sagredo und hob das Glas: ,,Auf daß Du mich überzeugen
mögest, lieber Freund.``