,, ... Was endet wo?`` hörte Hilde von fern die verwunderte Stimme Sofies. Hilde mußte erneut geträumt haben. Langsam blickte sie auf. Im hellen Licht der Morgensonne streckte Albert Einstein ihr von der Wand her die Zunge `raus. Unter dem Bild entzifferte sie nach und nach einige Schriftzüge: Wenn einer mit Vergnügen in Reih und Glied zu einer Musik marschieren kann, dann verachte ich ihn schon; er hat sein großes Gehirn nur aus Irrtum bekommen, da für ihn das Rückenmark schon völlig genügen würde. Diesen Schandfleck der Zivilisation sollte man so schnell wie möglich zum Verschwinden bringen. Heldentum auf Kommando, sinnlose Gewalttat und leidige Vaterländerei, wie glühend hasse ich sie, wie gemein und verächtlich erscheint mir der Krieg; ich möchte mich lieber in Stücke schlagen lassen, als mich an einem so elenden Tun zu beteiligen! ,,Einstein scheint sich nicht nur im wissenschaftlichen Elfenbeinturm aufgehalten zu haben``, dachte Hilde. Ihr Blick wanderte weiter. Erstmals sah sie das Zimmer bei Tageslicht. ,,Hier muß `mal ein nachdenklicher Mensch gewohnt haben``, ließ Sofie sich vernehmen und begann von einem Zettel an der Pinnwand vorzulesen.
Hilde streckte sich entspannt, gähnte ausgiebig und sagte gedehnt: ,,Solche Reime kann doch nur ein Physiker abgesondert haben.`` Langsam stand sie auf und ging zum Schreibtisch. ,,Was für Bücher hier liegen!`` Sofie trat hinzu. The Collected Papers of Albert Einstein; Raum, Zeit, Materie; Symmetrien der Natur; Der Geist fiel nicht vom Himmel; Das Quark und der Jaguar; Der Fluß, der bergauf fließt; Die Entdeckung des Himmels; Das Kartengeheimnis; Tim und Struppi in der neuen Welt; ... ; Das Wittgenstein-Programm; Welt am Draht ...
,,Hallo Mädels!``
Jäh wurden die beiden aus ihren Betrachtungen gerissen. Auf dem fernsehgroßen
Bildschirm eines Rechners erschien das Konterfei Albertos (oder war es Albert?).
,,Wundert Euch nicht über die Utensilien im Zimmer. Sie gehören einem
Physikstudenten, der sich um Euch kümmern wird. ... Nun schaut mich doch
nicht so entgeistert an ... `` Hilde bemerkte sogleich die Kamera auf dem
Monitor. Alberto hatte wohl eine Konferenzschaltung aufgebaut ...
,,Er heißt Niels. Ich werde gleich `mal versuchen,
ob ich ihn erwische.``
Langsam löste sich ihre Erstarrung. Hilde fand als erste die
Sprache wieder. ,,Hallo Alberto, wo bist Du denn? Dein Zimmer sieht recht
altmodisch aus.``
,,Ich befinde mich an der ehemaligen Wirkungsstätte Einsteins in Berlin, der Humboldt Universität.``
Ein weiteres Fenster auf dem Bildschirm gab den Blick frei in eine große
Experimentierhalle. Diffuses Stimmengewirr erklang. Es polterte, raschelte.
Schatten trübten das Bild ... Ein jugendliches Gesicht erschien.
,,Hallo allerseits! Hier spricht Niels. Habt ihr gut geschlafen?``
Er blickte die Mädels vielsagend an. Sofie starrte wie gebannt
auf den Schirm.
,,Danke der Nachfrage ``, entgegnete Hilde betont locker. ,,Ich
träumte, daß die Physiker hier als Hohepriester der Göttin Energeia
wirken.``
,,So kann man das auch sehen``, erwiderte Niels lachend. ,,Du
bist sicher Hilde ``, fuhr er fort.
,,Und ich ... heiße Sofie ... ``
Niels ahnte den Grund ihrer Unsicherheit, ließ sich aber nichts anmerken.
,,Um zehn Uhr sollten wir uns zum Frühstück in der Mensa treffen``
, sagte er ungerührt. ,,Wenn ihr das kleine Mosaik auf dem Bildschirm
anklickt, findet ihr einen Lageplan. Alles klar?``
Hilde nickte. ,,Bis dann.``
Nachdem auch Alberto sich verabschiedet hatte, schauten sie sich verwundert
an. ,,Was für'n abgefah'ner Rechner``, staunte Sofie.
,,Lenk nicht ab``, sagte Hilde verschmitzt. ,,So wie Du Niels
angestarrt hast, muß er Dich ja geradezu elektrisiert haben.``
Sofie errötete leicht und klickte nervös mit der Maus herum, so daß
mehrere Fenster den Bildschirm überdeckten. Neben Einblicken in die Mensa,
weitläufigen Experimentierhallen, dem Beschleuniger-Kontrollzentrum eröffnete
sich ihnen auch eine Buchreihe ...
Hilde wollte gerade ein Buch anklicken, als mit einem Gongschlag
auf dem Display eine Uhr erschien, die 9:30 Uhr anzeigte.
,,Wir sollten uns auf den Weg machen``, drängte Sofie. ,,Schließlich
müssen wir noch duschen und `was anziehen. Gesagt, getan. Kurze Zeit später
verließen sie das Gästehaus und traten in einen warmen Sommertag. Auf dem
Rasen vor der gegenüberliegenden Experimentierhalle lagen Studierende. Sie lasen
etwas oder diskutierten angeregt. ,,Seinem Akzent nach zu urteilen ist Niels
bestimmt kein Deutscher. Woher mag er kommen?``
,,Dieses Rätsel ist rasch gelöst``, entgegnete Hilde. Sofie sah
sie fragend an. ,,Natürlich aus Dänemark. Wahrscheinlich ist er ein
Urenkel Niels Bohrs.``
,,Das klingt aber reichlich vordergründig``, zweifelte Sofie.
Hilde fuhr ungerührt fort: ,,Die Selbstinterpretierbarkeit von Formalismen, sich selbst schreibende Romanfiguren und die Selbstreproduktion der Lebewesen: das scheint mir innig verwoben. Ist Dir aufgefallen, daß unser Philosophiekurs bereits im Rechner aufgelistet war?``
Nach einigen Treppen gelangten die beiden über einen Vorplatz in den erhöht
gelegenen Mensabau. Am südwestlichen Ende des DESY-Geländes gelegen,
eröffnete sich ihnen ein weiter Ausblick über das sich nach nordosten
erstreckende Beschleunigerareal. Vom Ecktisch am Fenster winkte Niels
ihnen zu. Sie setzten sich zu ihm und sahen sich um. Es herrschte reges
Treiben. Wissenschaftler, Studierende und Schulklassen waren in vielerlei
Diskussionen verwickelt. Nachdem sie sich reichlich mit Brötchen, Müsli
und Obst eingedeckt hatten, machten sie sich ans gemeinsame Frühstück.
,,Alberto hat mir die interessante Geschichte eurer Herkunft erzählt``,
erhob Niels das Wort. ,,Ihr seit also die Fabelwesen eines
Philosophiekurses.`` Er schaute sie aufmerksam an. ,,Und ich bin
bloß eine Mythengestalt, noch immer auf der Suche nach der Beschwörungsformel,
die das Rätsel der Welt enthüllen mag.``
,,Davon hatte ich bereits geträumt``, warf Hilde ein.
,,Was mit der Feuchte im
Seelenglauben
begann, setzen wir mit der Energie in den Teilchenumwandlungen fort.``
Sofie kamen einige Zeilen von der Pinnwand in den Sinn:
Und Niels ergänzte:
,,Zu den Invarianzforderungen zählt auch das Einstein'sche Relativitätsprinzip.
Und die Symmetrie physikalischer Gleichungen bezüglich Zeitumkehr ist
gleichbedeutend mit der Energieerhaltung physikalischer Vorgänge ...``
,,Darüber würde ich gerne mehr erfahren``, unterbrach Hilde voll'
Ungeduld.
,,Bevor wir uns weiter mit dem Schöpfungsmythos beschäftigen, solltet ihr zur Vorbereitung die kleine Naturgeschichte für junge Leser studieren. Ihr findet sie im Rechner. Zunächst haben wir uns die europäische Krise in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts zu vergegenwärtigen. Denn die Krise in Physik und Philosophie und ihre Bewältigung durch Einstein und Bohr, Russell und Wittgenstein ist nicht zu trennen von den geistig-politischen Wirren jener Zeit ... und ihrer Bewältigung durch Hitler und Stalin. Der Kampf zwischen Republikanern, Kommunisten und Faschisten kulminierte im 2. Weltkrieg und ist auch nach dem Zerfall des Sowjetimperiums noch nicht beendet. Bevor wir über die drei Weltanschauungen sprechen, sollten wir uns einen gerafften Überblick der Weltgeschichte verschaffen. Geschlecht, Volk, Klasse und Religion sind die vier Grundbegriffe, die eine grobe Orientierung im Verlauf sozialer Evolution erlauben.
Die Trennung der Menschen in zwei Geschlechter ist ein Erbe der biologischen
Evolution. Nach dem Darwin'schen Prinzip: survival of the fittest überlebt
jeweils nur die an die Umgebung bestangepaßte Tiergruppe oder Population.
Sexualität erhöht dabei wesentlich die Anpassungsfähigkeit einer Population
an ihre Umwelt. Denn die Zufallsverteilung des Kindgenoms aus jeweils kompletten
männlichen und weiblichen Genbeständen ermöglicht eine unerschöpfliche
Variationsbreite genetischer Neukombinationen. D.h. unter den Nachkommen
werden (fast) immer welche sein, die besser als ihre Eltern den veränderten
Umweltbedingungen angepaßt sind.``
,,Heute schaffen sich die Menschen künstliche Umwelten, an die sie sich
mit veränderten Sprachcodes anpassen ... Auch eine Form der
Selbstreferenzierung``, sagte Hilde nachdenklich.
,,Ganz recht. Der Sprachkultur ging aber die Kultivierung der Pflanzen und
Tiere sowie des menschlichen Verhaltens voran. Schon früh begannen die
Menschen durch selbstgeschaffene Umweltbedingungen unter sich und den Tieren
eine künstliche Zuchtwahl vorzunehmen. Sei es zur Züchtung besonders
schlagkräftiger Krieger oder starker Arbeitstiere. Durch natürliche oder
künstliche Auswahl geschaffene und vermehrte Varianten innerhalb
einer Population (oder Art) werden Rasse genannt. Aufgrund der
vielfältigen Vermischungen der Völker bei ihren zahlreichen Wanderungen
lassen sich unter den Menschen aber keine Rassen mehr unterscheiden.
Denn die genetischen Unterschiede innerhalb der Völker sind größer als
die zwischen ihnen.``
,,Für viele Menschen ist aber die Hautfarbe ein bedeutendes
Unterscheidungskriterium``, warf Sofie ein.
,,Leider ja. Anstatt auf die Gemeinsamkeiten zu achten, sehen sie nur einen Aspekt der äußeren Erscheinung. Ihnen ist der Schein wichtiger als das Sein der Menschen. Evolutionsbiologisch interessant sind demgegenüber gerade die Rassenmischungen. Gleichwohl spielten bei unseren Vorfahren Ahnenkult und Heldenverehrung eine große Rolle. Jeder sah sich gerne als Nachfahre eines verehrten Helden. Denkt nur an Herakles oder Siegfried. Gemeinsame Abstammungsfolgen verstärkten das Zusammengehörigkeitsgefühl und schufen Geborgenheit innerhalb der Sippe. Die Blutsverwandtschaft spielte die entscheidende Rolle in den Dynastien der Ägypter, in den Sippen und Stämmen der Germanen, in den Herrscherhäusern der europäischen Aristokraten. Als Familienideologie hat sie sich bis in die (aufgeklärte?) bürgerliche Gesellschaft erhalten.
Dem Evolutionsprinzip von Unterscheidung und Zusammenschluß folgt die
Trennung nach Fremdem und Eigenem sowohl innerhalb als auch außerhalb der
Stämme und Völker. Was mit ersten Membranumhüllungen von Biomolekülen
in der irdischen Ursuppe begann, führte über Einzeller, Mehrzeller, Organismen
und Arten bis hin zu den menschlichen Staatenbildungen. Im Modell der
Ebenen und Krisen entspricht dabei jedem Niveau des Zusammenschlusses eine
Entwicklungsebene. Veränderte Umweltbedingungen bewirken Krisensituationen,
die zu neuen Entwicklungsstufen führen können. Denkt nur an die Katastrophe,
die der von den Pflanzen erzeugte Sauerstoff für die damalige Tierwelt
bedeutete. Oder die Folgen des Meteoriteneinschlags zur Zeit der Saurier.``
,,Dann könnte ja auch die von den Industriestaaten ausgelöste
Klimakatastrophe neuen Lebensformen zum Durchbruch verhelfen``, gab
Sofie zu bedenken.
,,Der steigende Meeresspiegel wird einige Umsiedlungen erzwingen. Auf der Flucht vor widrigen Umweltbedingungen, zur Erschließung neuer Jagdgründe und Nahrungsquellen sowie aus Neugierde und Abenteuerlust, trieb es die Menschen seit jeher zu Wanderungen und Beutezügen. Die vor über drei Millionen Jahren durch Afrika streifenden Vormenschen (Hominiden) und ihre Nachfahren bevölkerten in mehreren Wanderungswellen den Globus. Vernunftbegabte Menschen (homo sapiens) traten erstmals vor rund 100.000 Jahren auf den Plan und begannen vor über 30.000 Jahren die Besiedelung Europas, Asiens und Amerikas. Die Steinmonumente der Megalith-Kulturen im Mittelmeerraum sowie in den Küstenländern der Nord- und Ostsee künden bereits von einer regen Seetätigkeit vor über 5000 Jahren. Zu dieser Zeit gab es am nördlichen Nil um Memphis und Theben sowie im südlichen Zweistromland um Ur und Uruk die Hochkulturen der Ägypter und Sumerer. Mit dem Seßhaftwerden der Menschen beginnen die fortwährenden Auseinandersetzungen zwischen den verbliebenen Nomaden und Seevölkern einerseits und den Stadtstaaten andererseits.
Nach dem Eindringen der (asiatischen) Steinaxt-Kultur in den europäischen Siedlungsraum beginnen vor etwa 4000 Jahren die Wanderungen der zur Sprachfamilie der Indogermanen zusammengefaßten Völker. Von diesem Kampf der ansässigen Vanen mit den einwandernden Asen berichten schon die Mythen. In Kleinasien bilden Indogermanen die Kultur der Hethiter, erreichen das nördliche Mesopotamien, besiedeln Griechenland und gelangen vor etwa 3500 Jahren an den Ganges (Indien). Etwa zur gleichen Zeit fallen semitische Nomaden aus der ostägyptischen-\ und nordarabischen Wüste in Kanaan (Palästina) ein. Nach etwa 500 Jahren zerfällt ihr Reich ins nördliche Israel und südliche Juda mit Jerusalem. Seit der babylonischen Gefangenschaft um 587 v.Chr. lebten die Juden unter Fremdherrschaft (Diaspora).
Um 750 v.Chr. beginnen die Griechen mit der Kolonisation des gesamten Mittelmeerraumes. Zur gleichen Zeit gründen Latiner und Sabiner unter dem Einfluß der Etrusker die Stadt Rom. Nach zahlreichen Kämpfen gegen Kelten, Germanen und Griechen breiten sich die Römer nicht nur im Mittelmeerraum aus; sie dringen in Gallien ein und besiedeln Britannien. Im ersten vorchristlichen Jahrhundert fallen die Kimbern und Teutonen ins römische Reich ein. Ab 375 kommt es zu weitaus größeren Völkerwanderungen. Auf der Flucht vor den Hunnen aus Asien wandern die Ostgoten nach Westen, verdrängen die Vandalen über Spanien nach Nordafrika, die Langobarden nach Norditalien und die Westgoten nach Spanien. Im gleichen Zeitraum folgen Jüten, Angeln und Sachsen den zurückweichenden Römern nach Britannien. Die Kelten fliehen weiter in den Norden der britischen Inseln. 395 zerfällt das römische Reich in ein westliches und ein östliches. Das weströmische Reich erliegt 476 dem Ansturm der Germanen.
Bevor wir die weitere Entwicklung der Menschheit betrachten, haben wir die
Religionen
und Klassen zu berücksichtigen. Ihr erinnert euch vielleicht noch an die
Unterscheidung zwischen indogermanischer und semitischer Weltsicht.
Kennzeichen indogermanischen Denkens sind die Begriffe Polytheismus, Kreislauf
und Erleuchtung. Demgegenüber bilden den semitischen Geist die Begriffe
Monotheismus, Linearität und Gehorsam.``
,,Ich las, daß Alberto mit Sofie darüber sprach``, bestätigte
Hilde. ,,Du kannst fortfahren``, stimmte Sofie ihr zu: ,,Juden,
Christen und Moslems sind semitisch, Hindus und Buddhisten indogermanisch
geprägt.``
,,Der Hinduismus entwickelte sich am Indus vor etwa 3000 Jahren.
Er ging aus dem Veden hervor, dem ältesten heiligen Schrifttum der
Menschen. Dem Sanskritwort entspricht das lat. vidi:
ich habe gesehen, ich weiß. Dem Wirken der Natur entnahmen die Hindus
eine Vorstellung von der ewigen Wiederkehr des Gleichen, dem ewigen
Kreislauf von Geburt und Tod, Entstehen und Vergehen. Die Erlösung
von dieser immerwährenden Wiederholung sei im Nirwana möglich.
Aber nur langwierige und entsagungsvolle Meditationen machen es erlebbar.
Ziel des Meditierens ist der Weg zu der gleichbleibenden Ursache,
nicht das Verzetteln in der Vielfalt der Wirkungen. Vor etwa 2500
Jahren entsprang dem Wirken des Gautama Buddha, des Erleuchteten,
der Buddhismus.
Seine Lehre verbreitete sich neben Indien vor allem in China und vermischte
sich dort mit den Lehren
Lao-tse's
und Kung-tse's.
Das Streben des Buddhisten nach der wunschlosen Glückseligkeit im
Einssein mit der Natur ähnelt der Haltung des Physikers. Hinter den
zahllosen Ereignissen sucht er nach den (gleichbleibenden) Invarianten.
Mag sich auch der Kosmos fortwährend wandeln, sein Energieinhalt bleibt
konstant. Verwandt mit dem Nirwana der Buddhisten und der Invarianz der
Physiker ist das Tao des Lao-tse'. Es ist das hinter den Naturerscheinungen
waltende große Gesetz. Hektik und Betriebsamkeit der Menschen lassen aber
eine Einkehr ins Tao nicht zu. Deshalb praktizierte Lao-tse das Nichtstun,
innerlich ganz still zu sein, absichtslos und willensfrei ... ``
,,Was wäre uns alles erspart geblieben, wenn die Menschen Buddha und nicht
Jesus gefolgt wären``, sinnierte Sofie.
,,Im Gegensatz zu den hinduistischen Erlebnisreligionen handelt es sich
beim Judentum um eine Gesetzesreligion. Nicht Erleuchtung durch
Versenkung ins Wirken der Naturgötter ist das Ziel, sondern dem Stammesgott
gegenüber wird Gehorsam verlangt. Die ab 460 v.Chr. entstehenden hebräischen
Gesetze der Juden werden um 200 v.Chr. ins Griechische übersetzt. Die Gemeinde
spaltet sich in eine gesetzestreue und eine hellenistische Richtung. Aus dieser
geht durch den Missionseifer des Paulus das Christentum hervor. 391
wird es römische Staatsreligion. Diese Verbindung von römischer Staatskunst
und katholischer Dogmenfestigkeit prägte die weiteren 1000 Jahre des
Mittelalters.``
,,Und nicht nur das``, empörte sich Hilde: ,,Der Papst spielt sich
doch noch heute als römisch-katholischer Weltherrscher auf ... ``
,,Glücklicherweise hat er aber nicht mehr die Macht von einst``, ergänzte
Sofie.
Niels fuhr fort: ,,610 predigt Mohammed, der Prophet, den Islam, d.h. die Ergebung in den Willen Gottes. Nach seiner Auswanderung in die Stadt des Propheten breitet sich seine Lehre durch zahlreiche Kriege über Arabien, Kleinasien, Indien, Nordafrika und Spanien bis ins Frankenreich aus. Byzanz, die Metropole des oströmischen Reiches, wird mehrmals vergeblich belagert. Zwischen Tours und Poitiers werden die Moslems 732 durch Martell zurückgeschlagen. Die Franken waren im Zuge der Christianisierung nach vielen Kriegen, insbesondere gegen Friesen und Sachsen, unter Karl dem Großen christliche Großmacht geworden. Um 832 wurde Hamburg Bischofssitz und diente der Missionierung Skandinaviens. In Mitteleuropa führten zahlreiche christliche Königreiche und Herzogtümer zu stabilen absolutistichen Staaten, den Monarchien. 843 wurde durch den Vertrag von Verdun Ludwig der Deutsche als Regent des ostfränkischen Reiches eingesetzt.
Zwischen dem 9. und 12. Jahrhundert setzen sich die Nordgermanen (Wikinger) gegen die kriegerische Verbreitung des Christentums zur Wehr. An den Küsten von Nord- und Ostsee verbreiten sie Angst und Schrecken. 845 zerstören dänische Wikinger die Wallfestung Hamaburg. Sie dringen ins Mittelmeer vor und folgen den Flußläufen in den Weiten Rußlands. Über Britannien und Irland gelangen sie nach Island, segeln weiter nach Grönland und erreichen Amerika; jedoch ohne kriegerische Absichten. Handelsinteresse und Abenteuerlust spielen die Hauptrolle.
Währenddessen beginnen die ersten Kreuzzüge der Christen gegen die Moslems. Im 13. Jahrhundert fallen mongolische Reitervölker in Europa ein. Sie vertreiben nicht nur Slawen, sondern auch Bulgaren und Türken aus ihren angestammten Gebieten. 1232 wird das Heilige Römische Reich Deutscher Nation proklamiert. Ab 1243 breiten sich die türkischen Moslems unter Führung Osmans in Kleinasien aus. Auf dem Balkan siedelt ein Vielvölkergemisch, das bis heute im Kriegszustand lebt. 1453 fällt Byzanz ins Osmanische Reich. Neben den äußeren Religionskriegen zwischen Christen, Moslems und Hindus liefern innere Aufspaltungen der Moslems in Schiiten und Suniten, der Christen in Protestanten und Katholiken weiteren Zündstoff. Der 30jährige Krieg verwüstet ganz Mitteleuropa und halbiert die Bevölkerung. 1648 endet er mit dem Westfälischen Frieden und besiegelt die Trennung von Staat und Kirche.
Unterdessen erstreckt sich der Vernichtungsfeldzug der Christen auf einen neuen Kontinent. 1492 landet Columbus in Amerika. Ein ganzer Kontinent wird entvölkert. Die christlichen Herrenmenschen metzeln die wilden Indianerstämme nieder und zerstören die Hochkulturen der Azteken, Inkas und Mayas. Nach den Siegen über die äußeren Feinde beginnen auch in der neuen Welt die Kriege in den eigenen Reihen: 1776 proklamieren die Amerikaner ihre Unabhängigkeit. Die erste Republik auf der Basis von Menschenrechten entsteht. 1789 beginnt mit der Französischen Revolution der Siegeslauf des Bürgertums gegen den Adel auch in der alten Welt. Der Bürgerkaiser Napoleon überzieht Europa mit Krieg. Nach vernichtenden Niederlagen in Rußland und gegen die Übermacht der Alliierten England, Österreich und Preußen werden auf dem Wiener Kongreß von 1814/15 die Grenzen neu abgesteckt. Deutschland bleibt ein Bund zahlreicher Kleinstaaten. Eine bürgerliche Revolution scheitert 1848 bereits im Ansatz. Nach Kriegen Preußens gegen Dänemark, Österreich und Frankreich holen die Deutschen 1871 in Versailles erstmal ihre Reichsgründung nach.
Im Überschwang des Nationalstolzes entstehen zahlreiche Denkmäler, Museen
und Monumente. Wenn ihr nach Berlin kommt,
besichtet
die Siegessäule und das Pergamonmuseum. Den Pergamonaltar hatten Griechen im
2. vorchristlichen Jahrhundert nach ihrem Sieg über kleinasiatische Völker
errichten lassen. Er ist `ringsrum verziert mit Plastiken von Szenen des
Kampfes der Götter und Giganten. An diesen Gigantenkampf wollten die
Deutschen in ihrem Streben um die europäische Vormachtstellung anknüpfen.
Die mit der Siegessäule verherrlichten Kriege auf dem Weg zur Reichseinheit
wurden als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln gesehen ... Die vom
Bürgertum freigesetzten Produktivkräfte in Wirtschaft und Technik blieben
unter der Regentschaft eines selbstherrlichen Kaisers. So führte die
industrielle Revolution in die Materialschlacht des 1. Weltkrieges.
Im Bauernstaat Rußland löste er 1917 eine proletarische Revolution aus.
Den Deutschen bescherte er 1918 mit dem Frieden von Versailles die
Weimarer Republik.``
,,Du kennst Dich ja gut in deutscher Geschichte aus``, entgegnete Sofie
nach einer Pause und ergänzte: ,,Und das obwohl Du kein Deutscher bist!``
Verduzt sah Niels sie an: ,,Woher komme ich denn Deiner Meinung nach?``
,,Natürlich aus Dänemark``, leiß Hilde sich vernehmen. ,,
Wahrscheinlich bist Du auch noch mit Niels Bohr verwandt``, fuhr sie
ungerührt fort.
,,Erraten!`` bestätigte Niels. ,,Ich lebe aber schon seit fast
zehn Jahren in Hamburg. Das Milieu in den nordischen Großstädten ist recht
ähnlich. Durch ihre Häfen sind sie weltoffen und tolerant. Republikaner
finden Rückhalt bei Kaufleuten und Bildungsbürgern. Kommunisten und
Sozialisten erwachsen den Industriearbeitern ... ``
,,Die Ausbildung städtischer Hochkulturen begann schon
mit dem Übergang zum Bauerntum, der neolithischen Revolution``,
nahm Sofie den Faden wieder auf. ,,Feministinnen datieren mit dem
Seßhaftwerden der Menschen einen Urputsch der Männer, die seitdem im
Geschlechterkampf die Oberhand behalten haben.``
Hilde sah sie erstaunt an; aber Niels fuhr ungerührt fort: ,,Für die
Kommunisten beginnt mit dem Privateigentum an Grund und Boden der
Klassenkampf zwischen Besitzenden und Besitzlosen. Sehen die Kommunisten
in der bisherigen Geschichte lediglich eine Folge von Klassenkämpfen,
reduzieren Faschisten die Geschichte auf fortwährende Rassenkämpfe.``
,,Womit wir bei den Weltanschauungen wären``, warf Hilde ein.
Niels griff die Überleitung auf: ,,Der Faschismus wird nach dem
italienischen Wort fascio benannt. Es steht für das altrömische
Rutenbündel, ist also ein Symbol für Gewaltherrschaft. Im Weltbild der
Faschisten ist die Geschichte aller bisherigen Völker die Geschichte
von Rassenkämpfen. Politik ist nach Hitler die Führung des
Verlaufs des Lebenskampfes eines Volkes. Ihre Grundbegriffe sind
Rasse, Raum und Reich. Sie gipfelt in dem Ausspruch: Ein Volk, ein
Reich, ein Führer! Kennzeichen faschistischer Politik sind Sozialdarwinismus,
Rassismus und Führerkult. Der Kommunismus hat seinen Namen von dem
lateinischen Wort communis, d.h. gemeinsam. Nach Marx ist sein Ziel eine
Gemeinschaft (communitas), worin die freie Entwicklung eines jeden
die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist. Im Weltbild der
Kommunisten ist die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft die Geschichte
von Klassenkämpfen. Politik ist für sie die Führung des Verlaufs des
Klassenkampfes. Ihre Grundbegriffe sind die Paare: Proletariat und Bourgeoisie,
Arbeit und Kapital.
Das Kommunistische Manifest
gipfelt in dem Ausspruch: Proletarier aller Länder, vereinigt euch!
Kennzeichen kommunistischer Politik sind: Materialismus, Proletarismus und
Führerkult. Der Republikanismus wird benannt nach dem lateinischen
Ausdruck res publica, d.h. öffentliche Angelegenheit. Sein Ziel ist
die Schaffung eines bürgerlichen Rechtsstaates, der Republik. Nach Ansicht
der Republikaner sollten jegliche Konflikte, insbesondere Rassen- und
Klassenkämpfe, durch Verhandlungen, öffentliche Diskussionen und Wahlen
entschieden werden. In Anknüpfung an die Polis, dem altgriechischen
Stadtstaat, gibt die Politik durch Schaffung geeigneter Gesetze den Rahmen
aller Konfliktlösungen vor. Das Gewaltmonopol liegt beim Staat. Die
republikanischen Grundbegriffe sind: Bürger, Recht, Staat. Bürgerrechte,
Gesetzgebung und Staatsverwaltung dienen der Verwirklichung von Freiheit,
Gleichheit und Brüderlichkeit. Kennzeichen der Republik sind: Humanismus,
Parlamentarismus und Demokratie.``
,,So kurz und bündig hat mir noch keiner die Grundorientierungen in der
Vielfalt politischer Richtungen erläutert``, sagte Sofie nach einer Weile
anerkennend. ,,Details sind mir allerdings nicht klar geworden.``
,,Die innere Stimmigkeit des Faschismus ist erschreckend``, entfuhr es
Hilde aufgebracht. ,,Wenn man nicht seine
furchtbaren Auswirkungen
unter Hitler mitbedenkt, wird er verharmlost!``
,,Im historischen Zusammenhang betrachtet, setzen Faschisten bis heute
fort, was mit den Lebenskämpfen der Völker, Stämme und Sippen vor
Jahrmillionen begann``, entgegnete Niels nüchtern. Die Stammesfehden
in Afrika und der blutige Rassismus auf dem Balkan sind Beleg einer
Grundtendenz im Menschen, unter extremen Randbedingungen Eigenes
und Fremdes haßerfüllt zu trennen. Wie die rassistischen Übergriffe
der Rechtsradikalen im wiedervereinigten Deutschland gezeigt haben, leben auch
wir hier nur in einer Schönwetterdemokratie. Unter ungünstigen
wirtschaftlichen Bedingungen brechen offen Neid und Mißgunst auf. Entsprechend
kanalisiert machen sie eine Gewaltherrschaft jederzeit möglich. Ihr müßt
Euch einmal klar machen, daß 1929/30 in Deutschland fast die Hälfte aller
Erwerbstätigen arbeitslos oder teilzeitbeschäftigt war.``
,,Das Problem sind die unkontrollierten Leidenschaften, insbesondere
wenn sie zu Gruppeninteressen einer Bewegung werden. Die Menschen sind
Herdentiere.`` Hilde dachte einen Moment nach, bevor sie ergänzte:
,,Insofern ist der american way of life eine wirksame Möglichkeit,
durch friedfertigen Wettbewerb in Sport und Werbung, Mode und Popkultur die
Gemüter im Zaum zu halten.``
,,Das funktioniert aber auch nur auf der Basis wirtschaftlichen Wohlstands
und hat die schon sichtbare ökologische Katastrophe zur Folge``, warf
Sofie ein.
,,Worauf es ankommt, wäre eine Politische Ökologie``,
vermittelte Niels, ,,in der Wettbewerb und Umwelterhaltung vereinbar
sein sollten. Die Chancen dafür stehen allerdings schlecht.`` Nach
einem Moment betretenen Schweigens wechselte Niels das Thema: ,,Laßt
uns für heute Schluß machen. Übermorgen sehen wir uns wieder, um uns in die
Situation Einsteins hineinzuversetzen. Ich werde Euch besuchen und das
Frühstück mitbringen.`` Niels stand auf, lächelte den Mädels zu und
ging.
Nach einer Weile erhob Sofie das Wort: ,,Die Faschisten nutzten in perfider
Weise die soziale Not der Massen aus ...``
,,... und stimulierten
die latenten Aggressionen, förderten den Fremdenhaß``, ergänzte Hilde.
,,Was meintest Du eigentlich mit innerer Stimmigkeit des
Faschismus?`` entgegnete Sofie fragend und fuhr fort: ,,Die
faschistische Ideologie ist doch mit Russell als schlechte
Metaphysik zu verstehen!``
,,Eben! Wer an den Kampf ums Dasein glaubt und sich zur
Herrenrasse zählt, für den sind doch die Folgen konsequent.
Sklaverei, Hexenwahn und Antisemitismus entspringen dem gleichen Gefühlssumpf!
Den Sklaven, Hexen oder Juden gegenüber konnte sich noch der letzte Depp als
Herrenmensch aufführen. Allmachtsphantasien erwachsen gerade dem
sozialen Elend. Das meinte ich mit innerer Stimmigkeit``, beschloß
Hilde ihren Ausfall, indem sie sich zurücklehnte. Sofie schaute sie
erwartungsvoll an. ,,Gewalt aus Ohnmacht, als überkompensiertes
Minderwertigkeitsgefühl, ist von den Faschisten geradezu vergesellschaftet
worden. Aus ähnlichem Gefühlshaushalt nähren sich auch die Kommunisten. Die
Republikaner appellieren demgegenüber an die
Einsicht.
Deshalb hängen sie
am Tropf wirtschaftlichen Wohlstands.``
,,Ich verstehe``, erwiderte Sofie langsam. ,,Aber nicht nur
Armut und Elend bedingen schlechte Metaphysik wie Ideologien und Religionen.
Der Pragmatismus entsprang doch gerade dem Wohlstand des US-Kapitalismus
... ``
,,Wie dem auch sei``, lenkte Hilde ein, ,,laß uns aufbrechen.
Wir könnten uns endlich `mal ungestört auf dem DESY-Gelände umsehen ... ``
Sie verließen die Mensa und bemerkten am Stand der Sonne, daß es schon
später Nachmittag sein mußte.