In den Realwissenschaften geht es nicht nur um das theoretische Argumentieren mit Formeln, sondern um das praktische Handhaben von Realien. Das Sprachhandeln kann dafür nicht hinreichend sein. Wesentlich zur Gewinnung von empirischem Wissen ist das Tathandeln. Neben der Sprachpraxis des Miteinanderredens ist die Handwerkspraxis in den Werkstätten zu rekonstruieren. Im Unterschied zur Sprache, die der intersubjektiven Kontrolle bedarf, sind es beim Werken die Eigenheiten der Dinge selbst, die eine Erfolgskontrolle gestatten. Geräte funktionieren zweckmäßig - oder eben nicht. Gleichwohl bedarf natürlich die wissenschaftliche Redlichkeit der ständigen Überprüfung durch die scientific community. Unseren Vorfahren gelang z.B. der Bau von Mammutfallen, das Fertigen von Speeren, das Aushöhlen von Einbäumen so gut, daß sie überlebten und sich behaupten konnten. Bis heute sind wir lebenspraktisch an die Periodizität von Tag und Nacht gewöhnt. Neben der Bestimmung von Dauern, z.B. durch das Zählen der Sonnenaufgänge oder der Mondzyklen, lernten unsere Vorfahren auch die Abschätzung von Entfernungen, z.B. durch Vergleich mit Fußlängen oder Wurfweiten. Den Realwissenschaften ging also eine langjährige Meßpraxis zur Bestimmung von Dauern, Entfernungen und Gewichten voran. Sie gilt es zu rekonstruieren. Denn im Selbstverständnis der methodischen Konstruktivisten ist Wissenschaft bloß hochstilisierte Lebenspraxis. Schauen wir zu, was darunter zu verstehen ist.
Im Gegensatz zur unmittelbar über Leben und Tod entscheidenden Erfolgskontrolle im Lebensalltag unserer Vorfahren, entstand die Wissenschaft im Schutz hoher Stadtmauern der frühen Hochkulturen, z.B. mit der Beobachtung des Sternenhimmels oder der Ausmessung von Baugelände. Neben kontrollierter Beobachtung und Messung ist seit Galilei das Experiment zentraler Bestandteil der Erfolgskontrolle empirischer Hypothesen. Was es zu rekonstruieren gilt, ist die Physik als quantitative Experimentalwissenschaft. Quantitativ ist das Messen durch Vergleich von Entfernungen, Dauern und Gewichten mit Standard-Einheiten. Das Messen liefert also dimensionslose Verhältniszahlen. Z.B. wie häufig ein Fuß als Wegeinheit in der Entfernung zum Tempel enthalten ist. In der Schule haben wir gelernt, daß physikalische Größen immer aus einem Zahlenwert und einer Maßeinheit bestehen. Genaugenommen ist das nicht ganz richtig. Es soll lediglich daran erinnern, welche Einheit der Messung zugrunde gelegt wurde. In der Meßpraxis entstand übrigens ein Einheitenproblem, das als Inkommensurabilitätsproblem in die Wissenschaftsgeschichte einging. Was ist zu tun, wenn z.B. die Zahl der Wegeinheiten nicht ganzzahlig in der zu messenden Entfernung aufgeht? Es sind die rationalen Zahlen zu abstrahieren oder die Einheiten zu verkleinern. Bereits in der Antike trat zudem das Problem auf, daß Entfernungen sogar irrational sein konnten. Ich will hier die mathematische Fragestellung nicht weiter vertiefen, aber auf den Euklidischen Algorithmus verweisen, mit dem die Kommensurabilität zweier Zahlen durch Bestimmung des größten gemeinsamen Teilers gelingt.
Kommen wir zum Experiment. Es dient der Erfolgskontrolle und muß reproduzierbar sein. Die Reproduzierbarkeit ist eine sehr starke Forderung und setzt viel Geschick und Erfindungsreichtum beim Experimentieren voraus. Bei den heutigen Experimenten in der Hochenergiephysik z.B. sind jeweils weltweit mehrere hundert Wissenschaftler und eine Vielzahl von Ingenieuren und Technikern beteiligt. Aus dem Zwang zur weltweiten Teamarbeit heraus ist auch das WWW entstanden. Kommen wir zum Grundproblem einer methodischen Rekonstruktion der Physik. Das Experiment dient der Bestätigung einer Hypothese, z.B. der Voraussage, daß die Fallbeschleunigung unabhängig vom Gewicht des fallenden Steins ist. Galilei übertrug das Problem auf die schiefe Ebene. Die so meßbaren Falldauern bestimmte er in Einheiten seines Pulses oder indem er sie mit der Wasserstandsänderung in einem Behälter verglich, aus dem er zugleich kontinuierlich Wasser auslaufen ließ. Man muß sich zu helfen wissen. Ich vermute, der Leser erahnt das grundsätzliche Meßproblem. Wie kann ich die Konstanz und Invarianz der Maßeinheiten garantieren, ohne bereits auf wissenschaftliche Hypothesen zurückgreifen zu können? Die Antwort der Konstruktivisten lautet: durch Ideation. Wie kommen wir zur Auszeichnung einer geraden Linie oder ebenen Fläche als Basis der Geometrie? Wie konstruieren wir eine gleichförmige Bewegung zur Grundlegung der Chronometrie? Im Schulunterricht werden Raum und Zeit einfach als Grundgrößen unterstellt. Wissenschaftstheoretiker können sich diese Nachlässigkeit nicht erlauben. Die methodischen Konstruktivisten haben ein Ideationsverfahren vorgeschlagen, daß aus zwei Schritten besteht:
Es ist wichtig hervorzuheben, daß es sich beim Homogenitätsprinzip um eine Norm handelt. Zur Auszeichnung einer Ebene wird z.B. die Ununterscheidbarkeit aller Bereiche einer Seite gefordert. Diese Norm wird z.B. realisiert durch das Dreiplattenverfahren des aufeinander Abschleifens je zweier Steine. Zwei Seiten werden dadurch hinsichtlich ihres Passens durch Verschiebung aufeinander ununterscheidbar. Wesentlich beim Ideieren ist das Realisierungsverfahren. Ideale existieren nur bzgl. einer Realisierung. Genau wie beim Abstrahieren werden auch beim Ideieren keine neuen Gegenstände erzeugt. Es wird lediglich so getan, als ob die (ideale) Norm (real) erfüllt worden sei. In logischer Formulierung:
H(r) steht für ein Homogenitätsprinzip bzgl. eines realen Terms r. A(i) meint eine Aussageform bzgl. eines idealen Terms i. Reale Terme, wie Ecken und Kanten, sind Bestandteil der Handwerkspraxis. Ideale Terme, wie Punkte und Geraden, sind Ausdrücke der Geometrie. Die Ideation () von Aussageformen mit realen Termen zu Aussageformen mit idealen Termen kann vollzogen werden, wenn die Aussageform logisch aus dem Homogenitätsprinzip folgt.
Die Konstruktivisten haben das Ideationsverfahren mit Erfolg zur methodisch
geordneten Auszeichnung von Strecken, Dauern, Massen und Ladungen
angewandt. Die Details können ihrer Protophysik entnommen werden.
Es sei hier noch angemerkt, daß auch die Bestimmung von Dauern durch
uhrenfreien Vergleich der Gleichförmigkeit von Bewegungen möglich ist.
Neben Raum und Zeit gehören zur Realisierung von Experimenten natürlich
noch eine Fülle weiterer Normen. Die quantitative Reproduzierbarkeit als
Leitforderung des Experimentierens jedenfalls ist allein technisch,
d.h. vorwissenschaftlich erfüllbar. Der Physik als Experimentalwissenschaft
gehen nicht nur Sprachpraxis und Mathematik voran, sondern auch Handwerk
und Technik. Das ist der Grund, warum die Konstruktivisten die Physik
lediglich als Hilfsdisziplin der Ingenieurwissenschaften einstufen.
Ein Analytiker könnte folgenden Einwand vorbringen:
Es paßt nicht zusammen, den Ansatz der Konstruktivisten als Mittelweg
zwischen Formalismus und Realismus bzw. Idealismus und Materialismus
darzustellen und in einem Atemzug von der Zweckmäßigkeit idealer
Normen und von den Eigenheiten realer Dinge zu sprechen.
Hinsichtlich der Zweckmäßigkeit können Handlungen natürlich scheitern
oder gelingen. Das ist aber eine Frage des Pragmatismus und nicht des
Realismus. Was soll darüber hinaus ein Kriterium für Realien sein?
Zu Realien werden die schlicht vorgefundenen Dinge, indem wir sie
bearbeiten, Hand anlegen. Betrachten wir als Beispiel einen Holztisch. Der
Weg seiner Herstellung führt aus dem Wald über verschiedene Transportwege,
das Sägewerk, die Möbelfabrik und das Möbelgeschäft zum Nutznießer
in die Wohnung. Den Wald finden wir zunächst einfach vor. Egal ob wir
die Bäume als Schattenspender nutzen oder roden, um Möbel herzustellen.
Es gehört zu den Eigenheiten von Holz, daß es nicht lichtdurchlässig
ist und schwimmt, so daß wir als Transportwege auch Flüsse wählen
können (sofern es sich nicht um Eisenholz handelt).
Ein durch Blitzschlag getroffener Baum falle ins Wasser und werde
mit der Strömung fortgerissen. Das Holz des Baumes ist in beiden Fällen
leichter als Wasser, egal ob wir den Baum rodeten oder ein Unwetter ihn
niederriß. Mit Eigenheiten sind die quasi zweckinvarianten Eigenschaften
des Holzes gemeint. Und daß wir Rohstoffe wie Holz einfach vorfinden, ist eine
Erfahrungstatsache der Lebenspraxis.
Der common sense des Alltags soll hier gar nicht in Frage gestellt werden, könnte
ein kritischer Rationalist seinen Einwand beginnen.
Was am Konstruktivismus aber stört, ist, daß er mit
den Prototheorien ein gesichertes vorwissenschaftliches Wissen meint auszeichnen
zu können. Das ist ein Rückfall in den Apriorismus Kants. Der konstruktivistische
Wissensfanatismus ist unvereinbar mit dem Fallibilismus und Relativismus des
Wissens.
Nun, die Fehlbarkeit des Alltags und der Wissenschaften wird gar nicht geleugnet. Als sicher erweisen sich lediglich methodisch geordnete Verfahren hinsichtlich ihrer Zweckmäßigkeit. Wenn wir uns auf den Zweck der Physik als einer quantitativen Experimentalwissenschaft geeinigt haben, kommen wir nicht um eine normative Bestimmung des Experimemtieraufbaus herum. Empirisch am Ausgang eines Experiments ist lediglich die Quantität einer Meßgröße; ihre Qualität ist normativ und kann mit den Mitteln des Experiments natürlich nicht in Zweifel gezogen werden. Normative Gewißheit und empirische Fehlbarkeit ergänzen einander, sie widersprechen sich nicht.
Und wenn der Hinweis auf den Relativismus darauf anspielen soll, daß die Euklidische Geometrie
der Handwerkspraxis nicht als Grundlage der Relativitätstheorie taugt,
können wir darauf verweisen, daß die Euklidische Geometrie
im Meßgerätebau sogar zwingend ist.
Der Analytiker hat natürlich einen weiteren Einwand parat:
Insofern man zu Handlungen auffordern können
muß, gibt es überhaupt keine sprachfreien Handlungen.
Das mögen weltfremde Sprachphilosophen so sehen, die selten Hand angelegt, im stillen Kämmerlein gebastelt oder Kinder beobachtet haben. Kinder handeln häufig schlicht durch Nachahmung, nicht nach Aufforderung. Gemessen an der Lebenspraxis ist eine Definition des Handelns in Abhängigkeit einer Aufforderung einfach unangemessen und viel zu einschränkend.
Abschließend ein Hinweis auf die Lebenspraxen, aus denen neben Mathematik und Physik Informatik, Biologie und Soziologie hochstilisiert werden können:
Handwerk und Technik, kurz die Zweckrationalität des Pragmatismus,
sollen gar nicht in Zweifel gezogen werden, brennt der Analytiker auf seinen
Einwand, aber dann schon konsequent! Die zweckinvarianten Eigenheiten
der Dinge; was bleibt von ihnen ohne sprachlichen Ausdruck?
Das meiste bleibt! Daß wir Dinge nur sprachlich vermitteln können,
heißt nicht, daß es nur sprachliche Dinge gibt!
Das gleiche gilt für das Tathandeln sowie für Sinne und
Motorik. Die Welt existiert nicht nur, weil wir sie bearbeiten oder
sinnnlich-motorisch erfahren. Gleichwohl sind uns natürlich nur Aspekte
der Dinge zugänglich; nämlich nur insoweit wie wir aus den Evolutionsbedingungen
auf der Erde heraus in der Lage sind zu extrapolieren.
Auch der kritische Rationalist läßt nicht locker:
Aus der Gegenüberstellung von normativer
Gewißheit und empirischer Fehlbarkeit könnte ein tragfähiger Kompromiß
hervorgehen. Im Gegensatz zu den Dialektikern wissen die Konstruktivisten wenigstens
wovon sie reden. Und im Gegensatz zu den Analytikern orientieren sie sich an
der Lebenspraxis. Greifen wir also das Beispiel des Marktes auf. Der Markt der Ökonomen
ist ein Ideal im Sinne der Konstruktivisten. Aber wie sieht es mit dem Ideal der
Gesellschaft aus? Hat sein Erstreben im Faschismus und Kommunismus nicht
unsägliches Leid über die Menschen gebracht? Was können wir dagegen tun,
daß Politiker und Ideologen die Gewißheit der Ideale nicht mit der Fehlbarkeit
der Realien verwechseln?
Gegen Dummheit ist kein Kraut gewachsen. Auch nicht gegen das Opium der Ideale,
wenn sie keinem Realisierungsverfahren genügen, wie in den Religionen und Ideologien.
Bis auf weiteres haben wir nichts besseres als Toleranz und Demokratie.
Das Erstreben der idealen Sprechsituation
ist die Grundlage der res publica.
Die Ideale der Freiheit, Gleichheit, Klarheit und Wahrheit bleiben die
Richtschnur des Handelns, nicht eigensüchtige Machtpolitik durch
Volksverführung und Ausbeutung.
Abschließend der Hinweis auf eine Konsequenz des Messens
durch Vergleichen. D.h. was meßbar ist, das wirkt nicht
nur im Meßgerät, sondern auch in den Realien. Kurz: was meßbar ist,
das existiert bzw. nach Transposition: was nicht existiert, das ist nicht
meßbar. Da die Meßgeräte aus den gleichen Stoffen bestehen wie die
vorgefundenen Dinge, ist das auch nicht verwunderlich. Denn die Realien,
seien es nun Konsumgüter oder Meßgeräte, werden lediglich durch
Umwandlung aus den Naturressourcen gewonnen, nicht erzeugt. Die Zwecke
bilden das Ziel der Umwandlung; sind aber nicht der Stoff. Insofern ist
die Meßbarkeit ein Existenzbeweis für Realien.
Der methodische Konstruktivismus könnte sich so als ein analytischer
Materialismus erweisen.