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Für eine Erneuerung der Moderne

Im Gegensatz zur Flucht der Künstler in die Postmoderne und dem Rückfall der Moralisten ins Mittelalter, möchte ich den kritischen Gehalt der Moderne erneuern. Dazu müssen wir uns klarmachen, vor welchen Problemen die Humanisten und Künstler-Ingenieure der Renaissance standen. Und wie sich im Schatten der Aufklärung Sadismus und Nihilismus entwickeln konnten. Die scientia nova der Renaissance hob an mit einer Kritik der Scholastik. Den Kathetertheologen des Mittelalters wurden nicht nur die philosophischen Schriften der Antike entgegengehalten. Erstmals in der Geschichte der Menschheit verbanden sich praktische Arbeitserfahrung und theoretische Philosophie zu einer neuen Wissenschaft. Nicht mehr die Berufung auf Autoritäten und die Zitate aus verstaubten Büchern dienten der Begründung. Das neue Wissen entsprang vielmehr eigener Erfahrung, die mit Hilfe technischer Geräte und mathematischer Verfahren gemacht wurde. Die experimentellen Philosophen hatten den Mut, sich ihres eigenen Könnens und Denkens zu bedienen. Die äußere Bewährung des Wissens wurde zum schlagenden Argument. Den kirchlichen Dogmen wurden die Erfahrungsurteile aus der Arbeitswelt, den Laborexperimenten und Feldbeobachtungen entgegengehalten. Theorien mußten sich fortan empirisch bewähren.

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit formulierte Kant . Der Aufklärungsphilosoph kritisierte das Wissen seiner Zeit in dreifacher Hinsicht: In seiner Kritik der reinen Vernunft reflektierte er die Grundlagen der Naturphilosophie. Seine Kritik der praktischen Vernunft zielte auf eine Fundierung der Moralphilosophie. Und in der Kritik der Urteilskraft problematisierte er die Beliebigkeit von Geschmaksfragen in der Kunstphilosophie. Woher rührt die Geltung der Gesetze in Natur, Moral und Kunst? fragte er sich. Seinem transzendentalen Ansatz folgend, untersuchte er die Bedingungen der Möglichkeit von Wahrheit, Gerechtigkeit und Schönheit. Er legte die unterstellten Idealisierungen in Epistemik, Ethik und Ästhetik frei und verstrickte das reine Denken in Antinomien. Seine Antinomie des Unendlichen z.B. nahm in genialer Weise den Widerspruch in der Cantor'schen Mengenlehre vorweg. Denn Gedanken ohne anschaulichen Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. In Kants Philosophie erstreckt sich die Vernunft auf drei Bereiche: Wissenschaft, Moral und Kunst. Im Weltbild der Menschen seiner Zeit hatten sich drei Welten ausdifferenziert: die objektive, die soziale und die subjektive Welt. Kant suchte die Wahrheit der Tatsachen, die Gültigkeit der Normen und die Wahrhaftigkeit der Erlebnisse transzendental zu fundieren. Die innere Vollkommenheit des Wissens wurde zum schlagenden Argument. Kant lenkte die Aufmerksamkeit seiner Zeitgenossen auf die immer schon unterstellten, aber nie thematisierten Voraussetzungen ihres Denkens.

Was blieb nach Kant noch zu kritisieren? Er hatte die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrungsurteilen freigelegt. Vor aller Erfahrung sind es die Anschauungsformen von Raum und Zeit, die eine Orientierung allererst ermöglichen. Auch Kants Ansatz blieb aber seiner Zeit verhaftet. Stützte er sich doch auf die Physik Newtons und die Mathematik Eulers . Nichteuklidische Geometrie sowie Relativitäts- und Quantentheorie konnte er natürlich nicht vorhersehen. Die Wissenschaft entfaltet sich in der Geistesgeschichte ebenso wie das Leben in der Evolution. Kants zur Erkenntnistheorie geläuterte Philosophie reflektierte weder den Erkenntnisapparat, noch die historische Situation seiner Zeit. Erst mit Vico und Hegel wurde der Entwicklungsgedanke des Geistes in die Philosophie aufgenommen. Dabei schreitet der Geist im dialektischen Dreischritt stufenweise im Modell der Ebenen und Krisen von der Sinnenwelt bis hin zum absoluten Geist, in dem alles aufgehoben bleibt. Marx stellt Hegel gleichsam vom Kopf auf die Füße. Nach ihm entwickelt sich Geschichte aus dem Widerstreit von Poduktivkräften und Produktionsverhältnissen. Die Basis der Lebensverhältnisse präge den Überbau des Geistes: Bewußtsein heiße bewußtes Sein. Marx übernimmt von Hegel die dialektische Methode. Er wendet sie aber nicht auf den Geist, sondern auf die materiellen Lebensbedingungen an. Folglich endet die Entwicklung bei ihm auch nicht im absoluten Geist. Der Kapitalismus werde sich vielmehr über den Sozialismus zum Kommunismus fortentwickeln. Triebkraft dafür sei die Eigengesetzlichkeit der Dialektik von Arbeit und Kapital. Marxens Kritik der politischen Ökonomie ist zugleich der Philosophie Hegels und via Kant der Physik Newtons verpflichtet.

Im Zuge der industriellen Revolution verschärften sich die Gegensätze zwischen Anspruch und Wirklichkeit der bürgerlichen Ideale. Die Fortschrittsgläubigen setzten rücksichtslos auf die Entfaltung der Produktivkräfte. Durch Positivismus und Pragmatismus wurde die Wissenschaft in den Dienst des Kapitals genommen. Die wissenschaftliche Betriebsführung gipfelte in der Massenproduktion durch Fließbandarbeit. Aber Bewegungen rufen Gegenbewegungen hervor. Das auch in der Dialektik thematisierte Gegenwirkungsprinzip hatte Newton bereits in der Natur gesehen: Stabile natürliche Vorgänge resultieren aus einem Gleichgewicht der Kräfte. In der Medizin ist z.B. seit langem das Gegenwirken antagonistischer Muskeln sowie von symphatischem und parasymphatischem Nervensystem bekannt. Verhaltensforscher wiesen das Gegenwirkungsprinzip im Schwanken zwischen Flüchten oder Standhalten nach. Und in der Gesellschaft halten Reformer und Reaktionäre einander die Waage.



 
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Ingo Tessmann
5/30/1998