Nachdem infolge der kinetischen Theorie ,,der geordnete Zustand auf dem Niveau des Sichtbaren durch das Chaos auf dem des Nicht-Sichtbarenërklärt werden konnte, kehrte Einstein in seiner in der Überschrift genannten Arbeit ,,die Richtung des Erklärungsvorgehensërneut um. Die zufälligen Bewegungen der suspendierten Teilchen waren zur Gänze durch die einfachen Newton'schen Gesetze erklärbar (12., S. 39, vgl. innere Vollkommenheit). Des weiteren ging es Einstein darum, den Atomismus vom Ruch der Metaphysik zu befreien (äußere Bewährung), den er vom Energetiker Mach innerhalb seiner positivistischen Kritik der Mechanik erhielt. Die experimentelle Bestätigung der atomistischen Struktur der Materie verlieh den Atomen demgegenüber die Weihe zumindest indirekt beobachtbar zu sein: Einsteins Hauptziel war es, ,,Tatsachen zu finden, welche die Existenz von Atomen von bestimmter endlicher Größe möglichst sicherstellten'' (5., S. 18).
Einstein beginnt seine im Titel dieses Abschnittes genannte Arbeit (30.) mit den Worten: ,,In dieser Arbeit soll gezeigt werden, daß nach der molekularkinetischen Theorie der Wärme in Flüssigkeiten suspendierte Körper von mikroskopisch sichtbarer Größe infolge der Molekularbewegung der Wärme Bewegungen von solcher Größe ausführen müssen, daß diese Bewegungen leicht mit dem Mikroskop nachgewiesen werden können.'' Gemäß seiner Formulierung im Anschluß an Kant: ,,Das Wirkliche ist uns nicht gegeben, sondern aufgegeben'' (31., S. 505); oder seiner Äußerung gegenüber Heisenberg: ,,Erst die Theorie entscheidet darüber, was man beobachten kann`` (32., S. 80), liefert die Theorie hier überhaupt erst die Voraussetzungen dafür, die Molekularbewegung indirekt zu messen.
Unter Einschränkung der phänomenologischen Thermodynamik und mit Hinweis auf die Atomgröße fährt Einstein fort: ,,Wenn sich die hier zu behandelnde Bewegung samt den für sie zu erwartenden Gesetzmäßigkeiten wirklich beobachten läßt, so ist die klassische Thermodynamik schon für mikroskopisch unterscheidbare Räume nicht mehr als genau gültig anzusehen und es ist dann eine exakte Bestimmung der wahren Atomgröße möglich`` (30., S. 549). Unzufrieden darüber, daß der osmotische Druck suspendierter Körper im Gegensatz zu dem gelöster Substanzen nach der klassischen Theorie nicht zu erwarten wäre, zeigt Einstein dann: ,,daß die Existenz des osmotischen Druckes eine Konsequenz der molekularkinetischen Theorie der Wärme ist, und daß nach dieser Theorie gelöste Moleküle und suspendierte Körper von gleicher Anzahl sich in Bezug auf osmotischen Druck bei großer Verdünnung vollkommen gleich verhalten'' (30., S. 553).
Unter dem Titel: ,,Theorie der Diffusion kleiner suspendierter Kugeln`` (30., S. 554) leitet er dann her, daß ,,der Diffusionskoeffizient D der suspendierten Substanz außer von ,,universellen Konstanten und der absoluten Temperatur nur vom Reibungskoeffizienten der Flüssigkeit und von der Größe der suspendierten Teilchen abhängt'' (30., S. 555f):
Es bedeuten k die Boltzmann-Konstante, R die allgemiene Gaskonstante, T die absolute Temperatur, N die Anzahl der in einem Mol enthaltenen Moleüle, die Viskosität und r der Kugelradius der suspendierten Teilchen.
Für die mittlere Verschiebung (in Richtung der x-Achse) bei der ungeordneten Bewegung von in einer Flüssigkeit suspendierten Teilchen erhält Einstein schließlich mit Gleichung (4.2.1) ein zur Quadratwurzel der Zeit t proportionales Ergebnis (30., S. 559):
Bei Messung der Verschiebung ließe sich diese Beziehung zur Bestimmung von N (oder k) benutzen. Und Einstein schließt seine Arbeit mit den Worten: ,,Möge es bald einem Forscher gelingen, die hier aufgeworfene, für die Theorie der Wärme wichtige Frage zu entscheiden!'' (30., S. 560).
Die durch Einsteins Formel (4.2.2) überhaupt erst möglich gewordene Messung der Brown'schen Bewegung gelang (bei vollkommener Bestätigung) J. Perrin 1909 (24., S. 79).
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Ingo Tessmann