Um den Bogen von den Mythen zur Wissenschaft zu spannen, sei von den Grundthemen
der indo-europäischen Mythen und antiken Naturphilosophien ausgegangen. Den
Naturgewalten ausgesetzt und angesichts des Sternenhimmels, der Periodizitäten
der Sonnentage und Mondnächte, begannen die Menschen sich Gedanken über den
Grund des Seins, Werdens und Vergehens zu machen. Ernährung und Paarung, Geburt
und Tod bildeten den Ausgang ihrer Weltdeutungen. In den ältesten überlieferten
Mythen ist bereits das Bestreben zu erkennen, alle Dinge und Vorgänge aus einem
Urgrund heraus zu verstehen. Am Anfang war das Eine, das sich aus dem Wechselspiel
von Gegensatzpaaren entwickelt. Liebe und Haß regieren das Miteinander der Menschen,
Anziehung und Abstoßung den Lauf der Gestirne. Die Frage nach dem Urgrund (arche)
und dem Urgesetz (logos) der Welt entnehmen die antiken Philosophen den Mythen. Die
Frage nach der Wahrheit verbinden sie mit dem Unverborgenem (aletheia). Die Werte
des Handelns orientieren sie am Guten (agathon) und der Tugend (arethe). Als höchstes
Ziel gilt ihnen die Erlangung der Glückseligkeit (Eudämonie). Mit der Fraglichkeit
der Überlieferung und ihrer Prüfung auf Wahrheit und Vortrefflichkeit begann die
erste Aufklärung. In seiner Apologie formulierte Sokrates seine Lebenshaltung
des Vernunftgebrauchs: ,,Mein ganzes Leben lang halte ich es so, daß ich
nichts anderem gehorche als dem Logos, der sich mir in der Untersuchung
als der beste erweist``. Die Mythen waren bloß beschreibend und stifteten ein
Gemeinschaftsgefühl aus gleicher Herkunft und Weltsicht.
Geht das Gemeinschaftsgefühl verloren, tauchen Fragen auf.
Silenius hat uns 2000 Jahre später folgende Zeilen überliefert:
Warum die Verwunderung? Sind nicht glücklich die Naiven, die ohne Wissen sind?
Handelt es sich bei unserer Frohnatur vielleicht um ein Findelkind, das irgendwie
aufgezogen wurde, nun ziellos über's Land zieht und sich als Spaßmacher verdingt?
Hat er sich trotz widriger Umstände den kindlichen Frohsinn bewahrt? Oder erweckte
womöglich der Wein die Wahrheit und ließ die Zeilen bei einem Zechgelage entstehen?
Hatte er im Rausch vergessen, wer er war, woher er kam und wohin er wollte? Wir
wissen es nicht. Über den Sinnzusammenhang der Zeilen könnte man viele weitere
Mutmaßungen anstellen. Ohne Kenntnis der Umstände werden es aber immer Spekulationen
bleiben. Die Rede erfolgt stets in einem Kontext, der durch Übertragung in die
Schrift meistens verloren geht.
Da wir uns hier mit Philosophie beschäftigen wollen, nehmen wir die Zeilen als
grundsätzlichen Ausdruck des Menschseins, nicht als Äußerung eines Menschen
in einer bestimmten Situation. Die weitgehende Situationsinvarianz ist ja gerade
der große Vorteil der Schrift gegenüber der Rede. Ein Philosoph wird zunächst
im Rahmen der klassischen Logik durch Kontraposition und doppelte Negation folgern:
Wenn Unwissenheit Fröhlichkeit zur Folge hat, dann wird das Fehlen
von Frohsinn auf Wissen schließen lassen. Aber warum die Verwunderung? Unsere
Frohnatur ist offenbar anderer Meinung. Glücklich sind die Weisen, die das Wissen
haben. Damit stehen sich zwei Ansichten gegenüber. Anstatt sich seines Glücks
jeweils zu erfreuen, wird es problematisiert und ruft Verwunderung hervor. Treffend
drückt es der Volksmund aus:
Der Stachel der Verwunderung treibt den Naiven zum Wissen. Sich Zeit ihres Lebens wundern zu können, unterscheidet Philosophen und Wissenschaftler von anderen Menschen: Was sind die Dinge? Was ist der Mensch? Wer bin ich selbst? Woher kommen die Dinge, die Menschen, ich selbst? Wohin entwickeln sich die Dinge, die Menschen, ich selbst?
In vielen Mythen und Naturphilosophien steht am Anfang das Eine, der Urgrund des Seins. Aber warum ist es nur Eines und nicht Vieles, fragt sich der Philosoph im Gegensatz zum Mythenerzähler. In der griechischen Antike führte man Widerspruchsbeweise: Wenn es viele Dinge gibt, dann sind sie einander ähnlich und unähnlich. Solches, das ähnlich ist, kann aber nicht zugleich unähnlich sein. Also gibt es nicht viele Dinge. Moderne Naturphilosophen zeigen, daß der Umwandelbarkeit der Dinge ineinander die Energie zugrunde liegt: E = m c2. Dabei entwickeln sich die Dinge so, daß ihre Energie in der Regel ein minimales Vielfaches wird von: . In den beiden Formeln steht m für die Masse und für die Frequenz.
Ist es die Energie, die in allem wirkt und alles schafft? Ist nicht vielmehr
alles Zahl und berechenbar? In natürlichen Einheiten ausgedrückt, ist alles
Zahl, wie Naturphilosophen vorrechnen: Das akademische Viertel, die
fünfzehn minütige Pause, beträgt . Die 800 km von Hamburg nach
München belaufen sich auf . Und die Masse eines Menschen von 75 kg
liegt bei . Weil sich aus den Naturkonstanten der Gravitation, der
Lichtgeschwindigkeit und des Wirkungsquantums alle physikalischen Einheiten
berechnen lassen, sind die physikalischen Sätze als dimensionslose Zahlenwertgleichungen
formulierbar. D.h. E = m und . Auch wenn alles Zahl sein sollte, heißt das
allerdings noch nicht, daß es berechenbar ist. Denn aufgrund von
Selbstbezüglichkeit
gibt es nichtberechenbare Funktionen
. Mit Verallgemeinerungen
muß man vorsichtig sein. Ein weiteres Beispiel: Aus dem Umstand, daß alles eine
Ursache hat, folgt nicht, daß es etwas gibt, das die Ursache von allem ist.
Da die Energie quantisiert ist, widerspricht ihre Vielheit nicht der Einheit; denn
bei den Energiequanten handelt es sich stets um eine Zahl gleicher Einheiten. In
der Antike galt das Eine als unentstanden, ganzheitlich, unbeweglich, zeitlos und
kontinuierlich. In den modernen Quantenfeldtheorien gewährleistet die
Einheitlichkeit des Materiefeldes im gesamten Kosmos die Gleichheit aller
Feldquanten. D.h. die Quantenzahlen der Elementarteilchen sind gleich im ganzen
Universum. Analog zu den Aggregatzuständen der Elemente in Abhängigkeit
ihres Energieinhaltes, wird die Entwicklung des Kosmos als eine Folge von
Phasenübergängen bzw. Symmetriebrüchen in den Energiefeldern erklärt. So
wie Kristalle aus der Flüssigkeit herauswachsen, materialisiert sich die Energie
von den Elementarteilchen bis hin zu den Galaxien.
Im Großen gesehen, quasi aus der Vogelperspektive, lassen sich viele Dinge als Kontinuum betrachten. Obwohl Wasser und Luft z.B. aus vielen Molekülen bestehen, können Wasser- und Schallwellen durch Kontinuumsgleichungen der Analysis angenähert werden. In gleicher Weise können die elektromagnetischen Wellen des Lichts beschrieben werden, obwohl auch das Licht aus vielen diskreten Energiequanten, den Photonen, besteht. Genaugenommen gibt es überhaupt keine Wellen, sondern nur mehr oder weniger verdichtete Zusammenballungen von Energiequanten. Aber was gewährleistet dann noch die Einheit des Seins, wenn es nicht mehr als kontinuierlich angenommen werden kann? Kontinuierlich bleibt das Möglichkeitsfeld, mit dem sich die diskreten Energiequanten verwirklichen. D.h. durch die selbstkonsistente Erfüllung der Randbedingungen verwirklicht sich das Energiekontinuum nur in quantisierter Form.
Das Eine ist nur möglich, wirklich ist immer das Viele. Sein ist verwirklichte Möglichkeit. Ein sehr alter Gedanke zur Lösung des Widerstreits zwischen Sein und Werden, Stoff und Form, Energie und Information. Die Zeitlichkeit löst statische Widersprüche, indem sie Gleiches unterscheidbar macht. Energie informiert, indem sie sich in Form begibt. Die Dialektiker unter den Philosophen haben immer wieder auf die Einheit und den Kampf der Gegensätze hingewiesen. Und was schreiben Physiker? Stellen wir einfach mal ein paar philosophische und physikalische Sätze zusammen und versuchen sie zu verstehen:
Gehen wir erst einmal analytisch vor und fragen nach dem Sinn und der Bedeutung der Sätze. Welchem Kontext entstammen sie? Die ersten beiden Sätze formulierte der kritische Theoretiker Theodor Adorno . Der dritte und vierte Satz ist von dem kritischen Rationalisten Karl Popper. Satz 5 stammt von Albert Einstein und ist von den methodischen Kulturalisten zum Programm erhoben worden. Den sechsten Satz findet man in vielen Physiklehrbüchern. Satz Nummer 7 benennt das Optimierungsprinzip des Physikers B. Roy Frieden aus seinem Buch Physics from Fisher Information. Und der letzte Satz wurde von dem Physiker Helge Rose in seiner Dissertation über Evolutionäre Strategien formuliert.