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Zur wissenschaftlichen Weltauffassung

In den 20er Jahren sammelte sich um Moritz Schlick eine Gruppe von Mathematikern und Physikern, die sich gleichermaßen für Frege, Russell und Wittgenstein begeisterte sowie fasziniert die Fortschritte in der Physik Einsteins und Bohrs verfolgte. Moritz Schlick war 1922 auf den Lehrstuhl für Philosophie der exakten Wissenschaften berufen worden. Diesen Lehrstuhl gab es bereits seit 1895. Sein erster Inhaber war Ernst Mach gewesen. Machs Positivismus hatte schon Einstein beeinflußt. Mit dem Wiener Kreis begann nun der Neopositivismus. Die auch Logischer Empirismus genannte Wissenschaftstheorie läßt sich charakterisieren durch ein Interesse und zwei Grundannahmen:

Aus den beiden Grundannahmen folgern die Neopositivisten drei Konsequenzen. Danach ist Philosophie:

So erfrischend und unorthodox die Initiative des Wiener Kreises mit dem Porgramm einer wissenschaftlichen Weltauffassung auch war; sie drohte das Kind mit dem Bade auszuschütten. In Orientierung an die sprachanalytische Philosophie einerseits und an mathematische Logik und theoretische Physik andererseits, geriet den Wienern zunehmend der tatsächliche Wissenschaftsbetrieb aus den Augen. Die mathematisierten Wissenschaften wurden nicht als Kulturleistungen begriffen, sondern als formale Satzsysteme analysiert. So fruchtbar die sprachanalytische Wende, der linguistic turn, in der Philosophie auch war, um die wortreiche Begriffsgymnastik traditioneller Philosophen als aufgeblasen und nichtssagend zu entlarven; dem Verständnis der empirischen Wissenschaftem kam man dadurch nicht näher.

Im Rückblick auf die Erfolge in den Natur- und Ingenieurwissenschaften des 20. Jahrhunderts, halte ich es für aussichtsreich, die Perspektive einer wissenschaftlichen Weltauffassung erneut in Angriff zu nehmen. Dem Weg der Neopositivisten zum wissenschaftstheoretischen Strukturalismus und modelltheoretischen Platonismus wird dabei allerdings nicht zu folgen sein. Ebensowenig wird den naiv-relativistischen Ansätzen eines Theorienpluralismus mit Bezug auf die scientific community oder den angeblichen Paradigmenwechseln in der Wissenschaftsgeschichte Beachtung geschenkt. Das Sammelsurium postmoderner Beliebigkeit ist seit dem Scherz Sokals der Lächerlichkeit preisgegeben und kann getrost vergessen werden.

Statt weiterhin verspielt Denkblasen steigen zu lassen, scheint es mir aussichtsreicher den neopositivistischen Kritikern zu folgen, die sich der materiellen Basis der wirklichen Lebensverhältnisse verpflichtet fühlen. So forderten die kritischen Theoretiker der Frankfurter Schule frühzeitig, Sprachkritik durch Gesellschaftskritik zu ersetzen und die Verengung auf Spielmarkenlogik und subjektlose Erfahrung durch eine Dialektik von Sozialphilosophie und Sozialforschung zu erweitern. Ähnlich wie die Dialektiker aus Frankfurt, kritisierten die Komplementaristen der Kopenhagener Schule den naiven Realismus und Objektivismus der traditionellen Physik. Denn mit der Quantentheorie wurde es offensichtlich, daß die Objektivierung der Meßergebnisse inkommensurabler Größen nur um den Preis einer prinzipiellen Unbestimmtheit zu haben ist. Im Gegensatz zu den Neopositivisten richteten die Kopenhagener fortan ihr Augenmerk auf die Analyse des Meßprozesses und suchten die Interpretationsprobleme des quantenmechanischen Formalismus durch eine Komplementarität von Naturphilosophie und Physik zu lösen. Ausgehend von der Denkpsychologie des Problemlösens trachteten die kritischen Rationalisten danach, das Begründungsdenken der Neopositivisten zu überwinden: Der Mensch ist fehlbar und denkt in Alternativen, um nach kritischer Prüfung der besten zu folgen. Aufgrund des Fallibilismus empirischen Wissens, können wissenschaftliche Hypothesen niemals induktiv bewiesen werden. Die Falsifizierbarkeit löst nach Ansicht der kritischen Rationalisten sowohl das Induktionsproblem als auch das Problem der Abgrenzung zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft. Im Gegensatz zum Falsifikationismus geht es den methodischen Konstrukrtivisten der Erlanger Schule um die Fundierung der Wissenschaften in der Alltagspraxis. Wissenschaftliche Sätze können durch schrittweise und zirkelfreie Konstruktion bewiesen werden. Sprachkritik ist dafür allerdings nicht hinreichend. Vielmehr gilt es, die Regeln des Tathandelns in der Alltags- und Wissenschaftspraxis zu rekonstruieren; denn Wissenschaft ist hochstilisierte Alltagspraxis. Das Zählen fundiert die Mathematik, das Experimentieren die Physik. Erst den Erlangern ist es gelungen, das Galilei'sche Paradigma der neuzeitlichen Physik lückenlos zu rekonstruieren und neben der Mathematik die Technik als Voraussetzung der Naturwissenschaften im Detail nachzuweisen.

Im folgenden wird es darum gehen, die Entwicklungen der kritischen Theorie, der Quantentheorie, des kritischen Rationalismus und des methodischen Konstruktivismus zu skizzieren. Abschließend wird dann der Versuch unternommen, die vier Entwicklungslinien in der Perspektive einer vereinheitlichten Philosophie zusammenzuführen.


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Ingo Tessmann
4/11/1999