Lenz und Bella hatten sich in den Deichtorhallen
verabredet, um die Geschichte der Empfindlichkeit
fortzusetzen. In der Ausstellung zur Erinnerung an Hubert Fichte wurden Einblicke geboten in die
Wörterwerkstatt eines Literaten, der von den Sprachexperimenten der Konkreten Poesie wie von
der dokumentarischen Literatur wichtige Impulse bezogen hatte. Auch dem Ethno-Schriftsteller und
POP-Poeten Fichte ging es in seiner Kunst um die Verbindung von Phantasie und Vernunft. Dabei hielt
er sich für die ihm selbst am besten bekannte Versuchsperson, stellte gleichsam eine Probeladung im
sozio-kulturellen Kraftfeld dar. Im Anschluss an Proust's Suche nach der vorlorenen Zeit ging es
Fichte um die Befreiung des Ich durch Befreiung vom Ich. Der poetische Anthropologe verstand die
durch Rhythmen, Lichteffekte, Drogen und Tanzen erstrebte Ekstase in den Underground-Diskotheken als
modernen Ausdruck archaischer Rituale, die in allen bekannten Kulturen gepflegt wurden. Am Ende der
Ausstellung wandten sich die beiden Besucher dem Café zu, ließen sich ermattet an einem kleinen,
runden Tisch nieder und bestellten zwei große Milchkaffees zum Aufwärmen. Für einen Januar war es zwar
nicht übermäßig kalt, aber durch die diesig-feuchte Luft lag die gefühlte deutlich unter der gemessenen
Temperatur. Proust hatte sich auf die innere Reise in die Tiefen seiner Erinnerung begeben und Fichte
besuchte auf seinen äußeren Reisen die fremden Kulturen dieser Welt. Beiden entging dabei aber das
Wesentliche der Zivilisationen: die Technik, merkte Lenz nach einer geruhsamen Pause an. Aber dafür
haben wir doch Technikgeschichte, Ingenieurwissenschaften und Science Fiction, entgegnete Bella. Ja,
aber der Zusammenhang, die Synthese fehlt, bemängelte Lenz und fragte grundsätzlich: Waren es nicht
in der Regel Naturkatastrophen oder bahnbrechende technische Erfindungen, die die Zivilisierung der Kulturen
voranbrachten? Bella trank gerade vom wärmenden und kreislaufanregenden Kaffee, so dass Lenz seine Frage
selbst beantwortete: Uns fehlt nach wie vor eine vereinheitlichte kritische Theorie der Gesellschaft,
um nicht zu sagen der Zivilisierung schlechthin. Derartig weitreichende Visionen waren Bella suspekt, sie
hielt sich lieber an die Methoden der analytischen Philosophie, quantitativen Experimentalwissenschaft
und einer Geschichtsforschung, die sich auf Dokumente und Fossilien stützte. Aber genau das schätzte Lenz an
seiner Mitarbeiterin; dass sie seine hochfliegenden Träumereien nicht zu Wahnvorstellungen werden ließ und
ihn immer wieder auf den Boden der Tatsachen und bewährten Theorien zurückholte. Sie hatten sich sachlich
ohne Worte verstanden. Lenzens darüber hinaus gehende Schwärmereien für sie äußerte er nicht. Einer
intelligenten wie feinfühligen jungen Frau wie Bella blieben die natürlich nicht verborgen. Sie quittierte
sie aber lediglich durch ironisches Lächeln oder höhnisches Grinsen. Von den hinter ihrem schönen Antlitz
lauernden Abgründen vermochte er sich dagegen keine konkreten Vorstellungen zu machen. Dabei sollte es sogar
Mädchen geben, die sich für Horrorfilme begeisterten; einfach unglaublich ...
Sich selbst überlassen lief Lenz Gefahr, der Oblomoverei
zu frönen und der weltabgeschiedenen Einsiedelei
anheim zu fallen. Aber ähnlich wie es Olga gelegentlich vermochte,
Oblomov von seinem Lager herunterzuholen,
gelang es auch immer einmal wieder einer jungen Frau, mehr oder minder absichtlich, Lenz aus seiner heimatlichen
Bärenhöhle zu locken. Der Physiker saß mit Frühlingsgefühlen im Wonnemonat Mai entspannt in der ersten
Klasse des ICE von Hamburg nach Frankfurt. Der ASTA der Uni Frankfurt hatte ihn zu einem Vortrag über seine
Visionen einer vereinheitlichten kritischen Theorie eingeladen.
Im Einsteinjahr waren die kritischen Theoretiker auf ihn aufmerksam geworden als
er einen Vortrag zur kritischen Physik Einsteins
gehalten hatte. Es gab aber noch zwei weitere Gründe seiner
Reise. Ebenfalls in Frankfurt vom Institut für Sozialforschung wurde ein Kongress über Bob Dylan abgehalten.
Und last but not least traf auf dem Frankfurter Flughafen eine Programmstudentin aus den USA ein, Blue van
Meer, die für ein Jahr bei DESY und an den Hamburger Instituten für Friedens- und Sozialforschung ihre
Kenntnisse zur wissenschaftlich basierten Gegenkultur vertiefen wollte. Darauf freute sich Lenz besonders;
denn die junge Amerikanerin kam direkt aus Auroville, wo sie ein dreimonatiges Praktikum absolviert hatte, um
für ihre cultural studies nachhaltige Lebensweisen kennen zu lernen. Lenz schaute gerade auf das
vorbeifetzende Farbmuster des Bahndamms und zuckte zusammen als der Zug in einen Tunnel raste. Die Faszination
für die Geschwindigkeit, das Bestreben, immer schneller und weiter voranzukommen: war das eigentlich
nachhaltig? Wie lange konnte das noch so weiter gehen, schließlich gab es eine endliche Grenzgeschwindigkeit
und die Ausdehnung des Universums schien nicht endlos zu sein. Aber wer wusste das schon so genau?
Momentan dehnte sich das Weltall sogar noch beschleunigt aus und womöglich ging das tatsächlich ewig so
weiter. Mochte das Resservoir der dunklen Energie und Materie, aus der das All zu rund 95% bestand, auch
nach menschlichem Ermessen unerschöpflich sein, Sonne und Erde waren es nicht. Aber gab es im Kosmos nicht
unzählige schwarze Löcher, durch die hindurch man womöglich in andere Universen gelangen könnte, so wie
man durch einen Tunnel auf die andere Seite eines Berges gelangte? Lenz ließ seinen Blick über die ferne,
weite Landschaft gleiten, die trotz der hohen Geschwindigkeit zu ruhen schien. Das waren natürlich lächerlich
naive Gedanken; denn die Energiedichte eines schwarzen Loches war so galaktisch groß, dass sofort jeder
Organismus in seine Eniergiequanten zerlegt und auf der anderen Seite schwerlich wieder rekonstruiert werden
könnte. So einfach war es nicht, aber wie Lenz schon häufiger geträumt hatte, wird es vielleicht einmal
möglich werden, das Selbsterleben eines Gehirns, ein ICH oder Bewusstsein, struktur- und kontexterhaltend
ins Nullpunktsfeld zu transformieren und damit gleichsam kosmosweit auszudehnen. Das wäre die
Bewusstseinserweiterung, von der die Hippies immer phantasiert hatten. Leider war sie bisher nur
virtuell mathematisch möglich. Unser Erleben blieb demgegenüber hoffnungslos beschränkt.
Lenz und Blue hatten sich im Bahnhofsrestaurant verabredet. Der ICE war pünktlich und Blue hatte sich nicht
per Handy gemeldet. Vielleicht war sie schon da. Erwartungsfroh strebte Lenz ihr entgegen. Er hatte kein
Gepäck dabei, nur seine Kreditkarte und - eine Zahnbürste. Obwohl es so etwas sicher auch im Hotel gab.
Sein Vortragsmanuskript hatte er auf seiner Homepage im Internet plaziert, so dass er zum Vortrag einfach
per Mausklick darauf zugreifen konnte. Für die Fahrt hatte er sich ein Reclam-TB eingesteckt, Tirso de Molina:
Don Juan.
Ob seiner kosmischen Träumereien war er aber gar nicht zum Lesen gekommen. Vielleicht bot sich
im Restaurant die Gelegenheit dafür. An einer Seite nahe des Haupteingangs war noch ein kleiner Tisch frei.
Lenz zog das Jackett seines schwarzen Anzugs aus, hängte es über den Stuhl und setzte sich. Nachdem er Blue
nirgends entdecken konnte, griff er nach seinem Büchlein und ließ Don Juan und Isabella auftreten:
Das ist das Los der Liebe: / wo man sie abweist, wirbt sie, / wo man sie kränkt, da schwärmt sie.
Weiter kam er nicht; denn gleichzeitig traten zwei junge Frauen an seinen Tisch: zuvor die Bedienung und
halb dahinter seine Verabredung, the half-obscured, dark-brown-haired girl wearing glasses who looks
apologetically owl-like. Die blauen Augen und Sommersprossen seiner weisen Eule kannte Lenz von ihrer
Homepage. Hi Blue, nice to meet you, begrüßte er sie und ließ die Bedienung einfach stehen.
Hallo Lenz, schön dich zu sehen, erwiderte Blue nahezu akzentfrei. Er stand auf und nahm sie kurz
in den Arm. Setz dich doch. Möchtest du was trinken? Sie nickte und Lenz bestellte zwei Bier.
Die Leseratte Blue griff nach dem Büchlein und lächelte ihn ironisch an: Ah, Don Juan ... . Die
Studentin hatte ebenfalls kein störendes Gepäck dabei; sie hatte es gleich bis Hamburg aufgegeben. Und
so konnten sich die beiden nach den ersten verbalen Annäherungen und Verständigungen unbeschwert auf den
Weg machen. Aufgrund des langen Sitzens, hatte Blue Lust auf einen Spaziergang. Sie schlenderten in Richtung Altstadt
und Lenz erzählte von seinen Erinnerungen an die Straßenschlachten Anfang der 1970er Jahre, die vielfach
in Filmen und auf Photos festgehalten worden waren. Blue hatte von dem damaligen Streit um den Erhalt der
schönen alten Stadtvillen schon gehört und wusste auch, dass der deutsche Außenminister Fischer seinerzeit
daran beteiligt gewesen war. Am Main legten Blue und Lenz mit Blick aufs Wasser eine Rast ein. Die Studentin
der Gegenkulur hatte passend zur Tagung die neuste Dylan-CD auf ihrem MP3-Player dabei: Modern Times,
ein politisch ironischer Titel im Anschluss an Charlie Chaplin. Die beiden steckten die Köpfe zusammen, teilten
sich die Ohrhörer und lehnten sich auf der Bank zurück. Thunder on the mountain und rollin' and
tumblin' rockten gleich richtig los, während beyond the horizon und der Abschluss mit Ain't
talking' eine verträumt nachdenkliche Stimmung erregte, die noch lange in ihnen nachschwang.
In seinem Vortrag zur Vereinheitlichten Kritischen Theorie am nächsten Tag spannte Lenz den Bogen von den
antiken Atomisten über die experimentellen Philosophien des 17. Jahrhunderts, die Evolutionstheorie und den
historischen Materialismus des 19. Jahrhunderts bis hin zu den Vereinigungsversuchen der Quanten- und
Relativitätstheorien des 20. Jahrhunderts. Das Verständnis der weltweiten Jugendrevolte in den 1960er
Jahren bot dann den exemplarischen Versuch dafür, die Politik kritischer Gesellschaftspraxis und die
Technik kritischer Experimentierpraxis aus einer vereinheitlichten Theorie dialektischer Phantasie und
mathematischer Physik heraus zu verstehen; ganz so wie es allgemein darum gehe, in Kunst und Wissenschaft
Phantasie und Vernunft in Einklang bringen zu müssen. Die Einbeziehung quantitativer Methoden ins
dialektische Schwadronieren der traditionellen kritischen Theoretiker rief zum Teil heftigen Unmut hervor.
Lenz schütte das Kind mit dem Bade aus, wenn er sich der Methoden der mathematischen Physik bediene. Das
sei nur noch Sozialtechnologie und keine Gesellschaftstheorie mehr. Lenz hielt dagegen, dass vor allem die
ökologischen Probleme der letzten Jahrzehnte gezeigt hätten wie wichtig quantitative Methoden seien; die
Bevölkerungsentwicklung weltweit zeige das in dramatischer Weise. Und ebenso greife die bloß sprachliche
Behandlung des menschlichen Bewusstseins zu kurz, da das Selbsterleben unseres Gehirns wesentlich quantitativ
sei. Blue merkte an, dass es den herkömmlichen Politikern und Philosophen wohl besonders zuwider sei,
einsehen zu müssen, wie wenig sie eigentlich noch kontrollieren könnten. Und die Kontrolle über das
eigene Leben wie über die Gesellschaft zu verlieren, mache sie nicht nur unzufrieden, sondern auch
überflüssig. Die einmal getroffene politische Entscheidung für eine nachhaltige Lebensweise ziehe dann
fast nur noch quantitative Optimierungsverfahren nach sich, ähnlich der natürlichen Evolution hinsichtlich
der Ausbildung und Stabilisierung ökologischer Nischen innerhalb der Biosphäre. Blues Erfahrungen in
Auroville
hatten sie offensichtlich stark beeindruckt. Mit einigen Studierenden blieben sie noch bis zum
frühen Morgen in der Weinstube Zum Römer in der Altstadt. Zum Glück war das Atlantic nicht weit
und die beiden konnten sich gegenseitig stützen, um nicht hinzufallen. Im Hotel wurden sie höflich auf ihr
Zimmer geleitet - und fielen ziemlich unvermittelt in einen Tiefschlaf. Lenz erwachte mit dem Kopf zwischen
Blues Beinen und er meinte sich dunkel zu erinnern, dass er vielfach gedreht und gewendet worden war. Wie
er sich dabei allerdings entkleidet haben konnte, war ihm ein Rätsel. Der Kopf war schwer und dumpf, der
Atem noch weingesättigt. Unter Vermeidung jeglicher Hektik schlich Lenz sich vom Bett und begab sich ins
Bad. Kaltes Wasser und Aspirin und der Kopf war wieder clean. Als sich Blue verkatert hinzugesellte und
sie sich eine Weile ungläubig angestarrt hatten, brachen sie lauthals in Gelächter aus. So war es sicher
auch Dylan hin und wieder auf seiner never ending tour ergangen. Der Zimmerservice würde es schon richten
und die Vorträge und Diskussionen des Dylan-Kongresses kämen auch als Buch heraus. Die Dylan-Fans brauchten
sich also nicht zu beeilen und nahmen erst zum Abend am ersten Kongress-Tag teil. Nach Zeit und
geschichtliche Erfahrung stand Rock als autonome Kunst auf dem Programm. Am nächsten Tag würde
es um Masken der Verweigerung gehen und mit einer Abschlussdiskussion ausklingen.
Zur Welcome-Party der Programmstudierenden im Wohnheim war Blue im Hippie-Outfit erschienen. Ihre Maske
der Verweigerung harmonierte vortrefflich mit dem Schwerpunkt ihrer Studienrichtung der Gegenkultur und Lenz
fragte sich, ob sie ihre Rolle nur spiele oder womöglich sogar lebe. Aber die Übergänge waren ja fließend
und hingen von der Reflexion ab. Nur wer nicht mehr merke, dass er bloß eine Rolle spiele, sei schon im
Leben gestorben; denn ein richtiges Leben im falschen gebe es immer noch nicht, kam Lenz wieder erinnernd
ins Grübeln. Lebe nach deinen eigenen Regeln, schaffe dir selbst einen Sinn aus der Synthese deiner
persönlichen Maximen, der gesellschaftlichen Prinzipien und der nachhaltigen, naturkonsistenten Gesetze. So
sahen das auch die Existentialisten und Lenz war in Übereinstimmung mit ihnen ganz in schwarz gekleidet. Das
war auch eine Maske der Verweigerung. Zwischen den bunten Hippies und schwazen Exis gab es viele
Übergangsformen, die hauptsächlich von Frauen inszeniert wurden. Die meisten Männer waren schlicht
in Jeans und T-Shirt gekommen und hatten sich darauf beschränkt, durch aufgedruckte Bilder oder
Schriftzüge Farbe zu bekennen. Frauen hatten sich zudem als Spiritistinnen, Amazonen, Draculinen
und Aphroditinnen drapiert und sorgten zum Teil für einiges Aufsehen. Die größte Gruppe bildeten
die Chinesinnen, die in langen, farbigen und enganliegenden Kleidern auftraten und sich als Vögel oder
Drachen gekleidet hatten. Waren die Masken der Verweigerung zur bloßen Folklore oder Mythologie
geraten? Autonome, Beats, Exis, Hippies und Punks waren jedenfalls in der Minderheit. Aber Ausnahmen
bestätigten natürlich die Regel; denn unter den Exis, Hippies und Punks fanden sich auch Chinesinnen. Ihre
geschmeidig zierlichen Gestalten übten auf Lenz eine besondere Anziehung aus. Mit Sue, einer niedlichen
Punkerin, die sich gerade auf einem frei werdenden Platz zu ihm an die Bar gesetzt hatte, kam er ins
Gespräch. Sie habe sich schon in der Schule für europäische Philosophie und Literatur interessiert und
bereits Übersetzungen der Werke Shakespeares und Goethes, Nietzsches und Sartres gelesen. Interessant seien
die Ähnlichkeiten in den Philosophien der Alten, ergänzte Lenz: Demokrit, Sokrates und Epikur sowie
Lao Zi, Kong Zi und Zhuang Zi. Lao Zi habe später besonders Leibniz und Schopenhauer beeinflußt.
Ja, das ist sehr interessant, fiel Sue freudig erregt ein. Ich bin nach Deutschland gekommen,
um meine Kenntnisse der Computer Wissenschaften zu vertiefen. Und Leibniz hat das Binärsystem ja nach dem
Vorbild des Yin und Yan entwickelt. Sue und Lenz prosteten sich zu und stießen auf die Synthese chinesischer
und europäischer Zivilisation an. Mit der Digitalisierung der Welt wird das Buch der Wandlungen gleichsam
zur Grundlage der menschlichen Zivilisation schlechthin; denn immer mehr Technologien und Geräte basieren
auf der Digitaltechnik, stimmte er ihr zu. Es ist aber eine rationalisierte Form der antiken
Wandlungs-Mythologie, fuhr Lenz fort, die sehr schön zu den chinesischen Kulturen passt, in denen
Gehorsamsreligionen nie eine Rolle gespielt haben. Sue lächelte freundlich zustimmend. Was mir in
Deutschland immer wieder auffällt, ist der Sinn fürs Praktische und Brauchbare. Naturwissenschaft und
Technik sind so zweckmäßig und nützlich. Es ist alles so gut organisiert hier und keiner muß Not leiden.
Da hat sie wohl recht, dachte Lenz und erwiderte ihren Blick mit einer Symphatie, die in Zärtlichkeit
überging. Im Vergleich mit der großen Mehrheit aller Erdenbürger leben wir hier wie im Paradies.
Ain't talking, just walking ... through the mystic garden, ... ,
sang der Rockbarde mit altersrauher Stimme zum Ausklang seines Kommentars der
Modernen Zeiten.
Als erstes Konzert der Saison im Stadtpark stand ein Auftritt von
Norah Jones auf dem Programm. An einem
heißen Sommertag machte sich Lenz mit Bella, Blue und Sue auf den Weg. Das Konzert begann erst am
Abend und so hatten sie beschlossen, den Vormittag an der Elbe und den Nachmittag in den Parkanlagen
zu verbringen. Am Elbstrand nahe der Strandperle fanden sie einen schattigen Ruheplatz unter einer
schützenden Trauerweide. Die Blicke schweiften über das immer und immer wieder seicht heranplätschernde
Wasser und den betriebsamen Container-Hafen dahinter. Mehrere auslaufende Schlepper kündigten die Ankunft
eines Ozeanriesens an. Lenz sorgte für kühle Getränke und interessierte sich für die kulturspezifischen
Unterschiede der drei Frauen. Aber die betonten gerade ihre Gemeinsamkeiten. Eigentlich seien die Menschen
überall auf der Welt ziemlich ähnlich, meinte Blue. Alle wollten leben, sich ernähren, wohnen, das Familienleben
und Freundschaften pflegen, arbeiten und Erfolg haben ... Kurz gefasst: Nahrung, Paarung, Kleidung, Wohnung,
merkte Bella an. Das sind die physischen Grundbedürfnisse, die ebenso wie das Streben nach Arbeitserfolg
weltweit verbreitet sein dürften. Aber wie sieht es mit den darüber hinaus gehenden Bedürfnissen aus? Mit
dem Sinn des Lebens zum Beispiel? Eine solche Grundsatzfrage hatte stille Nachdenklichkeit zur Folge.
Als der erwartete Ozeanriese nahte, unterbrach er die Gedanken; denn es handelte sich um ein gigantisches
Containerschiff der China Ocean Ship Company. In großen Lettern zierte die grüne Aufschrift COSCO
den dunkelbraunen Rumpf des Riesen, auf dem in hohen Stapeln die Container übereinander lagerten. Gebannt
verfolgten die winzigen Menschen am Ufer das Vorbeigleiten der turmhohen Aufbauten. Was wohl in den
Containern war? Spielzeug? PCs? Unterhaltungselektronik? Der im Zuge der Globalisierung vervielfachte
Handel zeige einmal mehr die weltweit im Entstehen begriffene menschliche Monokultur des Kapitalismus, nahm
Blue den Faden wieder auf. Egal ob Staats- oder Privatkapitalismus; ist die Geldgier nicht überall
auf der Erde gleich verbreitet?, fragte Bella provozierend. Überall?, entgegnete Blue und setzte
ironisch fort: Nein, nur bis auf eine kleine Siedlung Unbeugsamer, die sich trotz der Allmacht des
Kapitalismus seit 1968 mit der Unterstützung eines mehrheitlich spiritualistischen Landes behauptet hat.
Und in China gebe es sogar noch eine Kolonie matriarchal lebender Menschen, schaltete Sue sich ein. An das
Matriarchat erinnere auch das Tao-Tê-King Lao Zi's, in dem ebenso die Bedeutung der Harmonie
für das Zusammenleben der Menschen innerhalb des Kosmos hervorgehoben werde. Ich denke, was den Chinesen
die Harmonie bedeute, ist dem Amerikaner die Freiheit und dem Europäer die Gerechtigkeit. So ähnlich
lauteten schon die Parolen der französischen Revolution, dachte Lenz - und glitt unversehens in kosmische
Visionen ab, indem er Analogien zu physikalischen Theorien herstellte. Denn auch die Eichtheorien der vier
physikalischen Wechselwirkungen bestehen genau genommen aus jeweils drei Teiltheorien, die konsistent miteinander
verknüpft sind: einer Theorie des Materiefeldes, des Eichfeldes und des Austauschstromes ... Hello,
space control to Major Tom, Bodenstation an Raumschiff, alles ok? Bellas ironische Funksprüche holten Lenz
aus seinen abschweifenden Gedanken wieder zurück an den Elbstrand. Ertappt schaute er in die drei fröhlichen
Gesichter der Mädels, die sich ungeniert über ihn lustig machten.
Zum Essen hatte sich die Viererbande auf die Rickmer-Rickmers begeben, einem schönen alten Segelschiff, das an den Landungsbrücken im Hafen lag und als Museum und Restaurant diente. Zuvor stand den jungen Frauen aber noch der Sinn danach, sich mit visionärem Blick in die Weite schauend ans Steuerrad zu stellen, so dass Lenz sie mehrfach mit Freude in ihren schönen Posen auf Digitalbildern bannen konnte. Der Anblick des rot-weißen Frachters Cap San Diego, der ihm dabei immer wieder im Hintergrund aufschien, beschwor aus den Tiefen seines Gedächtnisses eine Erinnerung an drei andere süße Mädels herauf ... Die hatte er nach den 1970er Jahren nicht mehr wieder gesehen. Was wohl aus ihnen geworden war? Unter Deck im Auf und Ab der seichten Dünung saßen sie um eine große Fischplatte herum, die für jeden Geschmack maritime Gaumenfreuden bot. Seine lebhaften Erinnerungen drängten Lenz zur Äußerung: Wie seht ihr eigentlich eure Zukunft? In welcher Situation werdet ihr euch in - sagen wir 30 Jahren - befinden? Die drei Studentinnen sahen ihn ungläubig an. Soweit dachten sie wohl nicht voraus. Aber da hatte er sich getäuscht; denn nach einer kurzen Pause sprudelte es jeweils aus ihnen heraus. Blue sah sich in einem amerikanischen Auroville leben, Sue entwickelte intelligente Roboter, die den Menschen alle nur erdenkliche Mühsal abnahmen und Bella hatte eine Synthese aus Relativitäts- und Quantentheorie erdacht, die den Bau von Zeitmaschinen ermöglichte. Lenz war beeindruckt. Derart konkrete Vorstellungen waren ihm seinerzeit nicht vergönnt gewesen. Er hatte sich eher treiben lassen von seinem bloßen Drang, die Welt verstehen zu wollen. Erfreut stieß er mit den Jung-Forscherinnen auf ihre Zukunft an; ob der Hitze, der sie sich draußen auszusetzen hatten, aber nur mit Mineralwasser. Am Nachmittag fuhren sie wohlgesättigt und nachdenklich mit der U-Bahn in den Stadtpark. Nahe der Parkbühne ließen sie sich im Schatten großer Laubbäume auf der Wiese einer lichtungsartigen Nische nieder. Lenz streckte sich entspannt im Schatten einer gewaltigen Baumkrone und schloss die Augen. Als er sie wieder aufschlug - war er allein. Welche spontane Ordnung hatte da wieder den Lauf der Dinge moduliert? Er fühlte sich wie im Märchenwald, aber wo waren die anmutigen Elfen? Hatten sie Angst vorm schwarzen Mann oder bösen Wolf? Die Zeit der Mythen war vorbei und verspielt trollten die Mädels mit einem Eis in Händen herbei. Von jedem durfte Lenz einmal lecken. Der Heiterkeit und Beschaulichkeit auf der Lichtung entsprach die stimmungsvolle Atmosphäre des Konzerts. Die Vier hatten sich ganz nach vorn in die erste Reihe gestellt. Norah saß am Keybord oder Klavier und trug nicht nur die Songs ihrer dritten CD vor; sie improvisierte auch über Jazz-Klassiker Duke Ellingtons. Ihr zugleich weicher und bestimmter Gesang zur präzisen rhythmischen Begleitung regte in Lenzens Neocortex Erregungsmuster an, die ihn wieder in einen schwebenden Zustand mentaler Entrücktheit versetzten. Als Norah mit einfühlsam modulierendem Gesang rosie's lullaby anstimmte, führte sie ihn wie von Zauberhand an einen fernen, verwunschenen Meeresstrand. ... Er ging am Ozean entlang und erwartete einen Stern, der ihn weit fort tragen sollte. Mit bangem Schwindel wie an einem Abgrund schwankend, starrte er ins endlose Firmament. Dem Sog des Meeres weiblicher Verführung war er widerstandslos ausgeliefert. Freudig erregt und erwartungsfroh überließ er sich den Lockungen: come with me, close your eyes and dream ... . Unwiderstehlich zog ihn das feuchte Weib in seinen Bann und durchflutete ihn mit einer Wehmut und Traurigkeit wie sie ihn schon einmal mit der Nachricht vom Freitod Karls heimgesucht hatte, der einfach geradewegs in die Brandung gegangen und nie wieder aufgetaucht war. Der melancholischen Verwandlung seiner Gefühlswelt unterworfen, driftete Lenz unversehens in eine andere Welt hinüber, mit der er sich weit von seiner äußeren Umgebung entfernte. Die schattenhaften Bewegungen vor sich vermochte er nicht mehr zu identifizieren und im dichter werdenden Meeresrauschen konnte er keine weiteren Stimmen wahrnehmen. Einer dunklen Ahnung nach, musste sich ihm aber irgendetwas genähert haben. Der Differentialcharakteristik seines Sinnessystems folgend, drehte sich langsam sein Kopf und er gewahrte schemenhaft ein Lächeln, das sich ohne Gesicht wie in Zeitlupe gedehnt zu entfernen schien ...