The time has come at last / Let's go explore the past / We'll build a
time machine / To see the bygone
dreams ... . Lenz fühlte sich beschwingt, leicht, geradezu schwebend; und doch zu schwer, um sich oder auch
nur einen winzigen Teil von sich - bewegen zu können. Stoned lag er auf einer weit sich ins Universum hinein
erstreckenden Matratze. Hatte sein Bewusstsein kosmische Dimensionen angenommen? Let me turn your mind
around / Let me take you to the past that you should know / In front of you illusions go / And oh! Can you
imagine ... . Was streunte denn da durch seine Hirnwindungen? Und was hielt ihn vom Schweben ab? Er kam
einfach nicht hoch mit seinem fliegenden Teppich; irgendetwas drückte ihn sanft, aber bleiern aufs Lager.
Lenz fühlte warme, weiche Rundungen auf sich ruhen und griff in - ja, in was? Aber war das so wichtig?
Vor sich gewahrte er riesige Sternenaugen, die immer wieder aufblitzten und Wunderkerzen zu sprühen
schienen. Und darunter öffnete sich ein Mund, nein ein gewaltiger Schlund, ein riesiges schwarzes Loch,
das ihn gänzlich zu umwirbeln drohte. Wurde er gerade von einer galaktischen Amöde aufgenommen,
umflossen, um dann - verdaut zu werden? Sollte er darüber nicht vielleicht in Panik geraten?
Stattdessen erfüllte ihn eine unermessliche Gelassenheit und grenzenlose Behaglichkeit im Zerfließen
seines Leibes. Lenz wollte ausweichen, sich umdrehen, den Kopf wenden, konnte es aber nicht - und so überließ
er sich hingebungsvoll seinem Schicksal. Feucht und klebrig, warm und schleimig fühlte es sich an, dann
krümelte und bröselte es in ihn hinein. Es schmeckte süßlich und schwach bitter, nach Koreander und Zimt.
Das Aroma verbreitete sich über seine Papillen und verströmte seinen Duft durch Riechkolben und Atemwege.
We'll take you to the sky / Together we will fly ... . Kurz darauf war ihm, als ob er abhöbe und
losflöge. Aber wohin und mit wem ging die Reise? Und was kitzelte da so an seinen Wangen? War es der Schleier
der Maya? Look inside your head and find / That love is blind and it's all in your mind ... . Wo kamen
bloß immer wieder die an- und abschwellenden Stimmen und Gesänge her und was dröhnte und donnerte da durch
seinen Kopf? Sein ganzer Körper schien in rhythmisches Schwingen aufzugehen und sich wellenförmig
auszudehnen. Mit den fortschreitenden Wellenfronten gingen aber auch einlaufende einher, so dass sich ein
fortwährendes Auf und Ab, Auf und Ab der Schwingungsamplituden einstellte, die ortsfest zu verharren schienen.
Waren Gravitationswellen der Raumzeit in den Mikrotuboli seines cerebralen Cytoskeletts zur Resonanz gelangt?
Aus der Ferne potentieller Unendlichkeit nach und nach zurückkehrend, erwachte Lenz mit einem leiberfüllenden
Gefühl zäher Schwere und dumpfer Benommenheit. Mehr als zaghaft die Augen aufzuschlagen, war ihm nicht
möglich, die Bewegung des Kopfes unsäglich beschwerlich. Aber einen Arm konnte er langsam heben; wobei Lenz
allerdings den Eindruck hatte, der Arm richte sich eher selbsttätig auf. Und wo wies er hin? Lenz folgte mit
den Augen der kreisenden Bewegung seines vorgestreckten rechten Zeigefingers, die sich von einem imaginären
Punkt ausgehend spiralig nach außen hin weitete. In der Spirale haben wir das Leben, hörte er eine
zugleich vertraute und fremde Frauenstimme sagen. Sie kam aus einem Mund, der von schmalen, blass-roten
Lippen umrandet wurde und sich mit der Spiralbewegung zu einem klassisch-schönen Gesicht weitete. Zwischen
großen braunen Augensternen zierte eine schmale, gerade gewachsene Nase das Antlitz unter einer hohen Stirn,
die sehr intellektuell wirkte. Mit dem weiteren Aufspiralen wurden dunkelbraune, leicht wellig bis zu den
Brüsten herabfallende Haare sichtbar.
Isabella?,
fragte Lenz ungläubig und fokussierte seinen Blick
abwechselnd auf ihre vollen, runden Zitzen, die erhaben ruhend vor ihm aufschienen. Ich hatte dir wohl
etwas zuviel Haschisch-Gepäck eingeflößt, entgegnete sie heiter-ironisch und kicherte noch leicht bekifft.
Bellas niedlicher französicher Akzent wirkte auf Lenz äußerst einnehmend. Zu ihrer Begrüßung hatten die
Kommunarden in Karls WG eine Party veranstaltet. Langsam schimmerte in Lenz die Erinnerung an den Besuch der
Pariserin aus seinem THC-gesättigten Hirn heraus. Oder war das alles bloß ein Traum? Vielleicht hatte er
lediglich ein Buch gelesen oder einen Film geschaut, in dem eine Isabella vorkam und sich in die Szenerie mit
ihr hineinphantasiert? Musste Bella sich nicht zwischen zwei Männern entscheiden? Bei
Gide war sie eine
herbe Enttäuschung; aber nur weil sie nicht dem Wunschbild Gérards entsprach. Der schwärmerische
junge Mann hatte noch seinen Bezug zur Lebenswirklichkeit herzustellen. Und bei
Austen fiel sie in Ungnade,
weil sie sich selbstherrlich über die Konventionen der vermeintlich guten Gesellschaft hinwegsetzte. Warum
sollte eine selbstbewusste junge Frau nicht mit ihren Verehrern spielen dürfen? War die Liebe denn so ernst
zu nehmen und wirklich mehr als nur ein Spiel? Und wie sollte man den Sex ohne Humor ertragen können?, fragte
sich Lenz heiter und schloss entspannt die Augen. Als er nach einer Ewigkeit wieder aufschaute, hockte Bella
nicht mehr leibhaftig auf ihm, war aber mehr als ein Trugbild geblieben. Barbusig und kess, mit welligen,
langen Haaren und großen braunen Augen, einer zierlichen Nase und mit ironischem Lächeln, schaute sie aus
einem Plakat auf ihn herab. Aber welche Bella war das? Vielleicht die weibliche Schönheit schlechthin? Und
womöglich auch die profane Ursache der Wellenbewegungen, die ihn hinweggetragen und doch nicht vom Ort
entfernt hatten?
Am späten Nachmittag wich langsam die bleierne Schwere und dumpfe Mattigkeit aus seinen Gliedern und Lenz
konnte sogar den Kopf - bewegen. Und auch den Rest seines Körpers hatte er wieder unter Kontrolle.
Behutsam setzte er sich auf und schaute interessiert umher. In wessen Zimmer befand er sich? Das Bücherregal
klärte ihn auf: Macht und Herrschaft in der Bundesrepublik, Kinder des Weltalls, Analytische Mechanik,
Mathematische Physik I, Raum Zeit Materie, Mathematische Grundlagen der Quantenmechanik, ... . Klar, es konnte
sich nur um Karls Refugium handeln. Lenz wandte sich dem breiten Schreibtisch zu, der vor dem Fenster thronte
und an der rechten Seite bis zur Wand reichte. Die Vorhänge wagte er noch nicht aufzuziehen. Zuviel Helligkeit
würde ihm sicherlich nicht gut tun und seine Augen waren noch hinreichend an das Dämmerlicht angepasst. An der
Wand neben dem Schreibtisch hing ein Bild Einsteins. Unter seinem wüsten, weißen Haarschopf waren die Zeilen
zu lesen: Wenn ein unordentlicher Schreibtisch auf einen unordentlichen Geist hinweist, worauf deutet dann
ein leerer Schreibtisch hin? Lenz konnte nur schwer seinem Drang zu heftigem Gekicher widerstehen. Er war
einfach noch zu bekifft, um lauthals Lachen zu können. Aber nach einer Weile beruhigte er sich unversehens
und gewahrte weitere Bücher und einige Stapel kopierter Vorlesungsscripte sowie mehrere Artikel aus
verschiedenen Fachzeitschriften, die verstreut auf dem Schreibtisch lagen. An den oben liegenden Kopien schien
Karl gerade gearbeitet zu haben. Sie waren mit Anmerkungen versehen und wichtige Sätze hatte der eifrige
Physikstudent unterstrichen: The signal involved must propagate instantaneously, so that such a theory
could not be Lorentz invariant. Dazu hatte Karl in ausladend erregter Handschrift angemerkt: Wie sind
Nichtlokalität, Relativität und Realität zu vereinbaren? Wie weit reicht der Geltungsbereich der Bell'schen
Ungleichung? Lenz war das zu hoch, das sprengte seinen Horizont, aber er ahnte, dass Karl wohl über
Grundlagenfragen nachdachte. Auf einer weiteren Kopie fand sich die hingeschmierte Frage: Was haben
Beta-Funktion und S-Matrix gemeinsam? Verweist Veneziano's Formel auf strings?? Das doppelte Fragezeichen
deutete wohl auf eine besondere Fragwürdigkeit hin. Unwillkürlich wandte Lenz seinen Kopf nach links und
wurde auf ein Poster aufmerksam, das Einstein beim Geigenspiel zeigte. Darunter war zu lesen: Ich vertraue
auf Intuition. Welchem Geheimnis war Karl auf der Spur? Was trieb ihn um? Lenz war schon öfter im WG-Zimmer
seines Freundes gewesen, aber nie hatte es einen solchen Zauber und eine so tiefe Bedeutung auf ihn ausgeübt
wie jetzt. Seine Erinnerung dominierten die aufreizenden Poster
Uschi Obermaiers und
Grace Slicks, die
gleichwohl einen schönen Kontrast zur Kopflastigkeit der Studierstube bildeten.
Durst und Harndrang ließen Lenz zunächst die Küche und dann das Bad aufsuchen. Im grellen Lichtschein
der Küche hatte er Mühe, sich zu orientieren. Zum Glück standen noch vielerlei angebrochene Flaschen
und nicht ganz geleerte Gläser auf dem Tisch. Claire, Detlev und Jäcki waren gerade in einer Unterhaltung
vertieft und schienen ihn gar nicht zu bemerken. Aber sein Eindruck täuschte; denn Claire nahm eine Flasche
Mineralwasser zur Hand, schenkte ein Glas voll ein und reichte es Lenz süffisant lächelnd. Mit gierigen
Schlucken ließ er das erfrischend perlende Nass in sich hineinlaufen, bis er deutlich hörbar aufstoßen
musste. Wortlos, aber mit einverständigen Blicken, wandte er sich zum Flur und trat ins Badezimmer. In
der Wanne vergnügten sich Lo und Alex, indem sie sich lustvoll gegenseitig einschäumten und mit viel
Geschrei wieder frei spritzten. Lenz streifte seine Unterwäsche ab, setzte sich auf die Klobrille und ließ
es mit Behagen aus sich herausströmen. Die beiden nahmen keine Notiz von ihm und er hatte keine Eile, seinen
Sitz zu verlassen. Doch mit der Zeit drängte sich ihm das Verlangen auf, ebenfalls ins wohlig-warme Wasser
einzutauchen. Als die beiden johlend der Wanne entstiegen, deutete er ihnen an, nicht das Wasser ablaufen
zu lassen und setzte sich mit Wonne ins wohltemperierte Schaumbad. Das Wohlgefühl musste ihn vorübergehend
eingeschläfert haben; denn als er sanft erwachte, gewahrte er sich Bella gegenüber. Aber träumte er das nicht
schon wieder? Dieses Mal wollte er es genauer wissen, richtete sich auf, beugte sich vor und strebte so weit zu
ihr heran, bis er leicht auf ihr zu liegen kam. Zu seiner Verblüffung, erriet sie seine Absicht und brachte mit
allerliebstem Akzent hervor: Na, Lenz, willst du dich vergewissern, dass ich wirklich bin und nicht nur
ein Traumbild deiner Phantasie? Sie öffnete mit der Zunge seinen Mund und - er erinnerte sich. Oder meinte,
sich zumindest zu erinnern; denn Wunsch und Wirklichkeit gingen fließend ineinander über. Während des
intensiven, glitschig-feuchten Kusses, ertastete er über ihre feuchten Rundungen gleitend, ihre
schwimmend-wogenden Tittenpuddinge, in die er mit fließendem Tasten hineingriff. Nachdem sie mit mancherlei
Liebkosungen ihre Leiber erkundet und genossen hatten, fanden sie wieder Worte füreinander. Wie kommt
es eigentlich, dass du so gut deutsch sprichst?, wollte Lenz wissen. Meine Mutter kommt aus Deutschland.
Ich bin zweisprachig aufgewachsen. Das hatte Bella völlig akzentfrei gesprochen und Lenz dabei ironisch
angeschaut. Dem fiel es wie Schuppen von den Augen und er prustete los. Wie leicht doch die Männer zu
täuschen und zu verführen waren. Übermütig ließen sie das Wasser ablaufen, trockneten sich behutsam
gegenseitig ab, zogen sich herumliegende T-Shirts über und gesellten sich zu den Kommunarden in der Küche.
Die hatten unterdessen einen mit mildem Paprika abgeschmeckten Gemüse-Eintopf gekocht. Langsam verdrängten
die Essens- und Weingerüche die dopegesättigte Luft. Dem Hungergefühl nachgebend und den verführerischen
Düften folgend, fanden sich im Laufe des Abends nach und nach alle Gäste und Mitbewohner zum fröhlichen
Tafeln zusammen.
In der Küche wie in einigen Zimmern hatten sich Diskussionsgruppen gebildet, die angeregt die jüngsten
Ereignisse thematisierten. Ende März hatte sich der SDS aufgelöst und Mitte Mai war aus einer Gruppe von
Brandstiftern eine Fraktion der Roten Armee hervorgegangen, die den bewaffneten Kampf der unterdrückten
Massen in die Metropolen tragen wollte. War das Wagnis der Demokratie in Deutschland damit schon wieder am Ende?
Lenz verstand nicht den Eifer und die Dogmatik der selbsternannten Revolutionäre. Er hatte die Orientierung
verloren noch bevor er sie überhaupt erreicht haben konnte unter den vielen Sektierern: Marxisten, Leninisten,
Trotzkisten, Stalinisten, Maoisten - und dann noch die Syndikalisten, Anarchisten, Pazifisten, Existentialisten,
Feministen. Wer sollte da den Überblick behalten? Wenigstens die Frauen hatten sich den subversiven Humor
bewahrt: Befreit die sozialistischen Eminenzen von ihren bürgerlichen Schwänzen! Die Pille hatte
ihnen eine Befreiung von der Furcht vor ungewollten Schwangerschaften ermöglicht und damit eine Bewegung
zur Selbstbestimmung und Emanzipation in Gang gesetzt, die Lenz allein aussichtsreich schien, eine friedliche
Umwälzung der Gesellschaft herbeizuführen. Aber handelte es sich bei der Frauenfrage nicht nur um einen
,,Nebenwiderspruch``, der hinter dem ,,Hauptwiderspruch`` zwischen Kapital und Arbeit
zurückstehen müsse, wie die linken Dogmatiker immer wieder forderten? Für Lenz war eine vereinheitlichte
kritische Theorie aus Natur- und Sozialphilosophie, Physik und Soziologie das Gebot der Stunde. Hatte nicht
beispielhaft die von einem Chemiker entwickelte Pille gezeigt, dass orale Empfängnisverhütung sehr viel
mehr sein konnte, als bloß nein zu sagen? Und war eine Frau ohne Mann nicht wie ein Fisch ohne Fahrrad?
Naturwissenschaft und Technik waren die ersten Prokuktivkräfte. Sie galt es zu verstehen und
sinnvoll einzusetzen. Bella hatte am Küchentisch amüsiert verfolgt wie Lenz beim Löffeln seines
Eintopfes und schlürfen seines Weines mehr und mehr wegzutreten schien. Aber wahrscheinlich täuschte
sie sich und es arbeitete wie verrückt hinter seiner Denkerstirn. Als ob er ihren Blick gespürt hätte,
schaute er unvermittelt auf und - sie starrten sich an. Es war aber kein Drohstarren, sondern eher ein
neugieriges, einander erforschendes Starren, das sich entspannte und einem wohlwollenden Lächeln wich.
Als Lenz mit dem Essen fertig war, trank er hastig sein Weinglas aus und stand auf, um nach Karl Ausschau
zu halten. Er fand ihn in seinem Zimmer im Gespräch mit Detlev und Jäcki. Soweit Lenz verstand, diskutierten
sie gerade über den Zusammenhang von Musik und Literatur. Wohl nicht zufällig, war direkt gegenüber den
beiden Göttinnen der Jugendbewegung noch der meiste Platz frei. Lenz schenkte sich ein Glas Rotwein ein,
machte es sich auf dem Bett bequem und weidete sich an den schönen Frauenkörpern auf den Postern.
So wie es Thomas Mann im Dr. Faustus gelungen ist, nach der Methode des strengen Satzes einen Roman
zu komponieren, sollte es doch auch einem POP-Autoren gelingen, gleichsam im Rhythmus der Rockmusik zu
schreiben oder sich zumindest von der Rockmusik anregen zu lassen. Lenz schaute zu Detlev hinüber, der
das gesagt hatte und wartete auf eine Antwort. Von Jäcki kam eine Ergänzung: Oder so wie sich Jack
Kerouac in seinen Texten vom Jazz inspirieren ließ? Lenz fiel dazu
Hubert Fichte ein, der mit seiner
Palette den Undergrounds gefolgt war und ihnen eine avantgardistische Stimme verliehen hatte. Als
Karl diesen Roman erwähnte, trat Bella in den Raum, sah sich kurz orientierend um und setzte sich zu Lenz
auf das Bett. Sie trank von seinem Rotwein und lehnte sich leicht an ihn. Trotz des gelegentlichen Gefummels
und ständigen Herumschmusens blieben sie bemerkenswert aufmerksam.
Karl gab dem Gespräch eine Wendung zur Technik: Wenn sich Literatur an der Musik orientieren kann,
warum nicht auch an der Technik, hob er an. Detlev und Jäcki sahen sich vielsagend an.
Daran arbeitet Hubert gerade. Er nennt es ,,Imitationen Grünspan``.
Um den Rhythmus und die Lichteffekte einer Avantgarde-Diskothek einzufangen, hält er sich häufig dort auf.
Von den Underground-Tanztempeln hielt Karl nicht viel. Das war ihm zu banal. Er dachte eher an mathematische
Strukturen, an formale Sprachen oder an die Funktionsprinzipien von Betriebssystemen. Literaturen nach den
algebraischen oder geometrischen Strukturen der Mathematik zu konstruieren. Oder dem Klassenkonzept der
Programmiersprache Simula zu folgen. In ihr können Objekte definiert werden, in denen Datentypen zusammen
mit den Operationen formuliert werden, die mit ihnen möglich sind. Oder das Baukastenprinzip des
Betriebssystems UNIX, einschließlich seiner Schnittstellen-Definitionen. Das wäre avantgardistische
Literatur. Hier schaltete Bella sich ein, wobei Lenz sich fragte, ob sie vielleicht auch Physik studiere:
Und der Clou wäre, Musik und Technik gemeinsam literarisch zu imitieren. Das Superpositionsprinzip der
Quantenmechanik oder die Stringhypothese böten vielerlei Anknüpfungspunkte. Damit hatte sie Lenz eine
schöne Möglichkeit eröffnet, endlich sein Anliegen zur Sprache bringen zu können. Meinst du die
Beziehungen zwischen Nichtlokalität, Relativität und Realität sowie die Vermutung, dass die elementarsten
Objekte nicht punktförmig, sondern vielleicht strings, schwingende Saiten, sein könnten? Und wieder musste
Lenz unwillkürlich auf das Plakat mit dem Geige spielenden Einstein sehen; jedenfalls soweit er es von
seiner Position auf dem Bett nahe Bella überhaupt konnte. In der Verschränkung oder simultanen
Überlagerung vieler verschiedener Zustände unseres Gehirns sehe ich in der Tat ein Modell sowohl für die
Semantik als auch für die Entscheidungstheorie. Wie sich die Bedeutung eines Wortes im Kontext einstellt
oder eine Entscheidung zwischen Alternativen getroffen wird, kann in Analogie zur Zustandsreduktion im
quantenmechanischen Messprozess verstanden werden. Das war Lenz allerdings wieder zu hoch und wohl
noch weitaus abstrakter gedacht als die soziologischen Phantasien Bernds. Und was sollte man sich
bei den strings denken, grübelte Lenz weiter. Obwohl ausgedehnte eindimensionale Objekte eigentlich
sehr viel anschaulicher waren als ausdehnungslose Raumpunkte. Bella blickte Lenz wissend an und irgendwie
schien er sie schon lange zu kennen. Aber woher? Und was an ihr war ihm bekannt? Sie lächelte ihm
aufmunternd zu. Als ob sie wüsste woran er dachte. Das war ja geradezu unheimlich. Befand sie sich
womöglich mit im VW-Bus oder auf der Fete im Wohnheim letztes Jahr? Denn wieso hatte sie sich einfach
zu ihm in die Badewanne gesetzt? Und auch jetzt wieder tat sie so vertraulich. Er wurde nicht schlau
aus ihr. Aber das war halt normal bei Frauen. Die kamen aus einer anderen Welt.
Dem Superpositionsprinzip der Quantenmechanik gemäß, könnten die Elementarteilchen in vielen verschiedenen Welten vorkommen. Die Frage ist, ob es sich nur um mögliche oder wirkliche parallele bzw. sich verzweigende Welten handelt. Mental und sozial lebt sowieso jeder Mensch in seiner Welt. Und insorfern sich die Hormone und Neurotransmitter auf das Fühlen und Denken auswirken, leben auch die Geschlechter jeweils in ihrer Welt. Karl und Bella sahen sich einverständig an. Aber Lenzens Anliegen hatten sie noch nicht beantwortet. Er wollte sich gerade erneut zu Wort melden, als Bella sich ihm lächelnd zuwandte. Keine Bange, ich komme auf Deine Fragen zurück, hob sie an und schien aus einem reichhaltigen Wissensfundus zu schöpfen: Die Superpositionen sind es, die zur Nichtlokalität führen. Die vielen möglichen Welten werden im Experiment oder bei der Entscheidungsfindung wahrscheinlichkeitsgewichtet zur Überlagerung gebracht, so dass sich letztendlich die wahrscheinlichste Welt realisiert. Das heißt aber genau genommen, dass nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Zukunft auf die Verwirklichung der jeweiligen Gegenwart einwirkt. Lenz lehnte sich zurück und schloss die Augen. Er vergegenwärtigte sich das Gefühl aus der Überlagerung der ein- und auslaufenden Wellen. Aber das war nur ein Gefühl, also die Folge eines entsprechenden Erregungsmusters in seinem Neocortex. Bella nahm seinen Gedanken auf: Möglichkeitswellen verlaufen in beiden Zeitrichtungen und überlagern sich in der Gegenwart zur erfahrbaren Wirklichkeit, in der es nur auslaufende Wellen gibt. Lenz sah Bella erstaunt an. Aber die fuhr ungerührt fort: Die Unvereinbarkeit der quantenmechanischen Nichtlokalität mit dem Lokalitätsprinzip der Speziellen Relativitätstheorie wird abgeschwächt in der Allgemeinen Relativitätstheorie. Denn die ist z.B. so weit verallgemeinerbar, dass ihre algebraische Struktur sogar noch mit den Quarternionen vereinbar ist. Und die sind, wie die Drehungen im Raum, nichtkommutativ und reproduzieren damit auch die nichtkommutativen Vertauschungsrelationen der Quantenmechanik, die letztlich der Grund für die Unschärfebeziehungen sind. Lenz erahnte mehr als er verstand. Wie mit Bella war es ihm schon einmal mit Candela ergangen. Aber die Physik musste noch sehr viel interessanter sein als die Mathematik, da sie sich mit der wirklichen Welt und unseren Erfahrungen befasste. Von der Alltagserfahrung ausgehend, war es naheliegend, die Wichtigkeit der richtigen Reihenfolge von Handlungen in die algebraische Struktur der Theorie zu übertragen. Die Marxisten sprachen von dem Hervorgehen der Denkform aus der Warenform. Aus Sicht der Mathematik handelte es sich dabei um triviale Abstraktionen bzgl. einfacher Äquivalenzrelationen. Viel interessanter war die Frage, wie genau was und in welcher Weise überprüfbar auseinander hervorging. Was bestimmte unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen die zukünftige Entwicklung der Menschheit? Bella prostete Lenz mit seinem Weinglas zu und führte schmunzelnd seinen Gedanken fort: Im Gödel-Universum sind Zeitreisen möglich. Machen wir uns doch einfach auf den Weg in die Zukunft, um zu sehen, was aus der kapitalistischen Ökonomisierung, der informationstechnischen Elektrifizierung und der Vereinigung von Relativitäts- und Quantentheorie geworden ist.