Nur im Spiel sei dem Menschen echte Freiheit möglich. Das Spielen verpflichte zur Gleichheit, da
allen Spielern dieselben Voraussetzungen eingeräumt würden, und verwirkliche außerdem den Gedanken
der Rechtssicherheit, weil ein Spiel nur innerhalb der eigenen Regeln stattfinden könne. Freiheit,
Gleichheit, Rechtssicherheit ... Das Spiel sei der Inbegriff demokratischer Lebensart. Es sei die letzte
uns verbliebene Seinsform. Der Spieltrieb ersetze die Religiosität, beherrsche die Börse, die Politik,
die Gerichtssäle, die Pressewelt, und er sei es, der uns nach Gottes Tod mental am Leben erhalte.
Alevs Worte klangen noch in Ada nach während sie ihn in ihre Arme schloss. Ozeangleich
türmte die Kälte sich über ihnen bis zu den Sternen, die als Lichtpunkte oben auf der Dunkelheit
schwammen. Wo ihre Körper sich berührten, wurde es warm. Von irgendwo her traf ein Tropfen Ada an
der Stirn, sie wischte ihn nicht ab, um die Situation nicht durch eine falsche Regung zu zerstören.
Nie konnte man wissen, was bei der kleinsten Regung alles zuschanden ging. Mit der umschatteten Hellsicht
eines Übermüdeten kurz vor dem Einschlafen sah sie das Universum vor sich, die Erde ein Elektron, das
gemeinsam mit verwandten Teilchen um einen Atomkern kreiste, der sie alle mit Energie versorgte und
zusammenhielt. E war m mal c im Quadrat. Die Sonne im Zentrum hatte sich mit anderen
Atomen zu einem Molekül zusammengeschlossen, dieses wiederum bildete mit gleichartigen Sonnensystemen
eine Galaxie, vielleicht eine Zelle oder einen Kristall, und so war das, was den Menschen als Kosmos
erschien, zusammengenommen nicht mehr als ein Tropfen Feuchtigkeit an der Spitze einer Hundeschnauze.
Auch die Unendlichkeit war nichts als ein strukturelles Problem. Wie sollte man sich da fühlen.
Innen warm und außen kalt. Glücklich. Bizarr. Das war wieder einer dieser seltenen Augenblicke des
Glücks im Leben Adas, der schlagartig wie das Nachleuchten eines Blitzes aus den Wolken zuckte
und rollend nachhallte, nachdem sich die Luftmassen aus endloser Weite kommend nach und nach zusammengeballt
hatten. Das ozeanische Gefühl der Verbundenheit mit einem nahen Menschenleib wie mit dem Kosmos vermag im Schreiben Physik und Literatur zu verbinden. Aus Virginias an der Dachrinne des Geistes hängenden
und sich im Gewölbe der Seele bildenden Tropfen hat Juli einen Tropfen an der Spitze einer Hundeschnauze gemacht - und einen, der gleichsam als Kondensat des gesamten Universums an ihrer
Stirn haften blieb. Im Kleinen haben wir das Große, im Teil das Ganze; vermögen es aber nicht
umgangssprachlich zu erfassen, sondern nur mathematisch oder - empathisch, solange wir uns nicht
bewegen oder darüber reden. Hatten Ada und Juli ein neues Stadium erreicht? Im Kriminalroman
Schilf setzt Zeh den Spieltrieb fort, indem sie zwei Physiker den Disput zwischen Bohr und
Einstein, Heisenberg und Schrödinger weiterführen lässt - und dabei auch nicht das Missverständnis
auslässt, das zwischen Bohr und Heisenberg 1941 darüber entstand, was wohl die Nazis im Schilde führten. Arbeiteten sie bereits an der Atombombe?, sorgte sich Bohr, oder sollten sich die Physiker weltweit darauf verständigen, auf den Bau von Atombomben zu verzichten?, was Heisenberg womöglich Bohr nahezubringen
versuchte. In Spieltrieb beschreibt Zeh die harmlose Situation Adas beim Hören von Popmusik,
als sie der englischen Sprache noch nicht mächtig ist und statt der Textzeile ,,words don't
come easy`` nur einen Unsinn versteht wie ,,Don Camisi``. Wer war ,,Don
Camisi``? In Schilf hat ein ähnliches Missverständnis dramatische Folgen, da es in einem
Kontext erfolgt, der aus dem Spiel herausführt, das der eine Physiker mit seinem Freund spielt. In
Spielen mit unvollständiger Information gibt es im allgemeinen keine Gleichgewichszustände mehr.
Das hatten auch Ada und Alev lernen müssen. Und die Kollaboration Heisenbergs mit den
Nazis und der Überfall Dänemarks durch die deutsche Wehrmacht sprengte seinerzeit die Sprachspiele
zwischen den befreundeten Physikern Bohr und Heisenberg. Nicht mehr zwischen Spiel und Ernst zu
unterscheiden, hatte Smutek Ada vorgeworfen. Es kommt halt auf den Kontext an.
Wer nicht am Weg, sondern bloß am Ziel seine Freude hat, sollte erst nach dem Lesen des Romans hier weiterlesen. Schilf ist ähnlich in benannte Kapitel gegliedert wie Spieltrieb, statt der 82 Kapitel im Schulroman sind es im Physikerroman nur sieben, die aber jeweils in sieben weitere unterteilt sind, mit einem Prolog beginnen und in einem Epilog ausklingen: Prolog. Wir haben nicht alles gehört, dafür das meiste gesehen, denn immer war einer von uns dabei. Ein Kommissar, der tödliches Kopfweh hat, eine physikalische Theorie liebt und nicht an den Zufall glaubt, löst seinen letzten Fall. Ein Kind wird entführt und weiß nichts davon. Ein Arzt tut, was er nicht soll. Ein Mann stirbt, zwei Physiker streiten, ein Polizeiobermeister ist verliebt. Am Ende scheint alles anders, als der Kommissar gedacht hat - und doch genau so. Die Ideen des Menschen sind die Partitur, sein Leben ist eine schräge Musik. So ist es, denken wir, in etwa gewesen. Wer ist denn Wir? Der aus der Vogelperspektive herabschauende, allwissende Erzähler? Partitur und Konzert verhalten sich wie Spielregeln und Spieldurchführung zueinander; denn es kommt ja auf den Kontext an, wie bei dem Kind, das entführt wird, aber nichts davon weiß. Und wie geht es aus? Epilog. Im Abflug nach Nordosten gleicht Freiburg weniger einer Stadt als einem Teppich aus ineinanderfließenden Farben. Eine bunt schimmernde Masse, von der niemand sagen könnte, ob er ein Teil von ihr ist oder sie von ihm. Ein Mosaik aus Dächern, über das die Morgensonne ihre verschwenderischen Goldtöne gießt. Das gewundene, quecksilberne Band der Dreisam dazwischen. Die blaue Luft trägt wie Wasser. Die Berge rufen die Vögel zurück. Die Vögel erstatten den Bergen Bericht. So ist es, sagen wir, in etwa gewesen. Nach Leipzig, Wien und Bonn ist der Ort der Handlung nunmehr Freiburg,- wie es die Vögel sehen und den umliegenden schwarzen Bergen zu berichten haben. Aus dem anfänglichen Denken ist ein abschließendes Sagen geworden. Welche gedachten Möglichkeiten wurden ausgesprochen verwirklicht? Eine Romanwelt entsteht erst dadurch, dass sie erzählt wird. Verhält es sich so auch mit der lebendigen Wahrnehmung und physischen Messung? Hat Juli mit der Metapher von den Bergen und Vögeln auf Virginias Regenbogen über dem Granit verweisen wollen? Denn waren nicht auch die Vögel Teil der schimmernden Masse aus ineinanderfließenden Farben? Und wenn die Welt in den Hirnen der Betrachter entsteht und die Hirne Teil der Welt sind, droht ein unendlicher Regress des Wahrnehmens. Wie dem Universum bzgl. des Nullpunktfeldes und dem Leben innerhalb der irdischen Biosphäre ist es auch dem Gehirn gelungen, die Selbstbezüglichkeit konsistent zu stabilisieren. Die nie ganz vollständige Isolierung von der Außenwelt hat allerdings eine prinzipielle Unschärfe und stochastische Fehleranfälligkeit zur Folge, die nicht nur die Wahrnehmung, sondern ebenso den Messprozess betrifft. Die seit 1900 auf den Weg gebrachte Quantentheorie hat sich dieses Problems angenommen und es für die Experimentierpraxis zufriedenstellend gelöst. Die dabei entwickelten mathematischen Verfahren der Funktionalanalysis sind unterdessen auch in die Entscheidungstheorie eingegangen. Trotz der experimentierpraktischen und methodischen Erfolge des Quantenformalismus sind grundsätzliche Fragen hinsichtlich des philosophischen Verständnisses bis heute strittig und ein weites Feld für den Disput unter Physikern und Philosophen geblieben.
Nicht nur Physik und Literatur können zusammengeführt werden, es gibt auch Gemeinsamkeiten zwischen dem Forschungsprozess und einer Verbrechensaufklärung. Stand nicht sogar das Rechtsschema aus Tat, Gesetz und Täter Pate bei der Bezeichnung von natürlichen Regelmäßigkeiten als Naturgesetzen? Eine Tat ist nur im Kontext des Gesetzes ein Verbrechen. Ein Kommissar hat von der Tat und dem infrage kommenden Gesetz den Täter zu ermitteln. Ein Forscher dagegen kennt nur das Ereignis und aufgrund einer Gesetzeshypothese versucht er auf die Ursache zu schließen. Die Ursache-Wirkungs-Folge wird analog zur Täter-Tat-Handlung verstanden. In seinem Roman Der Name der Rose hat Umberto Eco diesen Zusammenhang am Beispiel eines mittelalterlichen Kriminalfalles im Kontext der Semiotik durchgespielt. Die Rose bleibt dabei nur ein Symbol - für die Liebe und die Vulva des Mädchens beispielsweise, das den Mönch verführt und beglückt. Alle Indizien als Hinweise auf einen Täter sind zunächst nur Zeichen in einem symbolischen Kontext. Wann wird daraus eine physische Ursache-Wirkungs-Folge? Bei Virginia vergoss die welke Rose, die stachlige Rose, die lohfarbene Rose, die dornige Rose über die Jahre ... eine Träne. Worüber hatte die Frauenrechtlerin Rose eine Träne vergossen? Nach dem Untergang der Titanic weinte sie wieder um ihren ertrunkenen Liebhaber. Versank mit der Titanic und der viktorianischen Gesellschaft auch die traditionelle Romankunst und die klassische Physik? Dem phänomenologischen Atomismus Woolfs entsprach der anschauliche Positivismus Heisenbergs, den er in seiner Arbeit Über den anschaulichen Inhalt der quantentheoretischen Kinematik und Mechanik für die Teilchenbahnen wie folgt auf den Punkt gebracht hatte: Die ,,Bahn`` entsteht erst dadurch, dass wir sie beobachten. Entsteht ein Kausalzusammenhang erst dadurch, dass wir ihn beobachten? Zeh knüpft in Schilf literarisch an die These Heisenbergs an, indem sie Kommissar Schilf als Vogelhasser beschreibt: Er hatte konkrete Gründe dafür. Sie fraßen die Schmetterlinge, mit denen er unter dem Nussbaum erkenntnistheoretische Diskurse führte. Sie hatten starre Gesichter, die niemals Schmerz oder Freude zeigten. Sie blickten ihn unverwandt an und verbargen ein Wissen, das sie, wie er meinte, völlig unverdient besaßen. Ihm schien es ungerecht, dass sie allein die Erde von oben sahen. Wäre ihm damals schon klar gewesen, dass es stets der Beoachter ist, der die Realität erschafft, hätte er die Vögel als Urheber einer misslungenen Welt noch mehr verachtet. Schilfs bescheidene kleine Welt da unten in Freiburg gab es deshalb, weil die Vögel hoch droben sie durch ihre Beobachtung erzeugten? Das funktionierte natürlich nur, weil sie zuvor die Schmetterlinge gefressen hatten. Denn die hätten sie durch ihren zarten Flügelschlag ins Chaos gestürzt. Und in dem fühlte sich der Kommissar viel wohler; denn er konnte es ordnen: Es war ein Dummer-Jungen-Streich, erdacht von einem besonders gefährlichen Jungen. Es war große Liebe. Die Viele-Welten-Theorie. Und ein Meisterstück des grausamsten Verbrechers, der sich auf Erden herumtreibt. Des Zufalls. So grausam, dass ich es vorziehe, nicht an ihn zu glauben. War Schilf Determinist? Dann müsste er nur das Gesetz im deterministischen Chaos aufspüren und bis zum Anfang zurück verfolgen. Dabbeling muss weg, hatte der Freiburger Physiker Sebastian aus dem Anruf einer Vera Wagenfort herausgehört, nachdem sein Wagen fort war, mit dem er seinen Sohn Liam ins Ferienlagen fahren wollte und nur kurz mal eine Pause eingelegt und sein Auto verlassen hatte. Der Wagen samt Kind war weg und Sebastian fühlte sich erpresst statt verarscht. Denn wer hieß schon VW bzw. Vera Wagenfort? Und die hatte auch nicht Dabbeling muss weg gesagt, sondern Doublethink muss weg. Damit hatte Orwell in 1984 die Praktik eines totalitären Systems gemeint, nämlich den Zwang, zwei Dinge, die einander widersprechen, gleichermaßen für wahr zu halten. Aber Sebastian befand sich in einem anderen Kontext. Er hatte mit seinem Freund, dem CERN-Physiker Oskar, über einen Mediziner-Skandal an einer Freiburger Klinik gesprochen, in den der Arzt Dabbeling verwickelt sein sollte. Und mit diesem Arzt zusammen fuhr Sebastians Frau Maike regelmäßig Fahrrad, einfach um sich fit zu halten, so wie andere joggen. Aber steckte vielleicht mehr dahinter? Dann gäbe es schon zwei Gründe dafür, dass Dabbeling weg müsse. Nur, wie tötet man einen Radfahrer? Die Nazis hatten seinerzeit feine Metalldrähte, fest aber kaum sichtbar, über die Straßen gespannt, um Amerikaner in ihren Jeeps zu enthaupten ...
Bei einem Missverständnis zwischen Physikern in Verbindung mit den Nazis denkt ein wissenschaftshistorisch interessierter Leser natürlich sogleich an Bohr und Heisenberg. Ob Zeh das intendiert hatte beim Schreiben? Auf jeden Fall beabsichtigte sie die Fortsetzung der von Bohr und Einstein begonnenen Debatte darüber, ob die Quantenmechanik realistisch oder nur positivistisch interpretiert werden könne. Der Grund für die Ermittlungen Schilfs war der Mord an Dabbeling. Durch welche Fehlentscheidung war er zustande gekommen? Weil wir meistens nur das verstehen, was wir verstehen wollen? Wurden Entscheidungen aufgrund von wahrscheinlichkeitsgewichteten Auswahlmöglichkeiten getroffen ähnlich des Eintretens des Erwartungswertes beim Messen von Quantenzuständen? Welche Ergebnisse hatten die Ensteheung der Quantenmechanik veranlasst? Experimentell die Atomspektren, die Radioaktivität und die Schwarzkörperstrahlung. Theoretisch Inkonsistenzen in der Thermo- und Elektrodynamik. Nach den Durchbrüchen Heisenbergs und Schrödingers zur Matrizen- und Wellenmechanik, schufen die Mathematiker Hilbert und von Neumann dann im Rahmen der Funktionalanalysis die Grundlagen für einen Formalismus, der bis heute Bestand hat und alle bisherigen Experimentalergebnisse zu berechnen erlaubt. Algebraische Operatoren wirken darin in einem hochdimensionalen Zustandsraum auf vollständige Funktionensysteme. Die Operatoren berücksichtigen die Messoperationen und die Funktionensysteme die Wahrscheinlichkeiten der Messwerte. Zusammengebracht liefern sie das zu erwartende Messergebnis. Diese Zweiteilung aus kontinuierlich-deterministisch sich eintwickelnden Wahrscheinlichkeiten bzw. Möglichkeitswellen und diskret-wahrscheinlichkeitsgewichteten Messwerten bzw. Wirklichkeiten, ist das Besondere des Quantenformalismus. Enthalten war das Konzept allerdings schon in der statistischen Physik der Thermodynamik und so sehen viele Physiker von Planck und Einstein bis heute die Quantenmechanik nur als eine Variante der statistischen Physik an und nicht als Moderne Physik. Neben den Grundlagen der Quantenmechanik hatte von Neumann auch zusammen mit dem Ökonomen Morgenstern eine Spieltheorie formuliert, in der er ausgehend vom Fixpunktsatz Brouwers für kooperative Nullsummenspiele stets eine Minmax-Lösung nachweisen konnte. Eine weitere Anwendung des Fixpunktsatzes auf nichtkooperative Spiele lieferte dann Nash mit seinem Gleichgewichtssatz. Neben den mathematischen Grundlagen der Quantenmechanik und Spieltheorie hatte von Neumann zudem mit der Automatentheorie und dem Prinzip der Speicherprogrammierung einen wesentlichen Beitrag zur Informatik geleistet. Ein bis heute in der Physik ungelöstes Problem ist das der Vereinigung von Atom- und Gravitationstheorie. Versuche dazu werden in der Quantengravitation unternommen mit dem Ziel, auch die physikalischen Bezugsgrösen Raum und Zeit zu quantisieren. Erste Ergebnisse im Rahmen der Schleifen-Quantengravitation deuten darauf hin, dass es algebraische Erzeugungs- und Vernichtungsoperatoren nicht nur für Energie und Impuls, sondern auch für Flächen und Volumina des Raumes sowie als Schichtung für die Zeit gibt.
Das Verständnis der Bezugsgrößen Raum und Zeit hat die Menschen seit altersher umgetrieben und im GPS (wie demnächst mit Galileo) einen Höhepunkt erreicht. Das Geheimnis des Zusammenhangs zwischen Gravitation und Raumzeit im riesigen Universum, dem Anschauungsraum und Zeitmaß auf dem menschlichen Niveau und die Bildungsoperatoren für Raum und Zeit auf dem winzigen Planckniveau harrt nach wie vor der Enträtselung. Die verschiedenen Zeitmaße, die unser Gehirn zu generieren vermag, sind auch immer wieder Gegenstand von Romanen gewesen, bei Virginia Woolf wie bei Juli Zeh. Schilf ist ein Krimi, der ebenfalls in sich in verschiedener Weise die Zeit behandelt. Die Wichtigkeit der Zeit als Lebenszeit und die damit verbundene Abneigung gegen Zeitverschwendung war schon Thema in Spieltrieb, nunmehr geht es neben der Quantisierung der äußeren Zeit um die Verwandlung des Zeiterlebens beim - Warten. Sebastian besitzt inzwischen so viel Übung in dieser Disziplin, dass es nur wenige Minuten dauert, bis er nicht mehr wahrnimmt, was um ihn herum passiert. Mit zurückgelegtem Kopf starrt er an die Zimmerdecke, deren weiße Fläche auf angenehme Weise seinem Geisteszustand entspricht. Während der Körper in einer warmen Sandwehe zu versinken scheint, steigt das Bewusstsein auf, in sanften Schwüngen um sich selbst kreisend. Deutlich spürt Sebastian wie die Zeit aus der Fassung gerät. Die Kette der Sekunden zerfällt zu winzigen Teilchen. Sein Selbst löst sich auf und lässt doch etwas zurück, mit dem er sich identifizieren kann. Eine Art Beobachtungsposten, der sich außerhalb von Körper und Seele befindet. Von dort aus kann Sebastian darüber nachdenken, warum er so lange an einer Theorie festgehalten hat, die in seinem Gefühl für Zeit und Raum nicht die geringste Entsprechung findet. Es sind nicht viele Welten, in denen er sich bewegt. Es ist ein einziger Kosmos, ein großes Brausen, in dem er außer der eigenen auch die Anwesenheit anderer Entitäten spürt. Sie lassen sich mit Namen belegen, Maike, Oskar, Liam, und sind verwoben in einem Teppich aus Strömungen, in dem Materie und Energie tatsächlich dasselbe sind. Nämlich Information. Ein menschliches Bewusstsein, das aus nichts anderem als Erinnerungen und Erfahrungen besteht, ist pure Information. Man sollte, denkt der Beoachtungsposten namens Sebastian, am Schreibtisch sitzen und sich Notizen machen. Man sollte herausfinden, ob Oskars Versuche mithilfe einer Qauntisierung von Zeit über den Urknall hinauszurechnen, nicht vor allem darauf zielen, die Welt als eine große Informationsmaschine zu begreifen.
Die Quantisierung der allgemeinen Relativitätstheorie im Rahmen der Schleifen-Quantengravitation vermeidet in der Tat die so gefürchteten wie unvermeidbaren Singularitäten in der Raumzeit, so dass über den Zeithorizont schwarzer Löcher hinaus ebenso wie vor den Urknall zurück gerechnet werden kann. Aber das ist natürlich gleichermaßen hypothetisch wie die realistische Interpreation aller möglichen Quantenzustände in der Viele-Welten-Theorie. Der Satz alles, was möglich ist, geschieht, hatte schon Kommissar Schilf fasziniert wie irritiert. Auch in der Verbrechensaufklärung hat man es ja mit vielen Möglichkeiten zu tun, die so lange für wahrscheinlich zu halten sind, bis sie ausgeschlossen werden können. Das ist ganz ähnlich wie in der Entscheidungstheorie, wo mehrere wahrscheinlichkeitsgewichtete Wahlmöglichkeiten in der Entscheidung auf eine zu reduzieren sind. Mit Bezug auf den quantenmechanischen Messprozess wird das auch als Kollaps der Wellenfunktion bezeichnet, d.h. die vielen in der Wellenfunktion ausgedrückten Möglichkeiten werden durch die Messung auf eine Wirklichkeit reduziert. Genau genommen heißt das aber nicht, dass die Beobachtung die Wirklichkeit erzeugt, sondern nur, dass wir unser Wissen über die Welt vermehrt haben. Im Gegensatz zu dem Positivisten Heisenberg hatte der Realist Bohm schon in den 1950er Jahren eine realistisch-deterministische Quantentheorie formuliert, die sogar explizit die von Heisenberg geleugneten Bahnen der Teilchen zu berechnen erlaubt. Die Quantenunschärfe wird bei Bohm nicht durch die Messung oder Beobachtung verursacht; vielmehr ist sie unvermeidlich aufgrund der nicht beliebig genauen Objektsisolierung. Und genau das, der stets unvermeidbare Zusammenhang mit dem Ganzen, kommt in der Nichtlokalität der Quantenmechanik zum Ausdruck. Diese jenseits der beobachterorientierten Theorie wie der Viele-Welten-Theorie angesiedelte Quantentheorie hat Zeh leider nicht thematisiert in ihrem Buch. Wahrscheinlich weil sie nicht skurril genug ist und weniger zur Verblüffung des Lesers beiträgt. Aber instantane Zustandskorrelationen und wechselwirkungsfreie Messungen sind allemal bizarr genug, da muss man den Bogen nicht noch vulgärphilosophisch überspannen. Die Anwendungen der Quantenmechanik in der Lasertechnik und Elektronik, speziell der Kommunikationstechnik und Unterhaltungselektronik toppen die Spieltheorie bei Weitem. Und so bleibt es ausdrücklich zu loben, dass sich eine Schriftstellerin der technisch-wissenschaftlichen wie gesellschaftlich-kulturell bedeutsamen Quantentheorie im Kontext einer spannenden Kriminalgeschichte angenommen hat.