Wie Alles auf dem Rasen wurde Juli während ihrer Vorbereitung auf das zweite juristische Staatsexamen
auch gefragt, woran sie denn da immer schreibe. Der Mensch unterscheidet sich vom Tier durch die
Fähigkeit, sich selbst nach allen Regeln der Kunst in die Tasche zu lügen. Die Strategien der
Heimlichkeit erlebten eine Aufrüstung. ,,Was schreibst du da?``, fragte mein Freund. ,,Nichts``, erwiderte
ich und fuhr damit fort, Abend für Abend und Nacht für Nacht auf meinen Computer einzuhacken. Unser Kurzdialog
wurde zum running gag: Was schreibst du - Nichts.- Und wie läuft es so mit dem Nichts? Mit dem Nichts
lief es ganz gut, zumal der neue Text vom Nihilismus handelte. Das Drauflosspinnen war in weiten
Passagen einem roten Faden gefolgt, so dass die entstandenen Handlungselemente linearer und nicht so in die
Breite verliefen. Dadurch wurde es leichter, den Text im Nachhinein auf seine Schwerpunkte und die gewünschte
Richtung zu untersuchen und die Romanisierung in Angriff zu nehmen. Mit der ausdrücklichen
Romanisierung ihres Textes, an dem sie nunmehr schrieb, begann sich Juli von ihrem
assoziativ-modernen Auftakt in Adler und Engel mehr der folgerichtig-traditionellen Romankunst zu
nähern. Über die Motive schweigt sie sich leider aus. Aber ein eher assoziativ-fluktuierender Stil, der
schichtenweise in die Breite geht, passt wohl besser zur Beschreibung einer Krisensituation, in der sich der
Held nach seinem Karriereknick unter Drogen befindet. In Spieltrieb geht es demgegenüber nicht um die
zu erhaschende Ordnung im Chaos, sondern um die Planung und Durchführung strategischer Spiele. Und wiederum
hält der Stil des Romans, was die Themen versprechen. Die
Spieltheorie
ist neben dem Nihilismus das
zweite Thema, das Juli nunmehr in einem durchkonstruierten Roman nach einem detaillierten Inhaltsverzeichnis ausgestaltet.
Und welcher Idee gibt sie sich hin? Die umschreibt die Autorin sogleich im ersten benannten
Abschnitt mit hypothetisch nihilistischem Unterton in der Einleitung: Exordium. Wenn das alles
ein Spiel ist, sind wir verloren. Was, wenn die Urenkel der Nihilisten längst ausgezogen wären aus dem
staubigen Devotionalienladen, den wir unsere Weltanschauung nennen? Wenn sie die halb leergeräumten
Lagerhallen der Wertigkeiten und Wichtigkeiten, des Nützlichen und Notwendigen, Echten und Rechten
verlassen hätten, um auf Wildwechseln in den Dschungel zurückzukehren, dorthin, wo wir sie nicht
mehr sehen, geschweige denn erreichen können? Was, wenn ihnen Bibel, Grundgesetz und Strafrecht nie
mehr gegolten hätten als Anleitung und Regelbuch zu einem Gesellschaftsspiel? Wenn sie Politik, Liebe
und Ökonomie als Wettkampf begriffen? Wenn ,,das Gute`` für sie maximierte Effizienz bei
minimiertem Verlustrisiko wäre, ,,das Schlechte`` hingegen nichts als ein suboptimales Resultat?
Wenn wir ihre Gründe nicht mehr verstünden, weil es keine gibt? Woher nähmen wir dann noch das Recht, zu
beurteilen, zu verurteilen, und vor allem - wen? Den Verlierer des Spiels - oder den Sieger? Der Richter
müsste zum Schiedsrichter werden. Mit jedem Versuch, Erlerntes anzuwenden und Recht in Gerechtigkeit zu
übersetzen, würde er sich der letztverbliebenen Todsünde schuldig machen: Der Heuchelei. Kurzgefasst:
Wenn alles ein Spiel ist, wird jeder Versuch, Recht in Gerechtigkeit zu übersetzen, zur Heuchelei.
Die an den Anfang gestellte Romanidee ist zugleich Teil einer Urteilsbegründung, um die sich eine redliche
Richterin bemüht, die über einen Fall zu urteilen hat, der für die Beteiligten nur ein Spiel war. Für
die Rekonstruktion des Falles trifft es sich gut, dass die Juristin zugleich Schriftstellerin ist und die Geschehnisse, die zum Tathergang führten, in die Form eines Romans zu kleiden vermag. Aber wer soll die
Geschichte erzählen? Ein Ich, der Weltgeist, die Gerechtigkeit, das multiple ,,Wir`` aus
phantasierendem Autor und seinen Figuren, das der Realität des Erzählens am nächsten kommt? Nichts
davon gefällt mir. Und so lässt die Autorin offen, wer denn das ICH dieses Schulromans sei, in dem
die Schüler bloß spielen wollen, aber ein Lehrer der Schule verwiesen wird, einer sich zu Tode stürzt
und ein weiterer sich im Gerichtssaal der kalten Sophie wiederfindet. Wie es sich für eine ordentlich symmetrisch erzählte Geschichte gehört, folgt der Einleitung am Anfang ein Epilog am Schluss: Kolophon, Epilog oder: Zwischen den Instanzen. Zwischen den Gerichtsinstanzen bleibt genügend Zeit für eine Rückbesinnung: Es geht immer nur darum, dass eine, dass die Geschichte sich selbst erzählen
kann. Wir alle sind nicht mehr als leise Stimmen im kakophonen Chor, gelegentlich ein vorwitziges Solo
spielend, nur mehr als wenige Sekunden, wenige Zeilen lang. Und hiermit ist alles gesagt. Musikalische
Metaphern hatte schon Virginia Woolf gerne zur Charakterisierung ihrer Romankunst verwendet und auch bei
Zeh erfahren wir mit dem Lesen ihres Romans etwas über das Schreiben, das Schreiben der eigenen Geschichte,
der einen Geschichte. ... Aber zurück zum Anfang. Folgen wir einigen Stimmen und ihren gelegentlichen
Soli ...
Von Prinzessinnen und Marionetten und der Möglichkeit, sich mit wenigen Worten Respekt zu
verschaffen. Ada war ein junges Mädchen und nicht schön. In jenem Augenblick, den der Scheinwerfer
dieser Erzählung ins Licht taucht, war sie vierzehn Jahre alt, blond und kräftig gebaut. Sie sah
älter aus als sie war und ihr stark entwickelter Busen ließ sie schon recht fraulich erscheinen.
Noch ein Mädchen? Eher eine junge Frau. Und warum hat Juli ihre Heldin Ada genannt? Soll die
Leserin an die erste Programmiererin Ada Byron,
Countess of lovelace, erinnert werden? Die Tochter
des romantischen Dichters Lord Byron war schon in jungen Jahren fasziniert der
Mathematik verfallen
und hatte für die Analytical Engine
Charles Babbage's 1833 einen ersten Algorithmus zur Berechnung
der Binominalkoeffizienten im Pascal'schen Dreieck programmiert. Jedenfalls im Prinzip; denn die von Babbage
entworfene Rechenmaschine konnte seinerzeit noch nicht realisiert werden. Wenn es um die Programmierung
und Berechnung spieltheoretischer Algorithmen gehen sollte, werden wir von Ada einiges erwarten
dürfen. Ada wurde im Sommer 2002 bereits in die zehnte Klasse des Ernst-Bloch-Gymnasiums
zu Bonn eingeschult. Eine vielversprechende junge Dame wird gleichsam unter die Fittiche des großen
alten Hoffnungsphilosophen genommen. Aber in jeder Schule gab es in den Klassen ab der siebenten
samt- und seidenweiche Mädchen, deren Geburt durch langsam anschwellende Musik begleitet
worden war wie das hochfahrende Windowsbetriebssystem von seiner Begrüßungsovertüre. Sie kamen
als Miniaturprinzessinnen zur Welt, erreichten bereits in der Unterstufe das erste, fohlenhafte
Stadium der Vollendung und wuchsen gleichmäßig in die Frau hinein, die sie einmal werden sollten.
Im Gegensatz zu den Prinzessinnen, die gelangweilt und desinteressiert auf Windows
herumklickten, wird Ada sicher das Profisystem Linux favorisieren und ihre Texte nicht
unter musil.doc, sondern als musil.tex führen. Ada war jedenfalls das Gegenteil
der Prinzessinnen und seit sie im Alter von zwölf Jahren auf den Gedanken verfallen war,
dass Sinnsuche nichts als ein Abfallprodukt der menschlichen Denkfähigkeit sei, galt sie als
hochbegabt und schwer erziehbar. Und Religion ist der Wurmfortsatz am Blinddarm der Zivilisation,
überflüssig, aber leicht entzündlich, ließe sich ergänzen. Ada hatte sich wirklich auf
Ernst-Bloch gefreut: Mir war so, als sei dies ein Ort für wirklich kluge, wirklich kaputte,
wirklich kategorische Menschen. Da war ein echtes Kuckuckskind ins Nest bunter Jungvögel geraten. Und
die bezeichneten sie ausgerechnet als Marionette; denn ihren richtigen Namen hatte keiner behalten.
Meist trug sie zu ihrer ausgewaschenen Jeans, deren fransig getretene Hosenbeine hinter den Fersen
übers Pflaster schleiften, eine Jacke gleichen Materials, jedoch von dunklerem Farbton, was einem
ästhetischen Verbrechen gleichkam. Kopf und Brüste, die ein Stück zu groß waren für Adas stabilen,
aber kleingewachsenen Körper, hatten ihr, gemeinsam mit der Tatsache, dass sie selten sprach, den
Spitznamen ,,Marionette`` eingetragen. Aus Anlass der Hundertjahrfeier Ernst-Blochs wurden
bald nach Adas Neuanfang zu Ehren des großen Meisters Reden gehalten und einige seiner Bonmots
und Aphorismen zum Besten gegeben, z.B.: Die Fälschung unterscheidet sich vom Original dadurch,
dass sie echter wirkt. ... Oder: Denken heißt Überschreiten. ... Ja, und Philosophieren meint
Transzendieren. Ada machte am Abend eine ihrer seltenen Eintragungen ins Tagebuch, das sie
,,An Selma`` genannt hatte: ,,Kein Philosoph würde ein dickes Buch schreiben,
wenn er im Vornherein wüsste, auf welche Weise er später zitiert werden wird``. Aber wer war
Selma?
Über den Konsum von Büchern. Seit sie lesen konnte, las Ada viele Bücher. Sie las,
wie man Stämme in ein Sägewerk schiebt. Weil sich von den dicken, harten Klötzen am längsten zehren
ließ, mochte sie vor allem die Literatur des vorletzten Jahrhunderts und alles, was vor dem Zweiten
Weltkrieg geschrieben worden war. Neuere Werke hielt sie bloß für Ablenkungsmanöver, kurzweilig,
süß, etwas wie Popcorn, das man konsumieren muss, während der Kopf mit anderen Dingen beschäftigt
ist. Aber Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel. Zu Ehren Arno Schmidts ersann Ada gelegentlich
sogar einen Mondvergleich, den sie in ihr Tagebuch eintrug, z.B.: An Selma: Ein Mond von der Sorte, die
niemand bemerkt, eine Herde Wolken an sich vorbeiwinkend. Aber wer war Selma? In der Unterstufe hatte
Ada eine Freundin, der sie alles weitererzählte, was sie las. Die Freundin hieß Selma, ging in die
Parallelklasse und stammte aus Bosnien-Herzegowina. Die Leserättin Ada las im Durchschitt drei
bis vier Bücher pro Woche und lag damit weit über dem Lesepensum ihrer Zeitgenossen. Einer Erhebung
des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels zufolge, lasen lediglich drei Prozent der Bundesbürger
mindestens 50 Bücher im Jahr und galten damit bereits als Vielleser. Ada erzählte ihrer Freundin
aber nicht nur angelesene, erfundene oder erlebte Geschichten, sie schrieb ihr auch Briefe, ging mit ihr
spazieren, legte den Arm um sie und - küsste sie auf den Mund. Das konnte nicht lange gutgehen.
Als Selmas Eltern dahinterkamen, war es aus mit dem zärtlichen Umgang der Teenies und kurze Zeit
später musste die ganze Familie wieder zurück nach Bosnien. Fortan schrieb Ada weiter an
Selma, in ihrem Tagebuch. Neben der Welt der Literatur interessierte Ada sich gleichermaßen
für die Welt der Natur, diese erhaben nichtmisstrauenswürdige Ordnung, die schon Darwin und Einstein
in ihren Bann gezogen hatte. Religion dagegen langweilte sie und beleidigte ihre Intelligenz.
Dem Deutschlehrer Smutek ging das ganz ähnlich. Er war ein Jünger des Mannes ohne
Eigenschaften und fest entschlossen, ihn den Schülern zumindest in Auszügen vorzusetzen. Fragmente
vom Wesen und Inhalt einer großen Idee. Smutek hatte sich ursprünglich nur für die Naturwissenschaften
interessiert, verspürte aber nach seiner Übersiedelung in den Westen den Wunsch, sein Leben zu ändern.
Und so wählte er das Lehramtsstudium für Deutsch und Sport. In die deutsche Sprache hatte ihn eine
schneewittchenhafte Landsmännin eingeführt, die ebenfalls aus Krakau stammte, was er selbstredend für
einen Wink des Schicksals hielt. Da sie dauerhaft in Deutschland bleiben konnte, hatten sie geheiratet,
damit er nicht gleich wieder abgeschoben werden würde; und zu seiner großen Überraschung erhielt er
als Pole sogar eine feste Anstellung zur Unterrichtung der deutschen Sprache am Ernst-Bloch-Gymnasium
zu Bonn. Ernst Bloch hätte das gefallen. Was den Direks zu dieser unorthodoxen Maßnahme bewogen hatte,
blieb sein Geheimnis. Für die Oberstufe plante Smutek jedenfalls, im Leistungskurs Deutsch,
seinen Schülern den Mann ohne Eigenschaften nahezubringen. Aber war Smutek schon der lang
erwartete Prinz, der die Szene betrat? Eher nicht; denn sein Name bedeutete Traurigkeit ...
Im Rahmen einer musikalischen Rückblende offenbart sich der Grund für Adas Anwesenheit
auf Ernst-Bloch. Aber zuvor noch ein bisschen Olaf; denn der hatte bereits den einen oder
anderen Gedanken an Ada verschwendet. Gekleidet wie ein Heavy-Metal-Fan und als Bass in einer
Schülerband gehörte er auch zu den Außenseitern. Via Internet hatte ihm homo sapiens längst
alle makabren Fratzen gerissen, deren er fähig war. Die Menschheit hatte sich als ein Rudel
gefährlicher, aus den selbstreinigenden Gefilden von Mutter Natur entkommener Mutanten bewiesen, die
sich virengleich vermehrten und im Begriff standen, noch die letzten verbliebenen Ordnungssysteme auf
dem Planeten zu zerstören. Olaf kannte die schmalen Trampelpfade des Man-muss-sein-Bestes-tun und
Da-kann-man-eh-nichts-machen, und er wusste um die Maut aus Gleichgültigkeit, die man für ihre
Benutzung zu entrichten hatte. Selbst wenn er gewollt hätte, wäre er schwerlich in der Lage
gewesen, sich wegen der Frage zu sorgen, wann und wie er seine erste Freundin finden würde. Aber
bekanntlich erobern nicht die Männchen ihre Beute, vielmehr werden sie von den Weibchen erwählt.
Und so war Olaf nicht minder überrascht, dass Ada nicht nur Dream Theater kannte,
die ihren Schwermetall-Sound nach den Kompositionsregeln klassischer Symphonien gestalteten, sondern
ihn eines Tages im Übungskeller auch noch mit dem Geschenk überraschte, das sie darin sah, ihm ihre
fülligen Brüste zu präsentieren, seinen rasch geschwollenen Schwengel freizulegen und - ihm einen
zu blasen, dass ihm hören und sehen verging. War ihre Unerschrockenheit der Grund für Adas
Anwesenheit auf Ernst-Bloch? Im zarten Alter von dreizehn Jahren hatte sie in der Tat einen Jungen
aus einer höheren Klasse, der ihr nachstellte, mit einem Schlagring attakiert, als er ihr zu nahe
gekommen war. Für sie war es wie ein Befreiungsschlag - und ebenso für die Schule, als sie sich von
ihr befreite. Nun war sie auf eine neue Schule gekommen, in der die Lehrer keine Pädagogen mehr
waren, sondern Dienstleister. Für selbstbewusste Schüler wie Ada und Olaf gerade richtig.
Und auch für - Alev, der zu Beginn des neuen Schuljahrs auf Ernst-Bloch kam. Alev
war der ersehnte Märchenprinz aus Tausend und einer Nacht. Er war in der Nähe von Kairo geboren
worden und hatte die Proportionen eines großen Mannes, obwohl er eher klein war. Seine Statur
vereinigte vortrefflich die eines Holzfällers mit einer Sphinx. Die Prinzessinnen musterten ihn
schamlos mit leicht offen stehenden Lippen und folgten mit ihren gierigen Blicken all seinen Konturen.
Smutek begrüßte ihn als Neuen in der Klasse und war sprachlos als Alev ihm auf polnisch
antwortete und für alle entschieden ergänzte: Ich habe mich als Kind entschlossen, das Diktum
Babels nicht zu akzeptieren. Wie Sie bestimmt wissen, sind die meisten Dinge im Leben eine Frage
des Willens. Des Willens zur Macht. Als Halb-Ägypter, Viertel-Franzose, aufgewachsen in
Deutschland, Österreich, Irak, den Vereinigten Staaten und Bosnien-Herzegowina war er schon ziemlich
weit herumgekommen und hatte bereits die abenteuerlichsten Erfahrungen mit seinen Artgenossen gemacht.
Mit seinen nunmehr achtzehn Jahren hatte er zehn Schulen hinter sich gebracht, war zweimal sitzen geblieben
und betrachtete Ernst-Bloch als eine Wiederaufbereitungsanlage für verlorene Seelen; gerade
richtig für ihn. Kaum etwas wirkt so erotisierend auf junge Frauen wie die Macht; außer Geld und Ruhm
vielleicht. Ada und Alev, die Paarung der weiblichen Intelligenz zur Verführung mit dem männlichen
Willen zur Macht versprach äußerst interessant zu werden. Wie schon bei Ada wird Juli den Namen
Alev nicht zufällig gewählt haben (wobei es Zufall genau genommen nur in der Natur und nicht in
der Kunst gibt). Alev klingt ja wie Aleph, dem Anfang des hebräischen Alphabets und
wird im Klassenkalkül der Mathematik als Bezeichnung für die Mächtigkeit von Mengen benutzt. Wollte
Juli an den Streit zwischen den Mathematikern Brouwer und Hilbert anknüpfen, der vor hundert Jahren über
die Mächtigkeit von Mengen entbrannt war und bis heute die konstruktive von der formalistischen Mathematik
trennt? Und sollte die mathematische Gruppentheorie etwas mit der Theorie sozialer Gruppenbildungen zu
tun haben?
Ada hat Probleme mit der großen Liebe. Mehrere taube Wochen zogen ins Land und Ada scheute
sich, eine Entscheidung zu treffen. Aber der Gedanke an Alev war wie ein Ohrwurm, der sich
nicht vertreiben ließ. Und Der Mann ohne Eigenschaften? Ihn las sie Wort für Wort, schaffte
wenige Seiten in der Stunde, und es war Alevs Stimme, die aus dem Buch zu ihr sprach. Sie musste
endlich eine Entscheidung treffen! Und so machte sich Ada an Alev ran: die Intelligenz
paarte sich mit der Macht! Aber kam das nicht einem Sündenfall gleich? Wenn Alev an ihr vorbeiging,
grüßte er sie mit ausgesuchter Höflichkeit, und manchmal blieb er stehen und beendetete einen Vortrag,
der seinem Gefolge galt, mitten in ihr Gesicht. ,,Ada.`` Sie hatte ihm ihren Namen niemals
genannt. ,,Das schöne am Leben ist, dass es nichts mehr zu verlieren gibt, wenn man einmal akzeptiert
hat, dass es früher oder später zu Ende geht. Dunkelheit, Geburt, Fressen, Ficken, Kämpfen, Fade Out.
Solange wir darin nichts Schlimmes finden, gibt es absolut nichts zu fürchten. Die größte Gabe des
Menschen ist seine Fähigkeit zum Freitod. Frei durch Tod. Wenn uns etwas nicht passt, können wir gehen.
Wo soll das Problem sein?`` Das Spiel war eröffnet. Ada spielte mit, indem sie die Rolle der
Moralistin übernahm: ,,Hast du kein Ziel? Gibt es nichts, was du wünschst? Einen Beruf? Eine
Frau? Wie wär's mit Geld?`` ,,Wir sind gar nicht fähig, etwas zu wünschen, das wir nicht längst
besitzen oder besitzen könnten. Das liegt im Wesen des Wünschens. Ich persönlich lehne es ab, auf diese
Weise die Zeit totzuschlagen. Zeit ist das Einzige, was dem Menschen wirklich fehlt.`` Und Sex?
Auch den hielt Alev für Zeitverschwendung - und kokettierte mit seiner Impotenz. Ada kam es
gelegen, dass Smutek auf Robert Musil zu sprechen kam, vom Wien der vorletzten Jahrhundertwende
erzählte und von den Umbrüchen in den Wissenschaften, der Philosophie und den Künsten. Er sprach vom Verlust des Glaubens, vom Bröckeln der Werte, vom Freischärlertum eines entfesselten Geistes und der
hysterischen Suche nach dem, was in längst vergangenen Tagen ,,die Seele`` getauft worden war. Er erklärte Musils außergewöhnliche Gabe des absoluten Gehörs für Worte, die ihn befähigte, die einmal
geschaute Welt in Sprache nachzuspielen. Ähnlich wie seine Landsleute Popper und Wittgenstein, interessierte
sich Musil zugleich für beide Kulturen: die geistes- und die naturwissenschaftliche Kultur. Musil hatte zunächst ein Ingenieurstudium absolviert bevor er sich der Philosophie zuwandte und mit einer Arbeit über den Positivismus Machs promovierte. In Musils Texten, behauptete Smutek, lägen Wahrheiten unter dem Staub der Jahre
verborgen wie Gegenstände in einem Trödelladen. Als Ausgleich zu ihrer obsessiven Lesetätigkeit hatte
Ada schon seit einiger Zeit mit dem Laufen begonnen; zwar mehr oder weniger spontan, aber doch nach und
nach besser werdend. Und so dauerte es nicht lange, bis sie regelmäßig zusammen mit ihrem Sportlehrer lief
(der ja passenderweise auch ihr Deutschlehrer war). Alev lagen derartig banale Aktivitäten natürlich
fern; er frönte lieber der Erweiterung seiner Selbsterfahrungsmöglichkeiten durch legale und illegale Drogen.
Eines Tages gelang Ada eine erste Annäherung an Alevs Innenleben. Der Nihilist arbeitete wie
ein Nachrichtendienst, der den Gesamtplan hinter seinen Aufträgen nicht kennt. Ein Zwischenziel bestand darin,
Adas Fähigkeiten in seine Dienste zu nehmen. Ein sorgfältig vorbereitetes, aber beiläufig erscheinendes
Treffen mit ihr, führte die beiden wie selbstverständlich in sein Pensionszimmer, das er bewohnte. An
den langen Wänden stand je eine schmale Liege. Ein Armstuhl ertrank unter den Kaskaden abgeworfener
Kleidungstücke, auf einem antiken Tischchen rutschten Bücherstapel übereinander und ließen keinen Platz
zum Lesen oder Schreiben. Ada erkannte ein paar alte Bekannte, Machiavelli, Nietzsche und Derrida. Überall
standen volle Aschenbecher. Am Boden zählte Ada fünf einzelne Springerstiefel, die zu groß waren, um
Alev zu gehören. In der Pension lebte aber nicht nur Alev, sondern auch noch eine Person, die wie
ein sanftes Gespenst auf der Couch des Wohnzimmers saß: Amila, seine Mutter. Und einen Bruder
gab es auch noch: den schönen Maurice. Der war aber selten da. Er hat die Angewohnheit, sich zu
Beginn des Schuljahrs ein Mädchen aus gutem Hause zu suchen. Sie verliebt sich in ihn, er besucht ihre
Eltern und gibt sich selbst zur Adoption frei. So ist er überall zu Hause. Er ist anders als ich. Manchmal
spielen wir Schach. Er hat noch kein einziges Mal gewonnen. Und der Vater? Der war offenbar genauso
nestflüchtig wie ihr eigener Vater, der allerdings nur ihr Stiefvater war und sich gerade von ihrer Mutter trennte. Das Scheidungsverfahren stand ihr noch bevor. Die überhebliche, traurige, verdorbene Extravaganz der Unterkunft Alevs wirkte auf Ada sehr ernüchternd und sie widerstand dem Märchenduft
dieser semiorientalischen Vagabundenfamilie. Ihrem Eindruck nach hatte Alev ein Familienproblem,
besonders mit seiner Mutter - und so sagte sie provozierend, als er ihr ein Buch reichte: ,,
Ich hasse Zeitverschwendung.`` ,,Alle Männer haben ein erotisches Problem mit ihren Müttern.
Das ist sehr anstrengend, bei Amila besonders.`` ,,Verlorene Zeit``, betonte sie störrisch,
,,ist wie tausend kleine Tode.`` Adas Neigung zu Panikattacken angesichts drohender Zeitverschwendung, z.B. in Wartezimmern, fand Alev nur unökonomisch. Aber Ada meinte es
ernst: Was auch immer wir in Zukunft miteinander zu tun haben werden, verschwende niemals meine Zeit. Verstanden?
Erster Blick in die Spielregeln. Welches Buch mag Alev Ada wohl geliehen haben? Natürlich
Axelrods Evolution of Cooperation. Beim nächsten Treffen fragte er sie, ob es ihr gefalle.
Weil Elend und Selbsterkenntnis sich schlecht mit der englischen Sprache vertrugen, hatte Ada
nicht mehr geschafft als das Vorwort und die ersten zwanzig Seiten. Zudem verlangte die Mathematik
Zugang zu Abteilungen ihres Gehirns, die vollends mit der Neuberechnung ihrer Persönlichkeit
beschäftigt waren. Das sagte sie ihm. Und so gingen sie gemeinsam die Beispiele durch. Es hätte
allerdings genügt, sich die mathematischen Grundlagen stochastischer Differentialgleichungen
anzueignen - oder ihren Diskretisierungen durch statistische Kugelspiele nachzuspüren, wie Eigen,
Winkler es in ihrem großartigen Buch Das Spiel vorgeführt hatten. Die Beispiele aus der
Populationsdynamik und alle sonstigen Lebensäußerungen unterliegen bekanntlich dem Darwinschen
Algorithmus, der aus Stoffwechsel, Selbstreproduktion und Mutation stets zur Selektion führt.
Die Replikatorgleichungen schließen auch das iterative Gefangenendilemma ein und enthalten im
deterministischen Limes die verallgemeinerten Formen der Fischer-Eigen-Schuster- wie der
Lotka-Volterra-Dynamik zur Simulation des Verhaltens konkurrierender Populationen. Selektion wie
Kooperation sind dabei Systemeigenschaften, die unter gegebenen Rahmenbedingungen dem Zusammenhang
aller beteiligten Akteure erwachsen. Auf das Gefangenendilemma
bezogen, ist bei iterativen Entscheidungsserien Kooperation wahrscheinlich, während im Einzelfall eher Verrat begangen wird.
Und für die nichtkooperativen Spiele gibt es das Nash-Gleichgewicht. Ideal wäre neben dem Deutsch-
ein Mathe-Leistungskurs gewesen. Dann wäre Ada nicht immer noch eigenschaftsloser als der Mann
ohne Eigenschaften gewesen und hätte der Selbststabilisierung ihres Hirns auf die Sprünge helfen
können. Die gierig um die Gunst Alevs buhlenden Prinzessinnen hatte Ada gleichwohl
locker aus dem Rennen geschlagen; denn Alev liebte ihre Schnelligkeit: Nur die langsamen der
Erkenntnis meinen, die Langsamkeit gehöre zur Erkenntnis. Sie konnte ihm beim Spielen nützlich sein
und so rief er sie eines Nachts wegen des Gefangenendilemmas an. Hatte sie schon geschlafen oder wieder
an ihrer Persönlichkeit gerechnet? Während des folgenden Schweigens vergaß Ada fast, dass sie sich
soeben noch unterhalten hatte. Ähnlich wie Steine im Wasser hatten die Worte nur für Sekunden einen
Abdruck in der kalten Luft hinterlassen, hatten ringförmige Schallwellen um sich herum verbreitet und
waren gleich darauf für immer verschwunden. Die Leitung lag wie tot. Kein Atemzug war zu hören. ...
Alev blieb dran und sagte nach einer Weile: ,,Ich muss dir was sagen. Ich bin fertig.``
Alevs Spielplan sah eine Entjungferung, eine Verführung und eine Erpressung vor. Und es war Eile
geboten; denn Ada würde in zwei Monaten sechzehn Jahre alt werden. Aber war Ada wirklich
so eigenschaftslos und unangreifbar wie es die Umsetzung eines vor hundert Jahren angekündigten
Prototyps verlangte? Einstweilen war die eher für die Präsentation seiner Funktionen als für den
tatsächlichen Einsatz gedacht. - Stufe für Stufe stieg sie aus dem Alltagsmenschen heraus und war, als
sie den Treppenabsatz erreichte, die Ruhe selbst. Was stand ihr bevor? Ein Treffen mit Alev? Die
Verführung Smuteks? Die Gerichtsverhandlung zur Scheidung ihrer Eltern? Eine Eifersuchtsszene
Olafs? Ein Hinterhalt der Prinzessinnen? Nein, ein Adler löste sich vom Dach.
Gerade als ein Lichtstrahl die mürbe Wolkendecke durchdrang, gewahrte Ada einen Schatten am
Dachfirst, der Menschengestalt annahm und mit ausgebreiteten Armen, den Kopf nach oben gereckt,
für kurze Zeit eine grandiose Eleganz entfaltete; dann aber fiel, sich in der Luft zu einem Klumpen
zusammenzog, an Tempo gewann - und mit einem Geräusch landete, als prallte ein Medizinball vom
Gewicht eines Kleinwagens auf den Asphalt. Die Schallwellen des Aufprallgeräusches waren auf Ada
zugerast und an ihrem Kopf zusammengeschlagen. Bei etwa zwanzig Metern pro Sekunde hatte der ganze
Vorgang knapp zwei Sekunden gedauert. Nur wenige Meter von Ada entfernt war ihr Geschichtslehrer
Höfling zu Fall gekommen. Gerade hatten sie noch eine Stunde bei ihm gehabt und von Politik
gesprochen, genauer gesagt: vom Terrorismus. Immer wieder vom Terrorismus. Im Lichte seines starken Abgangs, klangen ihr seine letzten Worte wie ein Abschied nach: ,,Vielleicht ist es ein Glück. Wir haben
das Ende der Religion überlebt, wir werden auch das Ende der Philosophie überleben. Vielleicht könnt
ihr auf diese Weise verkraften, was auch immer geschieht. Merkt euch zwei Dinge. Wenn das Fernsehen euch
sagt, etwas sei wichtig, will irgendjemand gerade ein Produkt verkaufen. Euch bleibt nur ein: Amor
fati, die Liebe zu allem, was ist. Ich wünsche euch das Beste.``
Hatte der plötzlich hervorbrechende Lichtstrahl den Sturz des Adlers ausgelöst, als dieser sich noch im metastabilen Schwindel am Abgrund befand? Oder handelte es sich um eine Zufallskoinzidenz des Augenblicks? Hatte Höfling den Phantomschmerz seiner selbstamputierten Werteordnung nicht mehr ertragen? Aber war nicht jeder Moment der geschichteten Zeit so stark wie der andere? Der Mensch gibt der Tat den Charakter und nicht umgekehrt, wir trennen Gut und Böse und wissen doch, dass sie ein Ganzes sind.- Wichtig an diesem Satz ist, dass wir es wissen. Es handelt sich um einen absichtlichen Irrtum, heißt es sinngemäß im Mann ohne Eigenschaften. Kommen die Eigenschaften den Dingen selbst zu oder werden sie ihnen nur beigelegt? Der Streit darum begann schon in der griechischen Antike zwischen Sophisten und Philosophen, wurde im Mittelalter fortgesetzt zwischen Nominalisten und Essentialisten, um endlich mit dem Positivismus Machs Ende des 19. Jahrhunderts überwunden zu werden; denn auch in der Mathematik und Physik hatte sich gezeigt, dass Zahlen und Figuren nicht vom Himmel fallen, sondern konstruiert werden müssen und ebenso die Eigenschaften der Atome nicht ihnen selbst zukommen, vielmehr ein Produkt der gesamten Laborsituation sind. Auch Atome hatten keine Eigenschaften. Sie kamen ihnen erst im Rahmen einer Messung zu. Gleichwohl hatte das nicht zur Folge, wahr und falsch aus den quantitativen Wissenschaften zu verbannen. Und neben der positivistischen Quantenmechanik Heisenbergs gab es noch eine realistische Variante, die von Bohm entwickelt worden war; allerdings um den Preis der Nichtlokalität. Die quantitativen Wissenschaften sind im steten Wandel begriffen und werden - immer besser! D.h. sie werden genauer und allgemeingültiger. Warum sollten also gut und schlecht abgeschafft werden? Pragmatisch gesehen, ist gut zunächst einfach, was dem eigenen Leben dient und schlecht, was ihm zuwider ist. Und wenn alle so dächten, käme es noch auf die Selbstkonsistenz eines optimalen gemeinsamen Maßes an. Aber darüber konnte man sich natürlich mit dem Freitod hinwegsetzen; der einen dann allerdings ins Jenseits von Gut und Böse katapultierte und zum bloßen physischen Objekt machte. Die beiden Außenseiter spürten immerhin, dass mit Höfling das alte Europa vom Dach gesprungen war. Und hatte er nicht einmal eine schöne Analogie zur poetischen Gemeinsamkeit zweier Menschen gefunden, die jeweils nur einen Flügel hatten und deshalb nur zusammen fliegen konnten? Ada hatte davon gesprochen, dass sie sich als eine Gratwanderin über dem Abgrund fühle. Und Höfling war darauf eingegangen mit dem Hinweis: wenn zwei Menschen jeweils auf schmalem Grat über einem Abgrund wandeln, können sie sich anfassen und so einen sicheren Vierbeiner bilden! War das nicht einer ihrer schönsten Augenblicke im Leben gewesen?, fragte sich Ada erinnernd.
Mit Smutek würde es einen anderen Verlauf nehmen. Oder etwa nicht? Rhythmisches Atmen zerteilte
jeden Redebeitrag in Viervierteltakte. ,,Wie wär's mit - Szymon Smutek - 1965 bis 2005 - Deutscher polnischer
Herkunft - entwickelte eine scheiternde - Moraltheorie, verübte - an seinem vierzigsten
Geburtstag - Selbstmord in Haft?`` ,,Du arbeitest an einer Moraltheorie?`` ,,Noch
nicht. Aber wenn es so weitergeht, wird mir nichts anderes übrig bleiben.`` Die Rechtslage ist klar.
Lehrer dürfen nicht mit ihren Schülerinnen vögeln, solange die noch nicht sechzehn Jahre alt sind. Auch
nicht, wenn die Mädels das wollen. Junge Frauen sollen also nicht nur vor ihren Lehrern geschützt werden,
sondern auch vor sich selbst. Was steckt da für eine Moral hinter? Die Jungfilmerin Helene Hegemann (die
mit vierzehn ihren ersten Sex hatte) schildert in ihrem Film
Torpedo
eine Situation, in der eine dreizehnjährige Tochter ihren Vater verführt, um Erfahrungen zum Schreiben
eines Inszest-Romans zu
erlangen. Da käme gleich noch der archaische Straftatbestand des Inszests hinzu. Warum gilt die
sexuelle Selbstbestimmung erst ab sechzehn und beginnt nicht einfach mit der Menstruation (und bei Jungen
mit der Ejakulation)? Ada war das ziemlich egal, sie hatte einfach mitspielen wollen. ,,
Meine Eisheilige``, nannte Smutek sie, ,,meine kalte Sophie.`` Aber sie wollte
nur ,,Pansophie`` genannt werden, wenn überhaupt. ,,Das Schöne ist``, sagte
er geheimnisvoll, ,,ob du die Wirklichkeit Illusion, Schattenboxen oder Sprachspiel nennst,
macht mit deinen eigenen Worten gesprochen, nicht den geringsten Unterschied. Hatte er sich in seine
Pansophie verliebt? Obwohl er von ihr verführt, genötigt und erpresst worden war? Jeden Verrat
hatte er ihr bereits verziehen. Und ,,der letzte Wert, dem wir ins Titelblatt unseres Lebens
eine Widmung schreiben können``, ist ihm die Wahrheit, ,,oder besser, die Abwesenheit
von Lüge. Daneben gibt es noch anderthalb Gebote von ehemals zehn. Erstens: Du sollst keinem anderen Menschen
auf die Nerven fallen. Und das halbe: Du sollst nicht töten, wenn es sich vermeiden lässt. Wenn jeder
diese anderthalb Gebote befolgte und sich dabei an die Wahrheit hielte, wäre die Welt längst ein Paradies.``
Und so wie im Recht die Unschuldsvermutung der Wahrheit zuträglich ist, sollte es in der Philosophie die
Nichtexistenzannahme sein. Aber das erforderte, ebenso wie das Verständnis des großartigen Romans Juli
Zehs, zumindest die Intelligenz einer Pansophie ...
Nach ihrem bravourösen Auftackt mit dem Polit-Thriller Adler und Engel 2001 vermochte Juli Zeh in dem Schulroman Spieltrieb 2004 ihr schriftstellerisches Niveau zu halten. Ihre eher nüchterne Sprache ist dem intellektuellen Gehalt eines gymnasialen Leistungkurses besonders begabter Schüler angemessen. Eigentlich ein Jugendbuch, verlangt es der Leserin gleichwohl neben der Abenteuerlust beim Lesen ein hohes Maß an Konzentration und Mitdenken ab. Trotz des allgemein beklagten Leistungsverfalls in der Schule und der zunehmenden Verblödung durch das Unterschichtsfernsehen und die Ballerspiele, wendet sich Juli unverdrossen an die Intelligenz Jugendlicher. Ein unterhaltsamer Bestseller ist so natürlich nicht zu schreiben, aber ein Buch, das noch dem Bildungsanspruch auf Horizonterweiterung und Persönlichkeitsentwicklung geschuldet ist. Spieltrieb ist ein intellektuelles Lesevergnügen, das interessant gestaltete Schulsituationen mit dem Zeitgeist zu verbinden vermag. Insofern ist es auch ein Zeitroman wie schon Adler und Engel. Mit dem von einem Engel ausgelösten Fall eines Adlers knüpft Juli zugleich an ihren Vorgängerroman und Virginias Wellen an. Der den Lehrer auf dem Dachfirst treffende Lichtstrahl ist der Metaphorik Woolfs folgend gleichsam der Götterbote des Sonnengottes und fächert damit die Perspektive des Geschichtslehrers bis hin zur ägyptischen Antike auf. Zudem wird der Umbruch in der Philosophie und den quantitativen Wissenschaften zur Zeit des vorletzten Jahrhunderts aufgegriffen. Die Konsequenzen eines radikal zu Ende gedachten Nihilismus und Positivismus in ihren Auswirkungen auf Ökonomie und Biologie sowie Schule und Gesellschaft werden von Zeh im Wortsinne durchgespielt. Lässt sich die genuine Eigenschaftslosigkeit der Dinge noch bis zur Gegenstandslosigkeit steigern? Bleibt ohne Dinge nur no-thing, nichts - und damit alles an Möglichkeiten? Man sollte dabei natürlich nicht die Fallstricke der Umgangssprache vergessen und ebensowenig Epistemik und Ontologie mit Ethik und Moral verwechseln. Wenn die vergegenständlichende Rede erst die Gegenstände schaffe, von denen die Rede ist, dann ist auf das Gerede zu reflektieren.
Zur Zeit Jane Austens bestimmte der Moralphilosoph Adam Smith das ökonomische Denken. Wie Dobb anmerkt, hatte sein Widersacher Mandeville in der Bienenfabel davon fabuliert, dass private Laster durchaus zu öffentlichen Tugenden taugten. Da der Moralist Smith die subversive Bienenfabel aber als ganz und gar bösartig eingestuft hatte, sprach er lieber von der berühmt gewordenen unsichtbaren Hand, die das Marktgeschehen zum Nuzten aller leite, auch wenn jeder seinen eigenen Zwecken folge. Der Ökonom und Freund Virginia Woolfs, John Maynard Keynes, hatte dann am Beispiel der Bank von England nachgewiesen, dass keineswegs das ungehemmte Verfolgen des Eigennutzes zum vorteilhaften Gesamtnutzen für alle führen müsse. Aber das war eben nur ein Beispiel. Mathematiker zielen auf den allgemeinen Fall. Und den löste John Nash 1950 mit seiner Dissertation über nichtkooperative Spiele. Danach gibt es mindestens einen Gleichgewichtszustand, in dem jeder Spieler nur noch auf Kosten eines anderen einen Gewinn erzielen kann. Die unsichtbare Hand war zu einer regulierenden Dynamik geworden. Bei Kuhn und Naser kann man die Arbeiten und Biographie Nashs im Detail nachlesen. Die Abneigung Adas und Alevs gegen Zeitverschwendung, ihr Einzelgängertum und ihre Arroganz sind typisch für Individuen, die nur durch die einsame Freiheit ihre persönliche Einheit zu wahren vermögen. Der Übergang zu psychiatrischen Krankheitsbildern ist fließend. Ähnlich wie Woolf litt auch Nash an einer psychotischen Störung, die sich zu einer schweren Schizophrenie ausbilden konnte, da sie im Milieu der ohnehin verschrobenen Mathematiker lange Zeit nicht ernst genommen wurde. 1994 hatte John Nash den Wirtschaftsnobelpreis erhalten und durch die Verfilmung seiner Biographie A Beautiful Mind 2001 wurde er weltweit einem breiten Publikum bekannt. Der kometenhafte Aufstieg und tiefe Fall der Internetfirmen mit dem darauf folgenden Börsencrash, die Versteigerung von Datennetzlizenzen gemäß Nash-Gleichgewicht, die Terroranschläge vom 11. September, der Krieg gegen den Terror, gegen Afghanistan und den Irak; all das hat Juli Zeh zu Spieltrieb inspiriert und sie hat es in Beziehung gesetzt zum Verfall der Philosophie, Politik und Moral, wie er schon in Musils Mann ohne Eigenschaften thematisiert wurde. Beide Romane böten den Rahmen für einen anspruchsvollen Projekt-Leistungskurs in Deutsch und Mathe. Aber wie viele Schüler (oder Leser) interessieren sich gleichermaßen für Literatur und Mathematik? Zum Glück lässt Juli sich nicht entmutigen und hat auch in ihrem nächsten Roman Schilf 2007 zwar einen Krimi geschrieben, verbindet in ihm aber gekonnt Verbrechen und Forschung, speziell mit Bezug auf die Quantenmechanik und ihrem Widerstreit zwischen Zufall und Schicksal, Wahrscheinlichkeit und Ursächlichkeit, Möglichkeit und Wirklichkeit.