,,Der Ansatz der Universalpragmatik läßt sich in einem Satz ausdrücken``, begann Niels am nächsten Morgen die Sitzung. ,,Sich mit jemandem über etwas verständigen. Habermas geht davon aus, daß wir beim Reden stets zugleich einen Selbstbezug (sich), einen Sozialbezug (mit jemandem), einen Objektbezug (über etwas) und einen Sprachbezug (verständigen) herstellen``. Er schaute in die Runde und ging an die Tafel, um eine Tabelle zu skizzieren. ,,Jede sprachliche Äußerung entspringt vier Regionen der Erfahrung: der inneren Natur, der Sprache, der Gesellschaft und der äußeren Natur. Jeder Erfahrungsregion korrespondiert ein Modus der Gegebenheit: Subjektivität, Intersubjektivität, Normativität und Objektivität. Mit jedem Modus der Gegebenheit wird ein Geltungsanspruch erhoben: Wahrhaftigkeit, Verständlichkeit, Richtigkeit/Angemessenheit und Wahrheit. Den Geltungsansprüchen zur Auszeichnung der Erlebnisse, der Ausdrücke, der Normen/Werte und der Tatsachen liegen die traditionellen Ideen der Freiheit, Klarheit, Gerechtigkeit und Wahrheit zugrunde. Folgen wir der Freiheit und handeln wahrhaftig, offenbaren wir in der Erscheinung unser Wesen. Erstreben wir Klarheit und äußern uns verständlich, geben wir den Zeichen eine feste Bedeutung. Bemühen wir uns um Gerechtigkeit, orientieren wir uns an den richtigen Normen und angemessenen Werten und stellen dem Sein ein Sollen entgegen auf dem Weg in eine bessere Gesellschaft. Und mit Blick auf die Wahrheit suchen wir hinter dem Schein, dem wahren Sein auf die Spur zu kommen``.

,,Das ist ja alles schön und gut``, meldete Franz sich ungehalten zu Wort. ,,Ich will der Universalpragmatik gar nicht ihre Plausibilität absprechen. Aber wenn es sich um den Anfang einer Gesellschaftstheorie handeln soll, erwarte ich schon ein paar genauere Überlegungen zum Status der Theorie. Habermas knüpft ja an die Sprechakttheorie Austins und Searles an. Wie begründet ist denn die Doppelstruktur der Rede?``

,,Nun, die Umgangssprachler unter den Sprachphilosophen gewinnen ihre Theorien lediglich aus der Analyse der Umgangssprache. Geltungskriterien dabei sind der common sense und die Kohärenz, d.h. die innere Stimmigkeit der Theorie``, entgegnete Niels und ging wieder an seinen Tisch. ,,Searle hat darüber hinaus eine Philosophie des Geistes entworfen, in der er die Doppelstruktur der Rede aus der Intentionalität des Bewußtseins folgert. In der zeitlogischen Perspektive Weizsäckers folgt die Doppelstruktur der Rede aus der Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft: Die Illokution ist futuristisch, die Proposition perfektisch``. Niels nahm ein Buch zur Hand. Sprachpragmatik und Philosophie von Karl Otto Apel. ,,Nach Habermas hat die Universalpragmatik die Aufgabe, universale Bedingungen möglicher Verständigung zu identifizieren und nachzukonstruieren. Es geht ihm um die allgemeinen Voraussetzungen kommunikativen Handelns. Auf der gegenwärtigen sozio-kulturellen Entwicklungsstufe hält er sogar alles Handeln für ein Derivat verständigungsorientierten Handelns. Die Typen sprachlich vermittelter Interaktionen gewinnt er aus den Aspekten der Handlungsrationalität und der Interaktionskompetenz . D.h. systematisch unterfällt die Universalpragmatik der Handlungstheorie. Entwicklungslogisch folgt sie der Ausdifferenzierung der ästhetisch-praktischen, der moralisch-praktischen und der empirisch-theoretischen Wissensformen in Kunst, Moral und Wissenschaft. Der sozialen Entwicklung entspricht die individuelle Reifung in der Ausdifferenzierung von Subjektivität, Intersubjektivität und Objektivität im System der Ich-Abgrenzungen. Der universalistischen Entwicklungsstufe auf der Ebene der Persönlichkeit entspricht die ideale Sprechsituation herrschaftsfreier Kommunikation auf der Gesellschaftsebene. Im Rahmen der verständigungsorientierten Kommunikation dient der Diskurs durch Reflexion auf die Bedingungen gelingender Rede dem Herbeiführen herrschaftsfreier Kommunikation``.

,,Aber das ist doch illusionär``, empörte sich Nell. ,,Nicht einmal unter uns ist die Kommunikation herrschaftsfrei, geschweige denn in Technik, Wirtschaft und Verwaltung. Die Menschen handeln doch zumeist technisch und strategisch und sind auf ihren eigenen Vorteil aus``.

,,Faktisch hast Du natürlich recht``, erwiderte Niels, ,,aber wenn Du kein Kriterium für die Entwicklung zum Besseren hast, bleibt Deine Forderung leer. Insofern hat Habermas das Anliegen der kritischen Theorie wesentlich präzisiert.``

,,Meine Frage hast Du noch nicht hinreichend beantwortet``, ließ Franz nicht locker. ,,Begründet Habermas die Universalpragmatik nun empirisch oder transzendental?``

,,Da die Universalpragmatik ihrem Selbstverständnis nach erst die Voraussetzungen empirischer Sozialforschung offenlegen will, kann sie nicht schon empirisch sein. Das ist ganz analog zur Physik. Dort geht z.B. die Geometrie der Physik als nichtempirische, aber gleichwohl handlungstheoretisch begründbare Theorie voran. Haberams folgt in der Begründung der Universalpragmatik dem Apriorie seines Kollegen Karl Otto Apel: Um die Voraussetzungen von konsensuellen Sprechhandlungen zu finden, müssen wir uns auf das besinnen, was wir notwendigerweise immer schon bei uns selbst und den Anderen als normative Bedingungen der Möglichkeit der Verständigung voraussetzen müssen und in diesem Sinne auch immer schon notwendigerweise akzeptiert haben.``

,,Aber mit dem apriorischen Transzendentalismus fallen wir ja auf die Stufe Kants zurück!`` empörte sich Franz.

,,Also, mir wird das langsam zu abgehoben``, meldete sich eine Schülerin zu Wort. ,,Mir reicht zunächst einfach die Plausibilität in der Umgangssprache. Ich denke zudem, die meisten Menschen würden auf Befragen der These von der Doppelstruktur der Rede zustimmen. Werden wir also lieber konkret! In Deiner Übersicht sind mit dem Einlösen der Geltungsansprüche verschiedene Sprechakte verbunden. Könntest Du `mal einige Beispiele dazu geben?``

,,Das will ich gerne tun``, wandte sich Niels der Schülerin zu, ,,denn den Begründungszusammenhang können wir in Verbindung mit der Methodik der Konstruktivisten wieder aufgreifen. In der Universalpragmatik werden vier Klassen von Sprechakten unterschieden:

Kommen wir nun zur Stellung der Universalpragmatik in der Theorie des kommunikativen Handelns. Habermas sieht einen grundsätzlichen Konflikt zwischen den Bedingungen der idealen Sprechsituation und den Systemimperativen der Steuerungsmedien. Die Ausdifferenzierung der Komponenten der Lebenswelt folgt dem verständigungsorientierten Handeln. Die Ausdifferenzierung der Steuerungsmedien auf der Ebene des sozialen Systems dagegen folgt dem strategischen Handeln im Rahmen der Systemdynamik. D.h. in ihren Lebenswelten haben die Gesellschaftsmitglieder fortdauernd das Problem zu lösen, ihre Kommunikation mit den Steuerungsmedien in Einklang zu bringen. Den durch Geld und Macht gesteuerten Institutionen des sozialen Systems stehen die durch teleologisches, normenreguliertes und dramaturgisches Handeln strukturierten Komponenten Person, Gesellschaft und Kultur der Lebenswelt gegenüber. Habermas spricht in diesem Zusammenhang von einer Mediatisierung der Lebenswelt. Die Umschaltung zwischen System und Lebenswelt nennt er Realabstraktion. Ich hoffe, angedeutet zu haben, was mit Gesellschaft gemeint ist als systemisch stabilisierten Handlungszusammenhängen sozial integrierter Gruppen. Die systemische Stabilisierung vermitteln die Steuerungsmedien. Die soziale Integration erfolgt durch verständigungsorientierte Kommunikation. Die Systemimperative der Steuerungsmedien und die Geltungsansprüche der Kommunikation verschränken sich in den Handlungszusammenhängen der Lebenswelten.``

,,Was für erhellende Formulierungen``, amüsierte sich Franz. ,,Dabei geht es doch bloß um die evolutionstheoretische Einsicht, daß Leben Problemlösen sei.``

,,Über den Zusammenhang zwischen physikalischer, biologischer und sozialer Evolution sollten wir in Verbindung mit der Diskussion der Ur-Theorie zurückkommen``, entgegnete Niels.``

,,Mit den universalpragmatischen Geltungsanspüchen an das Sprachhandeln wird der Rahmen des Problembewußtseins jedenfalls nicht von vornherein auf technisches und strategisches Handeln beschränkt``, begann Pieter und schaute Franz zweifelnd an. ,,Für sich betrachtet, liefe Dein Problemlösungsansatz bloß auf Sozialdarwinismus hinaus. Innerhalb der Universalpragmatik aber geht es um die Einlösung von Geltungsansprüchen. Dazu haben wir folgende Fragen zu beantworten:

,,Ich möchte hier gleich mal konkret werden``, drängte es Nell zu fordern. ,,Ökos und Grüne sehen mit der Globalisierung des motorisierten Individualverkehrs den Klimakollaps heraufziehen. Für sie handelt es sich um ein ernst zu nehmendes Problem, das durch den ökologischen Umbau der Gesellschaft gelöst werden müsse. Die Autofetischisten dagegen sehen überhaupt kein Problem, da sie davon ausgehen, daß sich die Biosphäre schon selbst reguliere.``

,,Nach meinem Dafürhalten handelt die Autoindustrie bloß strategisch, da es ihr um die Freiheitsideologie und den Profit geht``, hob Pieter an.

,,Was Du Freiheitsideologie nennst, nenne ich Eigenverantwortung``, unterbrach Franz. ,,Es bleibt jedem selbst überlassen, welches Verkehrsmittel er wählt und wie er es nutzt. Und ohne Profit wird auch die ökologisch umgebaute Gesellschaft nicht auskommen können. Die Menschen folgen doch meist einfach der Gier. In der Selbstregulationsfähigkeit des Marktes sehe ich einen genialen Mechanismus, das persönliche Glücksstreben der Menschen mit den gesellschaftlichen Anforderungen zwanglos in Einklang zu bringen.``

,,Da habt ihr die Positionen der Ökos und Yuppies einander schön gegenüber gestellt``, vermittelte Niels. ,,Der Yuppie meint, die Geltungsansprüche der Universalpragmatik einfach unterlaufen zu können, indem er an das menschliche Triebleben anknüpft. Die Ökos dagegen appellieren an die Einsicht des Menschen, auch die Gesellschaft, in der sie leben, planvoll gestalten zu wollen. Damit stehen sich wieder Sozialtechnologen und Gesellschaftsveränderer gegenüber. Wer hat recht?``

,,Jedenfalls kommen wir nicht umhin, in einen Diskurs einzutreten, um die Wahrheit der beiden Thesen zu prüfen``, fiel Sofie ein. ,,Insofern fügt auch der Yuppie sich dem Anspruch auf Verständigung.`` Franz war eigentlich gar nicht so übel, dachte sie. Wenn er bloß nicht so reaktionär wäre. ,,Menschen sind von Natur aus Kulturwesen``, hörte sie ihn anmerken. ,,Du meinst, die subjektive Gier ist ein zu berücksichtigender Faktor im dramaturgischen Handeln?`` ,,Ganz recht. Das Ausleben der ganzen Persönlichkeit gehört zur Selbstinszenierung.`` Sie schauten sich einen Moment geradewegs in die Augen.

Nell war die plötzliche Bande zwischen den beiden nicht verborgen geblieben. ,,Nehmen wir mal an, Du hättest recht``, begann sie mit einem süffisanten Lächeln an Franz gewandt. ,,Dein biologistischer Ansatz liefe darauf hinaus, sogar das Scheitern der Gattung Mensch in Kauf zu nehmen.``

,,Das Aussterben von Arten ist ein normaler Vorgang im Verlauf der Evolution``, bestätigte Franz. Nach einer bedeutungsvollen Pause fuhr er fort: ,,Zum Glück gibt es aber Selbsterhaltungsfähigkeit. Not macht erfinderisch.``

,,Um die aufgeworfenen Fragen Pieters zu beantworten``, schaltete Niels sich wieder ein, ,,scheint mir der Unterschied zwischen den Ökos und Yuppies darin zu bestehen, die Richtigkeit der Normen daran zu messen, ob sie eher der vermuteten Wahrheit der äußeren Natur oder der erlebten Wahrhaftigkeit der inneren Natur genügen. Den Ökos geht es um eine lebensfördernde Ökosystemdynamik. Den Yuppies kommt es auf das Ausleben ihrer Freiheitsspielräume an. Auf diesen Konflikt zwischen Kulturalismus und Naturalismus werden wir zurückkommen.`` Betretenes Schweigen setzte ein. Nachdenklich gingen die Schüler auseinander. Am Abend traf man sich zur Hochzeit.

Hermanns Satz blieb Sofie besonders im Gedächtnis: Ein ganz und gar unfaßbares, unwirkliches Gebilde! Ein Gendanke. Ausgesprochen aber verwandelt er sich in Realität. ,,Ist ein Gedanke unwirklich?`` dachte sie laut.

,,Werden Gedanken ausgesprochen, sind sie mit anderen teilbar, werden intersubjektiv zu gesellschaftlicher Realität``, entgegnete Hilde. ,,Vorher sind sie bloß subjektiv, gehören der inneren Natur an. Ich würde sie aber nicht unwirklich nennen wollen. Denn schließlich basieren sie auf elektro-chemischen Reizleitungen in Nerverzell-Netzwerken.`` Sie dachte einen Moment nach. ,,Faszinierend wäre es, wenn es gelingen sollte, von den Reizleitungs-Mustern auf die Gedankeninhalte zu schließen.``

,,Dazu müßten wir die Sprache der Gedanken entschlüsseln``, merkte Niels an.

,,Die innere und äußere Sprache der Gedanken könnte doch gleich sein``, vermutete Sofie.

,,Dann wäre denken bloß inneres Reden``, setzte Hilde den Gedanken fort. ,,Und so wie wir Sprache in Lauten durch Schall oder in Schriften durch Licht übertragen können, wird Sprache im Gehirn halt durch Nervenimpulse verteilt. Das ist doch ganz analog zur Sprachübertragung via Telefon.``

,,Du meinst, es könnte einmal das Sprechen im Gehirn beim Denken genauso in Schall übersetzt werden können wie das Sprechen zwischen Gehirnen beim Telefonieren?`` fragte Sofie verwundert.

,,Wir sollten allerdings bedenken``, schaltete Niels sich ein, ,,daß der Monolog nur eine Sonderform des Dialogs ist, nicht umgekehrt.``

,,Also erst lernen wir sprechen, dann denken``, sagte Sofie bestimmt. ,,Das äußere Reden geht dem inneren voran.``

,,Das Übereinstimmen der Einführungs- und Gebrauchssituationen der Ausdrücke beim Reden muß zunächst im Umgang mit anderen Menschen eingeübt werden``, entgegnete Hilde. ,,Haben wir Sensorik, Nervensystem und Motorik lange genug in Dialogen trainiert, können wir sozusagen die Verbindungen zwischen der zentralen Verarbeitung und den Sinnen wie den Muskeln unterbrechen und umlenken. Dabei kreisen die Ausdrücke ständig zwischen den sensorischen Rinden, dem Sprachzentrum und den motorischen Schaltstellen; ohne allerdings Sinneseindrücke zu empfangen oder Muskeln zu reizen.``

,,Damit steht im Einklang, daß Bewußtsein eine zumindest rudimentäre Sprache voraussetzt und genau aus diesem Kreisen bestehen könnte, das dem äußeren Kreisen ständig überlagert ist``, spekulierte Sofie.

Die Schüler waren zu müde, um die begonnene Diskussion in ihrer Akademie fortzusetzen. Sie zogen sich auf ihre Zimmer zurück.