,,Warum machen wir nicht einfach `ne Bootsfahrt?`` schlug Sofie vor.

Gesagt, getan! Sie befreiten das Boot vom Steg und ruderten mit Eifer auf die See hinaus. Nach einer Weile gingen ihnen wieder die Gedanken Albertos durch die Köpfe.

,,Mathe als Spiel mit Symbolen - so locker habe ich das bisher nicht gesehen``, sagte Sofie und fuhr fort: ,,Aber vielleicht hilft das spielerische Herangehen ja beim Lernen.``

,,Mathe zählt zu meinen Lieblingsfächern, weil sie mir leicht fällt``, entgegnete Hilde. ,,Aber eigentlich haben wir bisher nur gerechnet oder auswendig gelernt``, sinnierte sie weiter: ,,Warum Minus Mal Minus Plus ergibt, ist mir schleierhaft. An die Existenz der Allmenge glaube ich bloß. Ebenso daran, daß es unendlich viele Zahlen gibt. Ich bin gespannt, was wir darüber noch erfahren werden.``

,,Alberto erzählte mir von der Widersprüchlichkeit der Mengenlehre``, erinnerte sich Sofie. ,,Es läßt sich nämlich eine Menge angeben, die es eigentlich nicht geben kann! Ähnlich dem Barbier, der alle Männer rasiert, die sich nicht selber rasieren. Oder der seltsame Zwerg, dem wir begegneten. Eine unmögliche Figur!``

Unterdessen zogen tiefhängende Wolken auf. Nebelschwaden wallten über's Wasser. Die Sonne war im Dunst kaum noch auszumachen. Ehe sie den Nebel richtig bemerkten, waren sie auch schon von ihm eingehüllt. Wie sollten sie sich orientieren? Da das `eh zwecklos war, ließen sie sich treiben.

,,Wie der Zwerg, so ist bestimmt auch die Allmenge unmöglich!`` nahm Hilde unbeeindruckt ihren Gedanken wieder auf. ,,Vielleicht geht es den Konstruktivisten ja ähnlich wie mir. Und so verlassen sie sich nur auf das, was herstellbar ist. Dazu zählt weder die Allmenge, noch sonstige unendliche Mengen. Als Ideen mag man sie ja gelten lassen. Die Formalisten könnten dann ebensogut Platonisten genannt werden ... Jedenfalls ist es schön zu wissen, nicht allein mit seinen Zweifeln zu sein.``

Sofie lauschte angestrengt in den Nebel. Sie schien Gitarrenklänge zu vernehmen, die kaum merklich lauter wurden. Schattenhaft zeichneten sich die Umrisse einer Insel ab. Sanft glitten sie in eine Bucht und trieben bedächtig auf ein hohes Gebäude zu. An seinem Portal war verschwommen eine Aufschrift auszumachen: Akademie des Pythagoras. Plötzlich tauchte der Anleger auf und die beiden hatten Mühe, das Boot stoßfrei anzuhalten. Unvermittelt erschien eine Gestalt in Mönchskutte und machte das Boot fest. Der Mönch verschwand, ohne weitere Notiz von ihnen zu nehmen. Bei näherem Hinsehen konnten Hilde und Sofie weitere Gebäude erkennen. Auch sie trugen Aufschriften: Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie.

Die Mädchen folgten weiter den Gitarrenklängen und betraten die Musik-Akademie. Hilde hatte am Eingang den Hinweis Alles ist Zahl entziffert. Unwillkührlich entfuhr ihr die Frage: ,,Was haben Zahlen mit Musik zu tun?`` Der vermeintliche Gitarrenspieler in der Eingangshalle unterbrach sein Spiel und schaute auf: ,,Alle Seelen erklingen in rationalen Zahlenverhältnissen.`` Mehr noch als diese Antwort verblüffte die beiden sein Instrument.

,,Worauf spielst Du denn da?`` wollte Sofie wissen.

,,Das ist ein Monochord, ein Instrument mit nur einer Saite. Die Länge der Saite ist in 12 gleiche Teile geteilt. Unserem Tonsystem liegt die Tetraktys der Zahlen 6, 8, 9, 12 zugrunde. So kann ich an der Saite leicht die Intervalle Oktave, Quinte und Quarte abgreifen. Sie werden gebildet aus den Zahlenverhältnissen 12:6, 12:8, 12:9 . Die Zahl 9 ist das arithmetische Mittel zwischen 12 und 6 , d.h. die Differenzen 12-9 und 9-6 sind gleich. Die Zahl 8 ist das harmonische Mittel zwischen 12 und 6 , d.h. die Differenzen 12-8 und 8-6 verhalten sich wie 12:6 . Mit der Proportion 12:9 = 8:6 bilden die vier Zahlen in Verbindung mit dem arithmetischen und harmonischen Mittel die vollkommene Proportion. Die Arithmetiker beweisen, daß die 12 die kleinste ganze Zahl ist, die diese Bedingungen erfüllt.``

,,Jetzt weiß ich endlich, was es mit der 12-Tonleiter auf sich hat``, staunte Sofie. Der Monochordspieler demonstrierte mit geübten Griffen die Proportionalität zwischen Zahlenverhältnissen und Tonhöhenunterschieden. ,,Ist die Macht der Zahlen nicht wunderbar?``

Die Mädchen lauschten noch eine Weile dem Wohlklang der Zahlen. Ihr Hörgenuß wurde aber zunehmend durch erregtes Stimmengewirr getrübt. Sie verließen den Musiker und folgten den Lauten, die aus der Akademie der Arithmetiker zu ihnen drangen.

,,Gegeben sei ein Quadrat mit der Seitenlänge 1 . Dann hat nach dem Lehrsatz unseres Meisters die Diagonale die Länge tex2html_wrap_inline2403 .``

,,Dem stimme ich zu.``

,, tex2html_wrap_inline2403 ist keine rationale Zahl. Das zeigt der Widerspruchsbeweis. Also ist nicht alles Zahl!``

,,Wie kannst Du es wagen ... ``

Die beiden Streitenden verstummten als Sofie und Hilde eintraten.

,,Was ist ein Widerspruchsbeweis?`` wollte Hilde wissen.

Die Mönche schienen sichtlich verlegen. So als fühlten sie sich ertappt. Zögernd wandte sich der Opponent an Hilde.

,,Ein Widerspruchsbeweis besteht aus der vorläufigen Annahme des Gegenteils mit dem Ziel, einen logischen Widerspruch abzuleiten. Gelingt das, ist die ursprüngliche Annahme richtig.``

,,Deine Behauptung war tex2html_wrap_inline2403 sei irrational?``

,,So ist es. Ich nehme also vorläufig das Gegenteil als wahr an, d.h. tex2html_wrap_inline2409 , wobei a und b teilerfremd seien. Dann wird

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d.h. a und b können nicht teilerfremd sein (warum?). Also gilt die ursprüngliche Behauptung

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Hilde hatte das Gefühl, überrumpelt worden zu sein. Sie konnte aber nicht genau sagen womit.

,,Ihr müßt uns versprechen, darüber mit niemandem zu reden``, sagte der Proponent und schaute sie eindringlich an.

,,Wir werden es als Geheimnis für uns behalten``, murmelte Sofie, die den Ausführungen nicht ganz hatte folgen können. Verwirrt verließen die Mädchen das Gebäude. Es trieb sie zur Rückkehr.

,,Alles ist Zahl oder alles ist nicht Zahl``, sinnierte Hilde. ,,Mit Zahl sind aber nur rationale Zahlen gemeint. tex2html_wrap_inline2403 ist rational oder nichtrational ... Genau: Ein Drittes gibt es nicht. Das ist es, was mich an dem Beweis störte``, freute sich Hilde über ihre Einsicht. ,,Ein Widerspruchsbeweis setzt eine einfache Alternative als gültig voraus. Mit welcher Berechtigung?``

,,Die Frage kann sicher Alberto uns beantworten``, meinte Sofie.

Unterdessen hatten sie den Bootssteg erreicht. Unaufgefordert erschien wieder der Mönch und half ihnen ins Boot. Als sie abstießen, verschwand er aber nicht, sondern blickte ihnen nachdenklich hinterher.

,,Dann hatten ja schon die Pythagoreer ihre Grundlagenkrise``, unterbrach Hilde nach einer Weile gemächlichen Dahintreibens die Stille. Da sie sich kaum von der Insel entfernt hatten, begannen sie leicht zu rudern. ,,Aber warum sollte nicht alles nach irrationalen Zahlenverhältnissen darstellbar sein?`` fuhr sie fort.

,,Warum soll überhaupt alles Zahl sein?`` fragte Sofie erregt. ,,Ist nicht die Berechenbarkeit unserer Welt gerade der Grund für die Gegenwartsprobleme?``

Der Nebel begann sich zu lichten. Die warmen Strahlen der Sonne taten wohl und vertrieben ihnen die dunklen Gedanken aus den Köpfen. Fasziniert blickte Sofie auf das Spiel des Wassers mit dem Licht. Oder spielte der Wind mit dem Wasser? Luft und Wasser wurden durch die Wärme des Sonnenlichts in Bewegung gehalten! Die Wellen glitzerten in Myriaden von Schattierungen zwischen gleizend hell und trüb dunkel. Wie sollte das alles Zahl sein?

Mit der Sonne als Wegweiser näherten sich die beiden dem heimischen Anleger. Sie freuten sich auf die Heimkehr. Im Postkasten entdeckten sie einen Brief. Wie lange mochten sie unterwegs gewesen sein?

Der Brief war von Alberto aus Cambridge. Noch bevor sie die Haustür erreichte, hatte Hilde ihn aufgerissen. Es kamen mehrere Papiere zum Vorschein und eine Ansichtskarte. Sie zeigte den Blick in einen weiten Hof, der von schönen alten Gebäuden umrahmt wurde. Darunter stand Cambridge, England. Auf der Rückseite der Karte waren folgende Sätze zu lesen:

Axiome sollen wegen ihrer Folgesätze geglaubt werden!

Gibt es logische Atome?

Korrespondieren Tatsachen und Aussagen?

Ist Erfolg ein Wahrheitskriterium?

Schlechte Metaphysik begünstigt politischen Totalitarismus!

Sie reichte Sofie die Papiere und öffnete die Tür. Im Wohnraum fielen die beiden erschöpft in die Polster. Der Blick auf die Uhr zeigte ihnen, daß sie nicht einige Stunden, sondern drei Tage fort gewesen waren! Was ging hier eigentlich vor? Sofie und Hilde waren nicht mehr in der Lage, ihre Gedanken sinnvoll zu ordnen. Zunehmende Müdigkeit überfiel sie. Die Fülle neuer Gedanken mußte erstmal überschlafen werden.

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Ingo Tessmann
Sun Aug 4 20:28:20 MESZ 1996