Die Zweite Heimat

KENNEDYS KINDER. Alex, 1963. Zum Bild eines schlafenden Philosophie-Studenten ist Hermanns Stimme zu hören. Am frühen Morgen passieren die schrecklichsten Dinge, pflegte Alex zu sagen. Kriegsausbrüche, Verhaftungen, Eisenbahnunglücke, Hinrichtungen - und die Ausbeutung der Arbeiterklasse. Zu diesem bösen Teil der Welt wollte Alex nicht gehören. Deswegen schlief er, bis die Gefahr vorbei war. Das war meist erst gegen Mittag der Fall.

Alex lächelt im Schlaf und hat die Augen offen, ohne wach zu werden. Ich habe die Gabe, uns historisch zu sehen. Ich weiß z.B. genau, was ich am 23. November getan habe ...

Unterdessen ist Alex aufgestanden. Er bleibt nachdenklich vor seiner Zimmertür stehen. Es war der Tag, an dem John F. Kennedy in Dallas ermordet wurde. Das Ereignis, das erst abends eintrat, hat unser Kurzzeitgedächnis dieses Tages verlängert und in historische Dimensionen gehoben.

Während Alex sich auf die Suche nach Geld oder etwas Eßbarem macht, klebt Hermann Plakate. Spurensuche. Neue Musik von Hermann W. Simon. Streichquartett für abwesendes Cello. Hermann rennt im strömenden Regen umher und sucht geeignete Wandflächen. Ich habe an diesem Novembertag den ganzen Tag meine Spuren-Plakate angeklebt ... Gegen Mittag hat Helga mir geholfen. Sie war schweigsam und ließ sich absichtlich naßregnen. Ich glaube, ich ahnte, daß sie etwas Dramatisches inszenieren wollte.

Sofie konnte Helgas Verstimmung gut nachvollziehen. In der Musikhochschule stellte Helga Hermann zur Rede: Sobald du merktest, daß ich nur noch dich sehe und Tag und Nacht nur noch an dich denke, bist du geflohen. Du wolltest alles mögliche von mir, aber meine Liebe, die hat dich angeekelt, und vor der hast du dich gefürchtet ... Ich glaube, ich bin für die Liebe nicht geeignet. Das hast du doch gemerkt. Ich will frei sein. Liebe, das ist etwas, was einen schuldig macht. Man fühlt sich immer so schuldig. Männer sind Gefühlsgeizhälse, dachte Sofie. Ihre Menschwerdung wird wohl noch etwas dauern.

Hermann befindet sich unterdessen im Übungsraum. Im November 1963 hatte ich mein siebtes Semester begonnen ... Ich komponierte Avantgarde-Stücke und experimentierte mit Zufallswirkungen. Aleatorische Musik nannten wir das: von Alea - der Würfel. Dies bedeutete nur soviel wie Schicksal, in einer Welt ohne Gott.

Auch Clarissa ist auf der Suche nach Geld. Sie braucht es für eine Abtreibung. Von wem sie schwanger ist, weiß sie nicht genau: Volker oder Jean-Marie, zwei Kommilitonen, mit denen sie sich einließ, um Hermann ihre Unabhängigkeit zu zeigen.

Sofie mußte an ihre Männer denken. Bei einem Satz von Alex, merkte sie auf. Mich interessiert in erster Linie, was einer denkt. Die Familie ist doch meist ein trauriges Kapitel. So dachte auch Einstein, erinnerte Sofie.

Hermann sagt, er sei gruppenmüde - was immer das heißen soll ... Ja ja, das ist der Individualismus, die größte Krankheit unseres Jahrhunderts. Alex ist im Gespräch mit Fräulein Cerphal wieder grundsätzlich geworden. Er zieht sich in die Bibliothek zurück und greift nach Wittgensteins Tractatus: Die Welt ist alles, was der Fall ist ...

Im Abspann ist Alex zu hören: Drei Dinge hat Kennedys Tod bei uns bewirkt: Wir haben Helga rechtzeitig gefunden und vor dem Selbstmord bewahrt. Ich hatte wieder Geld in der Tasche, und die Freunde kamen nach über einem Jahr wieder zusammen, wie früher. Was sagt Wittgenstein? Die Welt ist die Summe aller Tatsachen ...

WEIHNACHTSWÖLFE. Clarissa, 1963