Nach einigen Warteschleifen waren sie heil auf dem J.F. Kennedy Airport niedergegangen. Am Ausgang fielen sich Mutter und Tochter freudig in die Arme. Adam traute seinen Augen nicht. Hatte er Suzanne schon für die Schönheit schlechthin gehalten, kam er beim Anblick ihrer Tochter aus dem Staunen nicht mehr heraus. Verzückt betrachtete er, wie sich die beiden begrüßten. Im Vergleich zu ihrer Mutter war die Tochter betont schick gekleidet. Suzanne wellten ihre dunklen, dichten Haare übers T-Shirt; ihre Tochter hatte sie hochgesteckt, so daß ihre zierlichen Ohren hervortraten. Ihre Lippen waren ein klein wenig voller, die Nase etwas kleiner und ihre Augen, ihre Augen: noch größer und mit dem Ungestüm der Jugend funkelnd. Ihr Gesicht insgesamt leicht rundlicher als das ihrer Mutter. Ihr hellgraues Kostüm betonte maßgeschneidert ihren vollen Busen. Im Jackenausschnitt wurde er luftig umhüllt von einer himmelblauen Seidenbluse. Der Minirock gab den Blick frei auf schlanke, wohlgeformt stramme Schenkel, die ebenmäßig über schmale Knie in feste Waden ausliefen. Die zarten Knöchel schwebten über schwarzen, hochhackigen Schuhen.
Jetzt kam sie auf ihn zu und streckte ihm die rechte Hand entgegen. Ihre großen, tiefbraunen
Rehaugen nahmen ihn gefangen. Ihm wurde heiß. Ihr zugleich voller und zarter Mund war gut
durchblutet oder schwach rosenrot angemalt. ,,Ich heiße Marianne``, stellte sie
sich herzlich vor und schaute ihn offen an. Seine nervös feuchte Hand umschloß leicht die
ihre, die sich warm und weich anfühlte. ,,Adam``, preßte er sichtlich verunsichert
hervor. Er vergaß, ihre Hand loszulassen. So drehte sie sich um und nahm ihn einfach mit zum Taxi.
Die Damen setzten sich nach hinten. Adam zog sein Jackett aus und blieb noch an der Vordertür
stehen, bis der Fahrer das Gepäck verfrachtet hatte. Es war warm und schwül, wie meistens
im August. Jedenfalls war es hier sehr viel wärmer als in Frankfurt. Gleichwohl hatte ihn nicht
das Wetter, sondern wieder einmal die Schönheit mit Hitzewallungen übermannt. Er setzte sich
zum Fahrer. ,,Midtown. Take the Queensborrow Bridge, please``, ließ Suzanne sich
vernehmen. Die Skyline Manhattens war immer wieder eine Augenweide, mochte es durch den Tunnel
auch schneller gehen. Das Taxi wurde behutsam in Bewegung gesetzt. Adam lehnte sich zurück und
streckte sich. Verstohlen fingerte er nach Katarinas Visitenkarte: see you at Lexington! Wie
passend. Lächelnd steckte er sie wieder ein. Er schloß die Augen. Die beiden Schönen hinter
ihm unterhielten sich angeregt. Sie mußten sich lange nicht gesehen haben.
,,... an der Uni ist alles bestens.`` Marianne sprühte vor Lebensfreude. Zärtlich
schaute Suzanne ihre Tochter an. Die Jungs müßten verrückt nach ihr sein. ,,Nach den
Grundkursen zur westlichen Zivilisation werde ich Vertiefungskurse in Philosophie, Mathematik
und Physik belegen. Bis Ende September habe ich eine Hausarbeit über Parmenides und einen
Essay über Feynman zu schreiben. Ich glaube, was dir
Einstein
bedeutet, wird für mich Feynman
werden.``
,,Ein faszinierender Forscher, vielseitig interessiert, auch über Fachgrenzen und
die Wissenschaften hinaus``, bestätigte Suzanne. ,,Ein Genie, das es sich leisten
konnte, stets unbeirrt und geradlinig der wissenschaftlichen Redlichkeit zu folgen. Wie
warst du denn auf ihn gekommen? Gemailt hattest du nur beiläufig von deinem Interesse
an ihm.``
,,Schon in der Highschool sagte mir ein Physiklehrer, daß ich `mal Bücher Feynmans
lesen sollte; der habe sich nämlich auch immer gelangweilt im Unterricht, weil es ihm
zu langsam voranging ... ``
,,Aber du hattest doch schon ein Jahr übersprungen``, wunderte sich Suzanne.
,,Vielleicht lag es ja an der gründlichen Vorbildung durch dich! Jedenfalls verschlang
ich regelrecht seine populären Bücher und was ich noch so im
Internet
finden konnte. Kennst du die Biographie von Gribbin?``
,,Nein, nur die von Mehra. Die wirst du aber erst in ein paar Jahren verstehen können,
wenn du Physik als Hauptfach wählen solltest``, entgegnete Suzanne. Die überschäumende
Freude und Begeisterung ihrer Tochter erinnerte sie an ihre eigene Jugendzeit, in der sie
Einstein bewunderte; seine Integrität und kompromißlose Suche nach Wahrheit. Vor allem sein
Gespür dafür, welche der vielen Ungereimtheiten in den Theorien wesentlich waren, zum
ernsthaften Problem taugten, das gerade noch lösbar war. Mit Feynman hatte nun Marianne ihr
Idol gefunden. ,,Dann werden dich deine Kommilitonen wohl ziemlich langweilen,
oder?``
,,Du sagst es!`` fiel Marianne seufzend ein. ,,Genies sind leider sehr selten.
Ich habe natürlich einige Jungs ausprobiert; kam aber weder sexuell noch intellektuell auf
meine Kosten``, rief sie unbekümmert.
Adam schaute leicht betreten drein. Die Damen erheiterten sich vergnügt. ,,Warum sollte
es dir besser ergehen als mir``, setzte Suzanne noch einen drauf. Unterdessen befanden sie
sich bereits auf dem Queens Blvd. Es ging geradewegs nach Manhatten. Erste Häuserspitzen
waren auszumachen.
,,Kennst du The meaning of it all? Eine Vortragsreihe aus den 60ern.``
Marianne wartete die Antwort gar nicht erst ab. Sie zitierte sogleich den Kernsatz, aus
dem sie ihren Essay entwickeln wollte: It is necassary and true that all of the things
we say in science, all of the conclusions, are uncertain.``
,,Wenn das nur alle beherzigen würden``, stimmte Suzanne ihr zu. ,,Und dein
Parmenides-Thema?``
,,Dasselbe nämlich ist Wissen und Sein``, zitierte Marianne.
,,Da hast du dir aber einiges vorgenommen. Ich hoffe, du wirst das Thema nicht nur
philosophisch angehen. Heutzutage sind ja die Naturwissenschaftler die eigentlichen Sprachphilosophen,
Erkenntnistheoretiker und Ontologen. Aber man wächst mit den Aufgaben.`` Suzanne erinnerte
eine Hausarbeit, die sie als Studienanfängerin über einen Satz Einsteins geschrieben
hatte: Alle Wissenschaft ist nur eine Verfeinerung des Denkens des Alltags. Darüber
war sie nicht nur in Studien über die Experimentierpraxis der Physiker geraten, zudem hatte
sich ihr die Strenge und Klarheit der methodisch-konstruktiven Philosophie
erschlossen; eine faszinierende Subkultur, die im
Gegensatz zum sogenannten radikalen Konstruktivismus leider nur ein Schattendasein fristete.
Sie schaute ins fröhlich frische Antlitz ihrer Tochter.
,,Woran hab' ich dich denn wieder erinnert?`` fragte die ahnungsvoll.
,,An die konstruktive Mathematik ... `` hob Suzanne an.
,,Du wirst es nicht glauben``, fiel Marianne aufgeregt ein, ,,aber eine Professorin
hier hat die zu ihrem Steckenpferd gemacht und beginnt bereits die mathematischen Grundkurse
damit ... Was ich aber noch sagen wollte zur Unbestimmtheit ... Hier läuft ein Theaterstück
am Broadway
, Copenhagen von
Michael Frayn. Es hat das Treffen zwischen Bohr und Heisenberg 1941 in Kopenhagen zum Thema.
Darüber werde ich ein Referat im nächsten Literaturkurs halten. Ist es nicht toll, wie sich
vieles so zusammenfügt?``
,,In der Tat!`` pflichtete Suzanne ihr bei. ,,Das Stück werde ich mir wohl auch
anschauen müssen ... ``
Adam hatte natürlich mitgehört und witterte die Chance eines Dates. ,,Wie wär's, wenn
ich mitkäme?`` fragte er betont beiläufig.
,,Warum nicht.`` Die beiden Schönen lächelten sich vielsagend an. Unterdessen schossen die Wolkenkratzer Midtowns vor ihnen in den Himmel. Leichter Dunst und verwehte Wölkchen fächerten das Sonnenlicht facettenartig auf, so daß Spiegelmuster aus Myriarden von Lichtpunkten über die Fenster wanderten. Suzanne kamen die Zeilen eines Liedes von P.J. Harvey ins Gedächtnis:
In sinnend heiterer Stimmung ließ sie sich von der gewaltigen Brückenkonstruktion
ergreifen. Was war das Leben schön, wenn man seine Möglichkeiten zu nutzen wußte.
,,Midtown, here we are``, rief der Chauffeur in gebrochenem Englisch beim
Herunterfahren von der Brücke.
,,Let me out right there, please``, wandte sich Adam an den Fahrer. Von den Damen
verabschiedete er sich mit dem Wunsch auf ein Wiedersehen: ,,Dann bis demnächst auf
der Tagung und einen schönen Tag noch.`` ,,Bye, bye.`` Adam stieg aus,
zog sein Jackett an und nahm seine Reisetasche in Empfang. Als sich der Taxifahrer wieder
gesetzt hatte, schaute er die Damen freundlich an: ,,So, what's next?`` ,,To the
Columbia University, Harlem``, wies Suzanne ihn an. Er reihte sich in den Verkehr ein.
Langsam und stockend ging es voran. Die 59ste Straße, Central Park South und am Columbus
Circle dann den Broadway `rauf.
Wohlwollend und skeptisch betrachtete Suzanne ihre Tochter: ,,Hast du dir nicht ein wenig
viel vorgenommen?``
,,Wenn man seine Zeit nicht mit langweiligen Freunden oder nächtelangen Partys verschwendet,
ist das kein Problem. Mir geht jedenfalls Qualität vor Quantität. Statt ständig zum
Sport zu rennen oder sich im Fitneßcenter abzumühen, habe ich lieber einen weiteren
Humanities-Kurs belegt: Trommeln, Tanzen und Meditieren. Darin gestalten wir Rhythmen und
entwerfen Choreographien, die von erregender Wildheit bis zu meditativer Ruhe reichen.``
,,Um die verlorene Einheit von Wahrnehmung und Bewegung wiederzuerlangen?``
,,Manchmal bringen wir ein ganzes Wochenende damit zu. Das Rhythmusgefühl in der Harmonie
gemeinsamen Regens und Erlebens zur Deckung zu bringen, macht richtig glücklich ... ``
Mariannes Ausdruck verklärte sich zunehmend. Suzanne sah sie amüsiert an: ,,Und wann
willst du das Zeichnen anfangen?`` fragte sie leicht ironisch.
Ihre Tochter sprang darauf an: ,,Wenn du auf Feynman anspielen willst, so eifere ich ihm
nicht so weit nach wie du denkst.`` Sie lächelten sich einverständig an. ,,Am
Anfang bin ich durch die Gleichmäßigkeit und Langsamkeit der sehr leisen Rhythmen zum
Meditieren einfach eingeschlafen oder in Trance gefallen. Mit der Zeit bekommt man aber ein
Gespür dafür wie die Trommelrhythmen auf das Körpergefühl einwirken. Manchmal verfallen
wir schlicht in stille Reglosigkeit ... Sehr entspannend ... Jedenfalls befördert das
Meditieren meine heiter-gelassene Grundhaltung dem Leben gegenüber.``
Altklug wie immer, dachte ihre Mutter schmunzelnd. ,,Und wie geht es dir?`` hörte sie
Marianne fragen. ,,Mir geht es sehr gut. Ich bin nur etwas müde vom langen Sitzen. Mein
Vortrag auf der Zukunftstagung ist erst morgen nachmittag. Da habe ich noch ein wenig Zeit,
um auszuspannen.``
,,Dann sollten wir nachher einen Spaziergang machen. Für den Abend habe ich uns einen Tisch
beim Italiener reserviert.``
Nachdem Suzanne sich angemeldet, ihr Zimmer in Beschlag genommen und sich frisch gemacht hatte,
schlenderten die beiden im Partnerlook durch den Riverside Park. Trotz der Mittagshitze waren Jogger unterwegs.
Keuchend und schwitzend kamen sie ihnen entgegen oder überholten höflich leftside. Im
Norden waren die Bögen der George Washington Bridge auszumachen. Auf dem Hudson River tuckerten
Lastkähne stromabwärts. Eigentlich könnte sie in den Staaten bleiben, ging es Suzanne durch
den Kopf. Ihrer Tochter erging es ja blendend hier. Und die Kleinkariertheit der deutschen
Beamtenseele, die noch immer die Hochschullandschaft dominierte, hielt sie jedenfalls nicht
zurück. Zum Glück hatte eine Erbschaft sie finanziell unabhängig gemacht. Die Hälfte hatte
sie für ihre Tochter angelegt. Die Zinsen erlaubten ihr eine unbeschwerte Jugend. Warum sollte
sie sich nicht als freiforschende Wissenschaftlerin selbständig machen? Unorthodoxe
Forschungsansätze und Lehrkonzepte waren hier jedenfalls sehr viel leichter zu verwirklichen ...
Schattenspiele in ihrem Blickfeld ließen sie aufmerken.
Marianne war um ihre Mutter herumgetanzt. Es dauerte eine Weile, bis sie es bemerkte.
,,Na, schwelgst du schon wieder in kosmischen Weiten?`` fragte die Tochter lachend
und ergriff ihre Hand zum Mittanzen. Die beiden Schönen wirbelten herum, so daß es eine
Freude war. Leicht aus der Puste ließ Suzanne sich ins warme, weiche Gras sinken. Marianne
setzte sich zu ihr, schaute sie verschmitzt an und stürzte sich mit diebischem Lachen auf sie.
Jungmädchenhaft kullerten beide den sanften Hang hinunter und blieben am Rand einer Buschreihe liegen.
Sie schauten nach oben. Eine Baumkrone ließ im Lufthauch das wohlige Licht mit ihnen spielen.
,,Wie schön es hier ist!`` Marianne klatschte rhythmisch in die Hände und begann
zu singen: Maria, Maria, she reminds me of a west side story
. Growing up in Spanish Harlem. She's living the life just
like a movie star. Maria, Maria, she fell in love in East L.A. To the sounds of a guitar,
yeah, yeah. Played by Carlos Santana
: ,,Die West Side Story läuft
gerade wieder am Broadway. Wir könnten hingehen. Ohne eine Antwort abzuwarten, hob sie wieder
zu singen an: Maria ... The most beautiful sound I ever heard: Maria, Maria Maria, Maria ...
All the beautiful sounds of the world in a single word: Maria, Maria, Maria, Maria ... Maria!
Ach, wie gern hätt' ich Lenny `mal kennengelernt ... Was für ein Mann!``
,,Hat es dir denn gar kein Jüngling angetan? Ich schwärmte seinerzeit für
Bruce Springsteen
...
Obwohl der auch nicht mehr der Jüngste war. Aber Born to Run traf mich mitten ins
Herz. Es war purer Rock'n'Roll. Und das in einer Zeit des dümmlichen Glitterrocks. Dieser
jungendliche Überschwang ... Suzanne kam ins Schwelgen ... Ich hatte vorhin daran gedacht,
meinen Job einfach hinzuschmeißen und ein vagabundierendes Leben anzufangen.`` Verträumt
folgte sie dem Segler, der bedächtig dahinwehte.
,,Wie heißt es so schön: Es gibt nichts gutes, außer man tut es. Um die Kohle
brauchst du dich ja nicht zu sorgen. Probier's aus. Feynman hat es als Motto der Wissenschaft
formuliert: If I do this, what will happen?
,,Du hast recht! Ich werd' heut' noch meine Kündigung abschicken. Schließlich lebt man
nur einmal. Auf nach Utopia
! Wie die Exis
, Beats
,
Hippies
und
Kommunarden
`mal
neue Lebensweisen ausprobieren. Eigentlich war es an der Zeit, endlich die Wissenschaft als
Lebensform auszugestalten ... ``
,,Du wirst es nicht glauben, aber in Kalifornien ist eine Wissenschaftler-Kolonie im
Aufbau mit dem Namen Utopia. Ein Lehrer hatte mir in der Highschool davon erzählt.`` Die
beiden schauten sich verblüfft an. Wie es sich wieder fügte. Jauchzend sprang Suzanne auf. Sie
hätte die ganze Erde umarmen können. Das Leben selbst war `mal wieder die schönste Droge! Marianne
verfolgte amüsiert die Verzückung ihrer Mutter. Arm in Arm stimmten sie ein: I like to
be in America! Okay by me in America! Everything free in America. For a small fee in America!
Ob des Jet-Lags wurde Suzanne schon beim Abendessen müde. Die heimelige Atmosphäre bei
Kerzenlicht und Wein tat ihr übriges. Angeregt durch Postmans
Visionen von einer Wiederbelebung der
großen Erzählungen, hatten sie beschlossen, nicht auszuruhen, sondern die Geschichte der
Jugendbewegungen seit dem zweiten Weltkrieg aufzuarbeiten und sich für den nächsten
Vormittag in der Bibliothek der Uni verabredet. Sie hatten Neil im Restaurant getroffen und
sich zu ihm gesetzt. Marianne mit ihrer Schwäche für ältere Herren blieb noch als Suzanne
sich verabschiedete. Vor dem Zubettgehen wählte sie die wenigen Tagungsvorträge aus, die
sie wirklich interessierten, schrieb den Kündigungsbrief und schlummerte befriedigt ein.
Als sie erwachte war es noch dunkel. Entfernters Staßenrauschen und das typische New Yorker
Sirenenhupen waren zu hören. Da sie `eh nicht mehr einschlafen konnte, federte sie aus dem
Bett, ging pinkeln und duschen, zog wie üblich T-Shirt und Minirock an, schlüpfte in ihre
Sandalen und trat vor's Haus. Vom Campus aus wendete sie sich nach Osten. Die Luft war noch
warm und dicht. Ein lauer Wind trocknete verspielt ihre Haare. An der Brüstung des Morningside
Drive stützte sie sich auf und blickte von der Anhöhe aus in den schmalen Streifen der
Dämmerung. Der Morgennebel begann sich rot-gelblich zu färben. Fast unmerklich stieg die
Sonne über den Horizont. Ein neuer Tag brach an! Im Rauschen der erwachenden Stadt meinte sie
Griegs Morgendämmerung herauszuhören. Sie schüttelte den Kopf. So war es meistens. Man legte
in die Dinge hinein, was sie nicht hatten und übersah, was in ihnen war.
Voll Tatendrang hatte Suzanne ihre Tochter viel zu früh geweckt und zum Frühstück aus dem
Bett geholt. Glücklicherweise war die Bibliothek durchgehend geöffnet und Marianne hatte als
Studentin freien Zugang. Die beiden hatten eine Arbeitsteilung verabredet. Suzanne wollte ihr
Vortragsthema vertiefen und über eine vereinheitlichte kritische Theorie zu arbeiten beginnen.
Ihrer Vision nach sollte der Ansatz der Theorie egal sein und sowohl Kultur als auch Natur umfassen können.
Wenn die Theorie stimmte, mußten die Selbstkonsistenzbedingungen auf die gleichen
überprüfbaren Hypothesen hinauslaufen. Also warum nicht einfach im Alltag mit der Umgangssprache beginnen.
Das sollte jedem verständlich sein. Verfeinern wir die Alltagspraxis! Der methodische
Konstruktivist Paul Lorenzen hatte die Situation des Anfangs in der Philosophie einmal mit der
eines Schiffbrüchigen verglichen. So wie sich ein Schiffbrüchiger auf hoher See aus den
herumschwimmenden Planken ein neues Schiff bauen müsse, gehe es auch in der konstruktiven
Philosophie darum, aus den Resten der fraglich gewordenen Umgangssprache gleichsam eine neue
Wissenschaftssprache zu zimmern. Die ersten Prinzipien des Sprachlabors waren schon genannt.
Die neue Sprache sollte verständlich, überprüfbar und konsistent sein. Glücklicherweise
gab es sie schon; denn es handelte sich natürlich um die Mathematik. Wie ging sie aus der
Umgangssprache hervor, und zwar aus der Sprache jeglichen Umgangs; egal ob es sich um den Alltag
der Kommune oder des Harems, der Sternwarte oder des Hochenergiebeschleunigers handelte.
Im Rahmen der großen Erzählungen vom Raumschiff Erde, der abendländischen Zivilisation und dem amerikanischen Experiment wollte Marianne die Lebensweisen herausarbeiten, die zur Erweiterung der Lebensmöglichkeiten beigetragen hatten. Die Exis, Beats, Rock-Poeten, Hippies und Kommunarden erschlossen der Jugend jeweils Lebenspraxen, die im Rahmen einer kritischen Theorie verständlich gemacht werden sollten. Für Marianne lag das alles lange zurück. Heute trieben Cyberpunks im Internet ihr Unwesen und organisierten z.B. den weltweiten Widerstand gegen die Globalisierung des Kapitalismus.
Die Zeit bis zur Einschulung hatte sie weitgehend bei ihrer Uroma auf dem Lande verbracht.
Später hatte ihre Mutter sie nach Schulschluß häufig mit in die Uni genommen. So war sie
von Anfang an dabei wie die Rechner zum Tor der virtuellen Welt wurden. Die Schlichtheit des
reinen Wissenschaftsnetzes hatte sie damals noch gelangweilt. Heute sehnte sie sich fast wieder
danach zurück. Denn das Internet droht zur gleichen kulturellen Müllhalde zu werden wie die
anderen Medien. Es gibt immer mehr Schrott, in dem die interessanten Inhalte unterzugehen
drohen.
Die Damen verteilten ihre Bibliographien, Übersichten und Sammelbände auf dem Tisch. Zudem sichteten sie die on-line Kataloge und Abstracts. Nach einigen Stunden konzentrierter Arbeit hatten sie jeweils verschiedene Inhaltsübersichten erstellt und mit stichwortartigen Erläuterungen versehen.
Das waren jeweils mehr als Lebensaufgaben. Und so begannen die beiden in grober Anknüpfung an
vorhandene Ansätze. Suzanne interpretierte die Quantenalgebra und Marianne machte sich an
die Gestaltung einer web page für hyperlinks zu den
Non-governmental organizations
und anderen Initiativen. Nach der Methode schrittweiser Verfeinerung sollte es dann
weitergehen.
Im Anschluß an die getane Arbeit begaben sie sich in die Cafeteria. Mit Kaffee, O-Saft,
Schoko-Muffins und Obstsalat auf ihren Tabletts setzten sich die beiden an die Ecke eines
Tisches am Fenster. Der Tisch war von einer Gruppe Studierender belegt, die angeregt diskutierten.
Wahrscheinlich waren sie gerade aus einem Seminar gekommen. Die Damen begannen mit dem Essen.
Marianne griff zum Muffin, Suzanne nahm vom Obstsalat. Die Studis am Tisch schienen über die
Thesen eines Buches zu streiten. Marianne hatte es schnell erkannt, da sie es kürzlich mit
Gewinn und Zustimmung gelesen hatte. Es handelte sich um For Common Things
von Jedediah Purdy, einem
Jurastudenten aus Yale. Er kritisierte darin die pseudoironische Haltung der Fitneßgeneration,
die sich nur noch mit sich selbst beschäftigte, aber kaum mehr für öffentliche Angelegenheiten
interessierte. In Deutschland wurde die Spaßgesellschaft in einem populären Buch von Florian
Illies als Generation Golf
umschrieben.
,,Gibt es eigentlich in Deutschland noch Streiter für die Politik und das soziale
Engagement?`` fragte Marianne als sie ihren Muffin herunterbekommen hatte, der ihr
schwer im Magen lag, aber vorerst keinen Hunger mehr aufkommen ließe.
,,Jutta Ditfurth
fällt mir spontan ein; allerdings eine Veteranin der Generation Marx ... `` Suzanne fiel gerade
ein, daß man die Generationswechsel in Deutschland `mal von Hitler über Marx und den Golf bis
zum Internet verfolgen sollte. So wie Florian seine Slogans zur Spaßgesellschaft aus Werbesprüchen
für den Golf zusammengeklaubt hat, wären entsprechend Mein Kampf und
Das Kapital
zu durchforsten ...
,,Dann wird es Zeit, das Jede's Buch ins Deutsche übersetzt wird``, sagte Marianne
bestimmt.
,, ... wohl wahr ... `` murmelte Suzanne nachdenklich. Sie merkte auf und schaute
ihre Tocher an: ,,Mit welchen Protestlern willst du denn deine Arbeit beginnen?``
,,Ich habe zunächst an die Beats gedacht, dann an die Folk-Rock-Poeten Cohen und Dylan. Ginsberg,
Kerouac und Cohen haben seinerzeit auch hier studiert. Nach den 68ern ist der Protest um alternative
Lebensformen leider in der Popkultur aufgegangen. Im empirischen Teil meiner Arbeit werde ich im
Internet nach Spuren ihres Verbleibs und nach würdigen Nachfahren Ausschau halten.
Magische Orte
müßte es heute
im Internet geben. Wie zum Beispiel der Künstlertreff
Zum Schwarzen Ferkel
im
Berlin der vorletzten Jahrhundertwende. Oder die Buchhandlungen
City Lights
in San Francisco und
Shakespeare and Company
in Paris. In City Lights hatte Ginsberg ja erstmals sein Geheul vorgetragen. Und bei Shakespeare und
Company konnten immer wieder Bücher veröffentlicht werden, die in den USA verboten waren. Nicht
zu vergessen auch das unter Künstlern beliebte
Chelsea Hotel
in New York oder
das Hotel de la Louisiane in Paris, in dem über Jahre Saint-Ex, de Beauvoir und Sartre
wohnten ... ``
,,Und die legendäre
Kommune I
in Berlin, aus der
unterdessen ein Harem in München hervorgegangen ist``, ergänzte Suzanne.
,,Uberhaupt denke ich``, fuhr Marianne fort, ,,aus meiner Arbeit einen B.A.-Abschluß
zu machen. Wenn sich meine Vermutungen bestätigen sollten, müßte sich so etwas wie eine
Generation Internet abzeichnen, und zwar nicht nur national, sondern im Weltmaßstab!``
Suzanne umriß den theoretischen Horizont ihrer Gedanken:
,,Das Institut für Sozialforschung Frankfurt hatte an der Columbia University auch eine
Zweigstelle, nachdem es mit der Machtergreifung Hitlers emigrieren mußte. Darüber habe ich noch
viele Spuren im Archiv entdeckt. Frankfurter Sozialphilosophie und Kopenhagener Naturphilosophie
hatten später einen gemeinsamen Hort im Max Planck Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen
in der wissenschaftlich technischen Welt gefunden. Eine derartige Zusammenarbeit müßte unbedingt
wieder aufgenommen werden, damit die Globalisierung nicht allein dem Kapital überlassen wird und
sich die Spaßgesellschaft nur noch zu Tode amüsiert.``
Suzannes Vortrag am Nachmittag wurde vom anglo-amerikanischen Publikum viel interessieter aufgenommen als seinerzeit bei Vorträgen in Deutschland. Interdisziplinäre Arbeiten mit analytischen Methoden waren den Amerikanern selbstverständlich. Sie tauschten nicht nur Standpunkte aus, sondern diskutierten Argumente. Wenn sie dagegen an die provinziell-kleinkarierte Pseudokritik der deutschen Begriffsgymnastiker in der Nachfolge des Idealismus dachte ... Aber das lag ja jetzt hinter ihr. Hier herrschte eine offene Atmosphäre konstruktiver Kritik, die Gekanken in kongenialer Weise aufnahm, modifizierte und weiterführte. Schnell hatte sich eine internationale Arbeitsgruppe um sie geschart, die ihre Diskussionen in einer Mailingliste der School of General Studies fortsetzen wollte. Gern nahm sie eine Einladung an ins Critical Theory Institute der Universität Irvine in Kalifornien. Das konnte sie gut mit dem Besuch der Konferenz zur Quantengravitation in Berkeley verbinden.
Ermüdet von den intensiven Gesprächen in der Uni, war Suzanne am Abend in der Stimmung, sich noch
ein wenig die Beine zu vertreten. Mit Einbruch der Nacht schlenderte sie den Broadway hinunter.
Gedankenversunken bog sie in die 112te Straße ein ... und stand erstaunt vor
Tom's Restaurant
. Sie schaute hinein und
spieglete sich im Gesicht Suzanne Vegas
...
Da hatte natürlich `mal wieder ihr Unterbewußtsein die Regie übernommen. Beim zweiten Blick
sah sie sich nur noch selbst, obwohl ihr Frau Vega nicht ganz unähnlich war ...
det de de det det de de det det de de det de det de det ...
Mit dem Song Tom's Diner im Ohr betrat sie das Lokal, setzte sich an einen Ecktisch und bestellte
einen Kaffee.
Welch ein Zufall, dachte Suzanne ungläubig; denn gab es Zufälle überhaupt? Wie lange war es her, daß sie Suzanne erstmals live erlebt hatte? Es mußte Mitte der 80er Jahre gewesen sein, in Hamburg, im Cafe Schöne Aussichten. Mit zarter Stimme und wohlklingender Gitarre hatte die Künstlerin eine stimmungsvolle Atmosphäre heraufbeschworen; ihre Texte voll eindringlicher Poesie. Suzanne umfaßte mit beiden Händen den warmen Kaffeebecher, der vor ihr hingestellt worden war, lehnte sich zurück, schloß die Augen und ließ eine ihrer Lieblingslieder wiedererklingen:
,,May I take this seat ... my dear stranger?`` vernahm sie wie von Ferne eine ruhige, tiefe Männerstimme. Sie öffnete ihre Sternenaugen und ... blieb sprachlos. Ein hochgewachsener Mann mit dichtem, schwarzem Haar und markantem Gesicht stand ihr mit einem Anflug von Lächeln gegenüber: ,,I'm part of the whole design.`` Seine tief dunklen Augen nahmen sie gefangen und dehnten den Moment ... Wie in Trance setzte sie leise, aber hörbar ihr Lied fort:
Langsam und umsichtig setzte er sich neben sie, öffnete sein schwarzes Jackett und hüllte sie damit ein während sie ihren Kopf an seine Schulter schmiegte. Sinnend blieben sie einfach so sitzen. Der Kellner stellte unaufgefordert ein Wasserglas mit Eis und zwei Gläser auf den Tisch. Als ihr Fremder zu sprechen begann, jagte sein Resonanzkörper ihr Schauer über den Rücken. Sie überließ sich dem Energiestrom des Schallfeldes. Untergründig vernahm sie den ruhigen, gleichmäßigen Schlag seines Herzens. Ihre Atemzüge synchronisierten sich. Sie tauchten ein in die Wellen des Gleichklangs ...
Suzanne schreckte auf und blinzelte verwirrt ins grelle Sonnenlicht, das ratschend den Raum flutete. Am Fenster machte sie eine hochgewachsene, schlanke Gestalt in schwarzem Umhang aus, die gerade ans nächste Fenster trat und auch dort den Vorhang beiseite zog. Suzanne meinte noch zu träumen und wollte ihre bereits geöffneten Augen aufschlagen. Die dunkle Gestalt drehte sich lächelnd zu ihr um. Unsere Eva hatte Mühe, im Gegenlicht den Fremden aus Tom's Diner zu erkennen. Langsam gewann die Erinnerung in ihrem Bewußtsein Raum. Eine Nacht im Hotel mit einem fremden Mann? Das war ihr noch nie passiert. Obwohl ... Geträumt und ... sogar ersehnt hatte sie es schon. Ihr Körper signalisierte ihr jedenfalls Ruhe und Behaglichkeit. Der mußte es ja wissen. Voll Wohlgefühl reckte sie sich und gähnte tief.
Ihr Adam hatte leise Rhythmen erklingen lassen und war im Bad verschwunden. Sie ließ die Rites Jan Garbareks auf sich wirken. So häufig hatte sie in noch keiner Nacht gevögelt. Welch eine Wonne! Schon die Gedanken daran, ließen sie wieder in Erregung geraten. Sie trat die Decke beiseite, spreizte ihre Beine und öffnete sich dem Lichtkitzel der Sonnenwärme.
Als unser Adam seine Eva so in planetarischer Sinnenfreude gewahrte, suchte er seine Erregung
durch Langsamkeit zu steigern. Wenngleich seine pochende Schwellung zu platzen drohte, strich
er zart von ihren Zehen aufwärts und richtete die feinen Härchen an der Innenseite ihrer Schenkel
auf. Als er endlich in ihr war, zuckten sie auch schon synchron in Ganzkörperkrämpfen.
Erschöpft fanden sie sich am Boden wieder und schliefen ein, wie Liebende es tun pflegen.
Eva erwachte mit Harndrang und Magenknurren. Während sie im Bad weilte, orderte Adam ein Abendessen und ließ das Eßzimmer der Suite herrichten. Aus dem Bad kommend hüllte er auch Eva in einen Morgenmantel aus schwarzer Seide und geleitete sie an den reich gedeckten Tisch. Nach den Gaumenfreuden eines vielgängigen Menüs führte der Rausch durch Aperitif, Wein und Champagner unser Paar wieder auf das Lager. Diesmal überließen sie sich auf der Couch des Salons ihrer heiligen Stimmung und beseelten erneut ihre Leiber ...
Die erregegenden Wachphasen waren erfüllt vom Genuß wohlschmeckender Speisen und orgasmischer Zuckungen. Die entspannenden Schlafperioden durchwoben erlebnisreiche Träume, deren Lustphantasien einen rauschhaften Zwischenzustand einzunehmen schienen wie in luftiger Schwebe ...
Und während Adam wieder und wieder erschüttert vor Evas Schönheit auf die Knie sank, drängte es ihn wieder und wieder durch das Delta ihrer Schenkel in das Alpha ihrer Lippen und über das Omega ihres Kitzlers bis an die Wiege ihres Flußlaufs in den See ...
Für Eva verschmolzen Cohens Lieder und Adams Begehren ...
... im Feuer der Leidenschaft:
In der Schwebe des modulierten Zeitgefühls der Liebenden wurden Momente zu Ewigkeiten gedehnt und Tage zu Sekunden verkürzt. Waren sie in die Nebenläufe des Wirklichkeitsstroms geraten? Drohten sie sich `gar in den Kreisläufen der ewigen Wiederkehr des Gleichen zu verlieren? Adam und Eva überließen sich dem Wirken der Natur, mehrten stetig ihren Erlebnisreichtum und loteten die Vielfalt ihrer Sinnenfreuden aus. Gleich einer Interferenz im ozeanischen Glücksgefühl, überlagerten sich Evas diffuse Lustschauer mit Suzannes hellsichtiger Situationserkenntnis. Die Verschränkung von Schattenwesen und Lichtgestalten im Interferenzmuster geht allerdings verloren, wenn man ihren Hergang zu analysieren versucht. Der Weg ist das Ziel; denn das Beschreiten eines Weges auf ein Ziel hin verändert es. Die natürliche Vielfalt und der erlebte Reichtum an Engergiegestalten bleibt nicht in der naiven Einfalt der Umgangssprache erhalten, sondern nur in der Komplexität der Mathematik aufgehoben. Der Rahmen des mathematisch präzisierten Denkens ist zugleich tief und weit genug, all die filigranen Interferenzmuster des kosmischen Wirkungsgefüges darzustellen. Gerade eine Theorie wie die Quantenmechanik , die in selbstreflexiver Weise auch eine Meßtheorie enthält, eröffnet die Möglichkeit wechselwirkungsfreier Messungen: indem die Besonderheiten der instantanen Interferenzmuster genutzt und nicht die zeitlichen Verläufe einzelner Wege verfolgt werden. In Licht- und Schallfeldern können Interferenzen ebenso aufrechterhalten werden wie in den Reizüberlagerungen und den Signalverschränkungen unserer Nervennetze ... Eva stimmte ein Lied an ... Es war Suzannes Lieblingslied Klaus Hoffmanns:
Und stand's so oft an der Wand mit dem hochmütigen Blick des Richters
Du wärst so gern beteiligt gewesen an der Spontaneität der ander'n
Hattest immer ein ABER bereit
Sprangst dann doch mitten hinein, ohne zu denken
Erlebtest ein paar Momente des Glücks
Und warst Minuten lang DU ...
Erst noch leicht verschlafen, dann klarer wurde Suzannes Sopran vom Baß Adams überlagert:
Wenn ich sing', singt mein Kopf, mein Schwanz und mein Herz
Wenn ich sing', singt die Hoffnung, der Krampf, mein Schmerz
Wenn ich sing', wenn ich sing', wenn ich sing', dann bin ich dir nah
Zum Schluß hatten sich die beiden in die unio mystica der Freude gesungen:
Wenn ich sing', dann bin ich mir nah
Wenn ich sing', singst DU!
Sie sahen sich eindringlich an und nahmen sich schweigend in die Arme. Gab es vielleicht nicht nur eine Zustandsverschänkung im einzelnen Gehirn, sondern auch zwischen Gehirnen? Die mathematischen Produktzustände vor dem sowohl-als-auch wie dem entweder-oder blieben in der unio mystica verborgen. Immer häufiger zeigten sie sich aber in den mikrophysikalischen Experimenten mit korrelierten Quantensystemen ... Sanft löste sich Adam aus der Umarmung und klaubte die Fernbedienung für den CD-Vielfachwechsler hervor ... Das Bestreben, sich ein Gemeinschaftsgefühl aneignen zu wollen, macht es zunichte ... Und so stimmten sie bloß wiederholt mit ein:
Ach Gnädigste, ach Gnädigste,
mir ist es völlig gleich ob sie arm sind oder reich.
Alle suchen Liebe ...
Es folgte eine Weile der Stille. Dann stand Suzanne bedächtig auf und trat ans Fenster. Lange
schaute sie auf den Central Park
hinunter. Vom Treiben ihrer Mitmenschen da unten fühlte sich
eigentümlich entrückt. Sie öffnete sich ihrer Umwelt mit der Langsamkeit einer aufgehenden
Blüte. Offensichtlich befand sie sich im Obergeschoß des Plaza Hotels. Adam war hinter
sie getreten, schmiegte sich an, umfaßte sie am Bauch und liebkoste ihr rechtes
Ohrläppchen. Noch weilten die beiden im Kokon der Liebe. Aber ahnungsvoll dämmerte ihnen
das Übergangsstadium der Verpuppung. Um sich noch einmal ihrer Symbiose zu vergewissern,
strich Adam ihr zart zu den Brüsten hinauf und spielte mit ihren harten Nippeln. Eva
massierte seinen steifen Schwanz und befingerte ihre vorstehende Lustperle.
Behutsam beugte sie sich vor, schob ihr Becken nach hinten und umschloß seinen Stengel
mit der Blüte ihrer Rose. Unversehens verschwamm der Park zu einem flirrenden Farbmuster ...
Nach dem letzten Akt sprengten die beiden ihren Kokon und fanden erstmals Worte
füreinander. ,,Ich heiße Paul``, sagte Adam. Evas Namen kannte er bereits.
Suzanne schaute sich im Salon um und ließ eine CD erklingen: die Bach Suiten für Violoncelle solo. Sie griff nach einigen Büchern: Schwarzer Rücken der Zeit, FutureSex, The Fabric of Reality, Heinrich von Ofterdingen, Feynman Lectures on Gravitation, Stranger Music, Maya, Copenhagen, Afghana, String Theory, Chronik der Gefühle, Kolonien der Liebe ... Letztere hatte sie schon immer mal lesen wollen. Sie nahm das Büchlein zur Hand. Folgende Zeilen waren unterstrichen: Eine Nacht mit abstrusen Verrenkungen haben wir zusammen verbracht und uns lauter gefährliche Heimlichkeiten erzählt. So was bleibt zwischen Verrückten in der Luft wie Verbindungsfäden, und wenn das Leben an einem reißt, merkt es der andere auch. Diese beiden Sätze würden ihr in Erinnerung bleiben. Band II der Chronik der Gefühle enthielt ein Lesezeichen. Neugierig schlug sie den Band auf: Das Quantenvakuum, eine poetische Metapher. Es folgte ein Interview mit Rene Schlitz, den sie nicht kannte:
,,Nein, ich bin als Lebemann unterwegs und halte mich meistens im Hotel einer
Metropole auf``, antwortete Paul freimütig. Suzanne kannte natürlich die Physikbücher.
Wissend nahm sie unseren Exi in den Blick. Der hatte sich wieder ganz in schwarz gekleidet,
saß auf der Couchlehne und schaute sie neugierig an. Gegen schöne Frauen in Minirock und
T-Shirt hatte er nichts, im Gegenteil! Gleichwohl stellte er sie sich im schwarzen Maßanzug
vor, mit der kühl erotischen Ausstrahlung eines Newton Models
. ,,Hättest du `was dagegen, `mal einen schwarzen
Anzug zu tragen?``
,,Um mit dir im Partnerlook zu gehen?`` entfuhr es Suzanne lachend.
,,Warum nicht?``
Gesagt, getan! Paul ging zum Telefon und ließ sich mit einem Modegeschäft verbinden.
,,Darf ich auch noch einen Friseur kommen lassen?`` warf er zwischenzeitlich ein.
,,Um die maskuline Seite meiner Weiblichkeit zu betonen?`` fragte Suzanne zurück.
Belustigt beobachtete sie ihn beim Telefonieren.
,,Schau dich `mal um.`` Unterdessen sprach er bereits mit dem Friseur. ,,Welches
Model gefällt dir denn am besten?``
Suzanne gewahrte erstaunt die Newton Photographien an den Wänden. Ihr Lebemann schien sich
die Suite wohl dauerhaft leisten zu können ... Die knabenhaften Damen erinnerten sie an
Bilder aus den 20ern ... Wollte er sie womöglich auch so stylen? Bisher hatte sie auf
Äußerlichkeiten wenig wert gelegt. Aber warum nicht `mal aus dem Rahmen fallen? Sie wollte
sich `eh neuen Ufern zuwenden ...
Friseur und Schneider kamen noch am selben Tag. Dauerten die Maßanfertigungen auch etwas
länger, der Damenausstatter hatte bereits einen passabel sitzenden Anzug für Suzanne dabei;
ebenso flache Schnürschuhe, kurze Strümpfe und sogar ein Hemd für die Dame nebst Weste;
natürlich alles in schwarz. Besonders zu schaffen machte Suzanne die Kollektion der
Unterwäsche; hatte sie sich doch daran gewöhnt, nichts dergleichen mehr zu tragen.
Überraschenderweise saßen die luftigen Teile aber so leicht, daß sie sie kaum spürte.
Paul genoß sichtlich die Anproben. Suzanne posierte verblüfft vor den Spiegeln im Bad.
Von ihrer Kleidung schien eine magische Wirkung auf sie auszugehen. Jungmädchenhaft prustete
sie loß und ging in heiteres Gekicher über.
,,Na, mein süßes Mädel``, neckte Paul sie und klopfte ihr den Po. ,,Jetzt noch etwas dunkle Schminke zur Betonung deiner Sternenaugen und Lippenstift, um deinen Mund weniger voll erscheinen zu lassen ... So ... Moment noch ... Perfekt!`` freute sich unser Lebemann. ,,In den 20ern hätten wir mit Djuna Barnes und Mina Loy zur Lesung bei Gertrude Stein aufwarten können:``
Curie
of the laboratory
of vocabulary
she crushed
the tonage
of consciousness
congealed to phrases
to extract
a radium of the word.
Obgleich die Liebenden noch im Attraktor der unio mystica gefangen waren, spiralte sich ihr um das Geschlecht zentrierter Aktionskreis gleichsam wieder auf. Heute würden sie ihr Abendessen im Restaurant des Hotels einnehmen, morgen im Central Park flanieren und sich mit Marianne im Rainbow Room zum Essen treffen und für übermorgen hatten sie sich zum Besuch des Royal Theatre verabredet. Das Bild vom Strudel war Suzanne wiederholt im Traum erschienen. Sie starrte fasziniert auf den Wirbel des ablaufenden Wassers, der sich um den Abfluß formierte, als die Erinnerung an die Nächte sie einholte. Paul stand noch dicht hinter ihr und schaute über ihre Schulter. Gemeinsam versanken sie im Strudel der Materieströme, dem ihre gesamte Heimatgalaxie unterworfen war. Alles strebte dem Schlund eines schwarzen Loches ohne Haare zu ...
Das Wasser war glucksend im Ausguß verschwunden und die beiden schauten wie ertappt in
den Spiegel. ,,Wie eine Frau wohl das no-hair-theorem genannt hätte``, fragte
sich Paul laut, ohne Suzanne aus dem Blick zu lassen. Die hielt ihm stand und zweifelte:
,,Eine Frau hätte die Singularität nach einem Gravitationskollaps schwerlich schwarzes
Loch genannt.`` Sie dachte eine Weile nach. ,,Also, ich hätte eher den Ausdruck
Ursprung oder Chaos gewählt ... In Anknüpfung an die Mythen.`` Paul folgte
mit seinen Lippen der Harmonie ihrer Nackenrundung, die der Kurzhaarschnitt freigegeben hatte.
Suzanne blieb nüchtern. ,,Und das no-hair-theorem, nach dem die Eigenschaften eines
schwarzen Loches allein durch Masse, Drehimpuls und Ladung bestimmt werden, hätte ich
reines oder einfaches Chaos genannt. Die Theorie nichtlinearer dynamischer Systeme
wäre dann auch nicht so mißverständlich Chaostheorie genannt worden.``
,,Schwarze Löcher haben keine Haare. Mir gefällt dieser leicht frivole Satz aus der mathematischen Physik. Er läßt den Mann im Forscher durchscheinen (Adams Hand fuhr sanft unter Evas Höschen). Es ist nun einmal eine natürliche Neigung der meisten Männer, dem Dreieck der Frau zuzustreben wie die Insekten dem Licht (Evas Slip glitt zu ihrer Hose auf den Boden). Zitzen und Venushügel bilden das Bermudadreieck, dem Männer so willig zum Opfer fallen (Er knüpfte ihr Hemd auf). Auch die Säugetiere haben ihren Namen von einem Mann (Behutsam löste er ihren BH). Neben der Nahrungsfunktion der Brüste, ist es ihre Formschönheit und Konsistenz, von der Männer angezogen werden`` (mit leichtem Druck wog und massierte er beidhändig ihren wohlgerundeten Busen).
Eva drehte sich herum und Adam trat zurück.
Er hatte Mühe, seine Erregeung in der Stimme zu verbergen. ,,Evolutionstheoretisch gibt
es einen Sinnzusammenhang zwischen den Löchern der Weibchen und der Universen (Eva streifte
Adam die Hosen ab). Durch sie reproduzieren sich die Lebewesen wie die Universen`` (Nackt
standen sie sich gegenüber). Blieb Evas Erregung nahezu verborgen; vor Adam wippte
unverhohlen seine glänzende Eichel. Im sexuellen Anziehungsfeld richteten sich die feinsten
Härchen aus und folgten die dünnsten Rinnsaale ihren Betten. Duftender Schweiß sättigte
die Luft, Flüssigkeiten sammelten sich in Schleimhäuten und Schwellkörpern. Die Anspannung
drohte im Lichtbogen der Wollust überzuschlagen. Adam drückte sich an die Wand, wie um sich
festhalten zu wollen. Ganz langsam ruschte er herunter. Nur keine falsche Bewegung. Eva setzte
sich auf ihn. Und schon ergoß sich sein warmer Strom in den Strudel ihres schwarzen Loches ...
Unsere beiden Lebemenschen setzten ihre Sinnenfreuden im Restaurant fort. Eine wohlschmeckende
Spargelcremesuppe löffelnd, reflektierten sie die Evolution. ,,Wie weit reichen eigentlich
im Detail die Gemeinsamkeiten zwischen kosmischer, biotischer und symbolischer Evolution?``
hob Paul an. ,,Ich bin nur noch Hobby-Physiker und versuche, mich in einigen Gebieten der
Grundlagenforschung auf dem laufenden zu halten. Danach sehe ich als übergreifende Klammer
in der Dynamik der Ene, Gene und Meme lediglich die entsprechenden
Replikatorgleichungen
. Den Fluktuationen im Kleinen
folgen die Selektionen im Großen. In schwarzen Löchern könnten die Energiequantisierungen
variiert werden. D.h. nach dem Kollaps eines Universums würde es ein klein wenig verändert
zurückprallen und wiederentstehen können, falls es sich als hinreichend stabil erweisen
sollte.``
Die Kellner räumten ab und servierten halbrohe Filetsteaks mit vielerlei Beilagen. Dazu
hatten unsere Avantgardisten kalifornischen Rotwein bestellt, natürlich einen 96er Opus One.
Sie schwenkten ihre bauchigen Gläser, atmeten den fülligen Duft und stießen hell klingend
an. ,,Auf die Auslese.`` Genießend schluckten sie den Wein und schnitten ins
blutige Fleisch. ,,Kopulierende Paare kann man in den Tomographen schieben und detailliert
den Weg des Spermas aus den Hoden bis in den Uterus verfolgen, wo er vielleicht auf ein Ei
trifft. Kosmische Löcher lassen sich jenseits ihres Ereignishorizonts prinzipiell nicht
beobachten. Was in ihnen vorgeht, können wir nur erahnen oder berechnen. Würden wir uns
ihnen nähern wollen, kämen wir nie an, da sie unser Zeitmaß endlos dehnten. Aber vielleicht
ist Smolin
unterdessen mit seiner Theorie der kosmischen Auslese weiter voran gekommen. Ich werde ihn
nächste Woche in Berkeley treffen.`` Suzanne mußte lächeln als ihr einfiel, noch
den Physiker Dürr sprechen zu wollen. Die drei Tage der Zukunftstagung waren längst
vergangen, Tage der Gemeinsamkeit wie Stunden verflogen. Auch das unterschied
kosmische von weiblichen Löchern, dachte sie schmunzelnd und erinnerte den Mythos von
der Erdmutter. Ließ er sich vielleicht kosmologisch reinterpretieren? Ihr kam der Schluß
des Films American Beauty in den Sinn. Von der Sekunde des Sterbens heißt es dort:
That one second isn't a second at all, it stretches on forever, like an ocean of time.
Dem Gehirn war sicher eine Dehnung unseres Zeiterlebens möglich. Schließlich regulierte
das Denkorgan auch all unser Regen und Erleben. Aber wie sollte uns ein Ozean der Zeit
bewußt bleiben, wenn der Urheber des Bewußtseins starb?
Paul las belustigt die Gedanken auf dem Antlitz seines süßen Mädels. ,,Auf das
kosmische Bewußtsein.`` Lächelnd stießen sie an.
,,Wir verstehen noch nicht einaml das cerebrale Bewußtsein. Was sollte da mit dem
kosmischen Bewußtsein gemeint sein?`` zweifelte Suzanne.
,,Gleichwohl muß das Universum bereits beim letzten Urknall mit uns schwanger gegangen
sein. D.h. der Möglichkeit nach waren Leben und Bewußtsein schon in der kosmologischen
Auslese angelegt``, gab Paul zu bedenken.
,,Wenn man die astronomische Zahl von Kombinationsmöglichkeiten der etwa 10120
Quantenbits unseres Universums erwägt, hat sich auch mit dem menschlichen Leben und
Bewußtsein erst ein verschwindent kleiner Teil der angelegten Energiegestalten
realisiert``, setzte Suzanne ihren Gedanken fort. ,,Im mathematischen Sinne
dürften wir kaum mehr als eine Epsilon-Umgebung oder `gar eine Randerscheinung vom
Maß Null sein.``
Paul schenkte Wein nach und erhob erneut das Glas: ,,Auf die Bescheidenheit des
Mathematikers``, merkte er ironisch an.
,,Wir denken uns die Welt in einer gerichteten Zeitfolge sich entwickeln. Gleich der
Verzweigung eines Baumes aus dem Stamm. Genau genommen kennen wir aber nur schlaglichtartige
Ausschnitte, gleichsam Erlebnisschichten. Den Zusammenhang unseres Erlebens stiften die
Hirnvorgänge. Die Seinsschichten der objektiven Welt dagegen könnten sich jeweils neu
strukturieren. Und nur die Ähnlichkeit einiger ihrer Aspekte ließe uns auf eine
zusammenhängende Abfolge schließen. Die Kontinuumsannahme ist nur eine
Näherung ... ``
,,Meinst du, die Vergangenheit sei ähnlich offen wie die Zukunft?`` wunderte sich
Paul.
,,... die physikalischen Fundamentalgesetze sind nahezu zeitsymmetrisch. Der deutliche Bruch
der Zeitsymmetrie erfolgt auf höherer Ebene durch Selbstorganisation. Im Ozean der Zeit gäbe
es nur Gegenwart, ganz so wie für Lichtwesen, die sich mit Lichtgeschwindigkeit
bewegen.``
,,Das Universum ein Interferenzmuster aus Enen, Lebewesen die Kombination von Genen
und unser Bewußtsein die Überlagerung von Memen? Das alles sind doch bloß Metaphern
und Analogien. Wirkliche Interferenzen erwachsen nur dem Zusammenwirken der
Energiequanten.``
Suzanne nahm Paul in den Blick. Es war ein Blick, der gefangen hielt. Er fühlte sich wie das Kaninchen vor der Schlange. Allerdings mit dem Unterschied, daß er um seine Situation wissen konnte. Da er sich dem Blick überließ, hielt er ihn gleichsam in der Schwebe. Wie beim watch-dog-Effekt verharrte er im reglosen Übergangszustand. Auch bei Quantensystemen kommt es vor, daß sie unter Dauerbeobachtung ihren Zustand nicht zu ändern vermögen. Wie in Trance folgte Adam seiner Eva zurück in die Suite. Sie sprachen kein Wort miteinander; denn Worte tun dem geheimen Sinn nicht gut. Es wird immer gleich ein wenig närrisch, wenn man es ausspricht. Der Neoromantiker Hesse wußte um die neuralen Interferenzen, die vergingen, wenn man ihnen nachspürte. Die filigrane Überlagerung unserer Empfindungen und Gedanken zerfiele durch Worte in einen Trümmerhaufen, aus dem die banale Alltagslogik schwerlich wieder die Kathedrale zu rekonstruieren vermöchte. Allenfalls die Mathematik wäre reichhaltig genug, das Bauwerk aus den Trümmern wieder erstehen zu lassen.
Unser Paar verpuppte sich noch einmal in den Kokon der Liebe. Der Zauber sprachlosen Einverständnisses währte bis zum nächsen Morgen. Wer einen Traum erzählt, muß aus ihm erwacht sein. Es sei denn, der Traum erzählt einen Traum erzählt einen Traum ... Unsere beiden Lebemenschen saßen schweigend beim Frühstück und hingen ihren Gedanken nach. Suzanne kam die berühmte Zitterbewegung in den Sinn, die den Quantenschaum fluktuieren ließ, zum radioaktiven Zerfall führte, biotische Mutationen bewirkte, sich im Erkundungsverhalten der Jungen äußerte und immer wieder die Einsiedelei durch Fernweh sprengte.
Bohr hatte die Komplementarität zwischen Bewußtseinsstrom und Reflexion für
die Grundlagenforschung fruchtbar gemacht. Denn mit jeder Messung ist eine Zustandsreduktion
verbunden, die aus den Myriarden von Möglichkeiten einige wenige realisiert. Ganz ähnlich
verhält es sich mit den Worten, mit denen aus der Vielfalt unserer Hirnzustände einige wenige
auf Symbolde reduziert werden. Daran ändert auch die Poesie nichts; allenfalls die Musik vermag
unsere verborgenen Stimmungen flüchtig anzuregen.
Paul schwelgte unterdessen in seinem Glück, so eine Frau getroffen zu haben. Noch nie hatte er ein derart weitgehendes Einverständis mit einem Menschen erzielt. Eine Frau, mit der man sich schweigend verbunden fühlen konnte, hatte er kaum mehr für möglich gehalten. Seine bisherigen Liebschaften waren auf das alte Rein-Raus-Spiel beschränkt geblieben oder hatten sich ständig bemüht in Konversation ergehen müssen. Ihm kamen die Zeilen eines Dylan-Songs in den Sinn:
Liebe, die eines Anlasses bedarf, ist keine. Sie ereignet sich gleichsam aus sich selbst
heraus. So wie der Attraktor für die Trajektorien aus der Eigendynamik des Systems erwächst.
In einem Anflug von Romantik kam er zu der Einsicht, daß Liebe nur durch Selbstorganisation
entsteht und vergeht.
Der Verpuppung und der Metamorphose durch die Liebe folgte die Entpuppung.
Am Nachmittag flanierten unsere beiden Models in black durch den Central Park. Sie hatten
ihr Outfit noch um schwarze Sonnenbrillen und breitkrempige Hüte erweitert. Auf schattigen
Wegen erfreuten sie sich am Lichtspiel der Blätter. Am Rand des Sees
trafen sie unverhofft auf Marianne. Die saß gedankenversunken mit einem
Reclam-Büchlein auf einer schattigen Bank. Als Paul und Suzanne sich schweigend und
rücksichtsvoll zu ihr setzten, merkte sie nicht sogleich auf. Sie hatte nur flüchtig zu den beiden
dunklen Gestalten geschaut, sich aber nicht von ihrer Lektüre ablenken lassen. Suzanne hatte
beim stillen Betrachten ihrer Tochter sichtlich Mühe, ernst zu bleiben. Die Haare hatte sie
zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie trug ein Minikleid, das wie ein Bikini wirkte.
Zwischen dichtem, silbergrauen Stoff, der Busen und Becken bedeckte, war luftig durchsichtiger
Tüll verwoben, der Schulterpartie und Bauch umhüllte. Über ihr ungeschminkt schönes
Antlitz huschten Schauer der Verwunderung.
,,Was liest du denn da``, fragte ihre Mutter schließlich betont beiläufig.
Langsam wandte Marianne ihren Blick vom Buch und verwandelte sich in einen Ausdruck des
Erstaunens. Suzanne nahm Brille und Hut ab. Das Erstaunen ging in Heiterkeit über.
,,Du hast dich vielleicht verändert! Die Überraschung ist dir gelungen.
Sagenhaft!`` dehnte sie lachend ihr letztes Wort und schüttelte den Kopf. Die
Tochter konnte die Verwandlung ihrer Mutter kaum glauben. Von ihrer inneren Metamorphose
ahnte sie noch nichts.
,,Das ist Paul``, stellte Suzanne ihren Begleiter vor. ,,Mit ihm habe ich
die Tage im Hotel verbracht.``
Die Schönheit und Jugend Mariannes blieb auf Paul natürlich nicht ohne Wirkung. Ihre
heitere Begrüßung traf ihn direkt ins Zwischenhirn. Einen Moment lang starrte er sie zu
lange und zu eindringlich an. Am liebsten wäre er lobpreisend vor ihr auf die Knie gefallen
und hätte seinen Kopf in ihren Schoß vergraben. In sensiblen Männern löst die Schönheit
von Frauen eine Erschütterung aus wie beim ästhetischen Genuß oder einer wissenschaftlichen
Offenbarung. Genau genommen wirken hierbei Sinnenfreude und Einsicht in das Wirken der
Natur auf das Innigste zusammen. Ob auch sie den Zauber stillen Genusses zu wahren wußte?
Unterdessen hielt Marianne ihr Buch in die Höhe: C.F.v. Weizsäcker, Ein Blick auf
Platon. ,,Ich habe gerade etwas über Parmenides und die Quantentheorie gelesen. Darin
geht es um den Zusammenhang von Bohrs Komplementarität und Platons Dialektik. Im Kapitel
Was heißt Einheit der Natur? bin ich allerdings steckengeblieben. Dort steht:
Nach der Quantentheorie hat jedes Objekt, in mathematischer Allgemeinheit gesprochen,
dieselbe Mannigfaltigkeit möglicher Zustände; sie lassen sich charakterisieren
als die eindimensionalen Teilräume eines Hilbertraumes.``
,,Für den Anfang kannst du dir den Hilbertraum als normalen Vektorraum denken, der
sich allerdings nicht auf reelle Zahlen, sondern auf komplexwertige Funktionen bezieht``,
erläuterte Suzanne.
,,Weil es in der Quantentheorie um die Entwicklung von Wahrscheinlichkeitsverteilungen
geht?`` fragte Marianne.
,,Ganz recht. Die Quantentheorie beschreibt Möglichkeitsräume, deren logische Struktur
nicht kommutativ ist. So wie Einstein die Raumzeit-Geometrie dynamisierte, hat Bohr die
logische Struktur dynamisiert.``
,,Ein interessanter Vergleich. In der Allgemeinen Relativitätstheorie (ART)
dynamisiert die Gravitation die Geometrie der Raumzeit. Aber was dynamisiert in der
Quantentheorie die Algebra der Logik``, wollte Marianne wissen.
Paul verfolgte fasziniert den Scharfsinn der beiden Schönen. Der vereinheitlichende
Gesichtspunkt für Gravitations- und Quantentheorie gab auch ihm zu denken.
Suzanne begann mit ihrer Erklärung und holte wohl etwas zu weit aus: ,,Im Rahmen
der mathematischen Theorie der Faserbündel lassen sich die Feldtheorien der Gravitation
(ART) und der Materie, d.h. die Quantenfeldtheorien (QFT), in vergleichender Weise
betrachten. Ich kann die Verhältnisse allerdings nur andeuten. Physikalisch motiviert
wird die vereinheitlichte Interpretation
von ART und QFT durch das
Eich- und das Äquivalenzprinzip. Beginnen wir mit der Materiefeld-Theorie freier
Elektronen. Eine globale Phasentransformation der Materiewelle wird
Eichtransformation genannt und ist gleichbedeutend mit dem Prinzip der Ladungserhaltung.
Diesen Zusammenhang hat übrigens die Mathematikerin Emmy Noether
bewiesen.
Wird nun zusätzlich nicht nur die Invarianz der Theorie unter globalen, sondern auch
unter lokalen, d.h. raumzeit-abhängigen, Eichtransformationen gerfordert, ergibt sich
rein mathematisch die Existenz eines sogenannten Eichpotentials. D.h. aus der freien Theorie
ist eine Wechselwirkungstheorie geworden! Im Falle der elektromagnetischen Wechselwirkung
legt das Eichpotential zudem die Form der Feldgleichungen fest!``
,,Spektakulär!`` entfuhr es Marianne staunend. ,,Da werde ich mir noch einiges
an Mathematik erarbeiten müssen.``
Suzanne und Paul konnten die Faszination Mariannes nachfühlen. Um wieviel größer die
Freude wurde, wenn man die Zusammenhänge im Detail nachrechnen konnte, blieb ihr allerdings
noch verborgen. Suzanne und Paul tauschten ein Augurenlächeln und ließen sich vom
Glücksgefühl aus der Erinnerung an ihre Studienzeit überwältigen. Und um wieviel größer
mußte erst die Glückseligkeit Einsteins gewesen sein als er erstmals mit der ART eine
Faserbündel-Theorie der Gravitation formuliert hatte?
Nachdem der nur leicht erhöhte Endorphinspiegel die unio mystica der Freude hatte
aufscheinen lassen, nahm Suzanne den sachlichen Faden wieder auf. ,,Wir gehen aus
von einem Materiefeld, das lokal eichinvariant sein soll. Aus diesem Eichpostulat folgt
dann die Existenz eines Eichpotentials, das gleichbedeutend ist mit einem Wechselwirkungsterm.
Die Änderung des Potentials, geometrisch gedeutet seine Krümmung, legt andererseits auch
die Struktur des Eichfeldes fest. Damit Materieladungen und Feldladungen einen identischen
Wechselwirkungsstrom zur Folge haben, ist eine Äquivalenz zwischen beiden zu fordern.
Die vereinigte QFT aus Quantenmechanik und Elektrodynamik, auch Quantenelektrodynamik
oder kurz QED genannt, umfaßt also drei Terme, den Term des Materiefeldes, des
Wechselwirkungsstroms und des Eichfeldes. Leitprinzipien der Vereinigung sind das
Eich- und das Äquivalenzpostulat.``
,,Ganz verstanden habe ich es noch nicht``, warf Marianne ein. ,,Das
Äquivalenzprinzip scheint mir offensichtlich und dürfte in der ART der Äquivalenz von
träger und schwerer Masse entsprechen. Aber die Invarianz der QED gegenüber
raumzeit-abhängigen Phasentransformationen, das Eichprinzip, wie läßt sich das
verstehen oder veranschaulichen?``
Diesmal antwortete Paul, obwohl er Mühe hatte, dem direkten Blick Mariannes standzuhalten.
,,Die Phasentransformation kannst du dir als Verzerrung der Materiewelle vorstellen.
Und da die Materiewelle den wahrscheinlichen Raumzeit-Bereich eines Elektrons beschreibt, entspricht
dem Eichprinzip die Forderung, der Verzerrung entgegenzuwirken. Das ist natürlich nur möglich
aufgrund der passenden Gegenwirkung des Eichfeldes ... ``
,,D.h. Transformationsverzerrung und Feldwirkung heben sich jeweils gerade auf?``
,,Du hast es erfaßt.`` Paul lächelte Marianne nunmehr ohne Mühe einfach an.
Ihre Freude am Verstehen verwandelte sich in Sympathie für ihn. Ihrer Hellsicht entging
dabei nicht die intellektuelle Erotik der Situation. Am Abend sollte
sie den beiden ins Hotel folgen. Schmunzelnd wandte sie sich ihrer Mutter zu: ,,Was
entspricht denn nun der Dynamisierung der Geometrie durch Gravitation in der Dynamisierung
der Logik der Gravitation?``
,,In der QED können aus dem Materiefeld mittels Eich- und Äquivalenzprinzip
Wechselwirkungsstrom und Eichfeld der elektromagnetischen Wechselwirkung gefolgert
werden. Da die Maxwell-Gleichung des elektromagnetischen Feldes schon lange vor der
Quantentheorie bekannt war, konnten die beiden Prinzipien bereits rein theoretisch
überprüft werden. Bei den Theorien der schwachen- und starken Wechselwirkung zur
Beschreibung der Radioaktivität und der Kernkräfte war das anders. Dort lieferten
die beiden Postulate erst die Herleitung der Feldgleichungen. Ebenso verhielt es sich
mit der Gravitationstheorie im Rahmen der ART. Der Eichinvarianz entspricht dort die
Invarianz bzgl. beliebiger kontinuierlicher Koordinatentransformationen, allgemeiner
auch Diffeomorphismen genannt, und das Äquivalenzprinzip hattest du bereits erwähnt.
Der Maxwell-Gleichung des elektromagnetischen Feldes entspricht die Einstein-Gleichung
des Gravitationsfeldes. Im Gegensatz zur Elektrodynamik sind aber nicht elektrische
Ladungen die Quellen des Feldes, sondern die Energie selbst ist die Quelle des Gravitationsfeldes.
D.h. die Gravitation ist universell, ihr sind alle Materieformen unterworfen. Das sieht man
z.B. an der Krümmung von Lichtstrahlen in der Nähe großer Massen wie der Sonne. Den
Wechselwirkungsströmen entsprechen also Energieströme. Aber was entspricht dem
Materiefeld und dem Eichpotential in der ART? Das war meine Frage. Nun, das Eichpotential
folgt aus der Änderung der Metrik, das ist die Maßbestimmung der Raumzeit. Und aus der
Änderung des Eich- bzw. des Gravitationspotentials wiederum folgt der Krümmungstensor,
der das Gravitationsfeld bestimmt. D.h. in der QED folgt das Eichpotential aus der
Änderung der Wahrscheinlichkeitsverteilung der Ladung. In der ART dagegen legt die
Maßbestimmung der Raumzeit, die Metrik, das Eichpotential fest. Der Unabhängigkeit der
QED von der Verzerrung der Materiewelle entspricht die Unabhängigkeit der ART von der
Verzerrung der Metrik.``
,,Jetzt ist mir einiges klarer geworden``, freute sich Marianne. Sie dachte eine
Weile angestrengt nach. ,,Aber wenn Energieströme Raumzeit-Krümmungen kompensieren
können, dürfte es keinen Unterschied machen, ob die ART in flachen oder gekrümmten
Raumzeiten formuliert wird.``
Suzanne und Paul schauten sich verblüfft an. Darauf waren sie erst sehr viel später
gekommen. Begeistert erhob Paul das Wort: ,,Da hast du völlig recht. In der Tradition
von Riemann
und
Einstein
lag eine
Geometrisierung der Physik nahe. Aber Feynman
und Weinberg
sind andere Wege gegangen. In seinen Lectures on Gravitation
reformulierte Feynman 1962 die ART als eine Eichtheorie des Gravitons; ganz analog zur
QED als einer Eichtheorie des Photons. Und Weinberg konnte 1972 zeigen, daß die
Lorentz-Invarianz der Feldtheorie des Gravitons nur mit einer universellen Feldstärke
vereinbar war. Im Falle der Gravitationstheorie konnte das Äquivalenzprinzip also bereits
aus der SRT gefolgert werden.``
Marianne erlag der Faszination prinzipiengeleiteten Denkens; jedenfalls wenn es
mathematisch präzisierbar und experimentell überprüfbar war wie in der Physik.
Gleichwohl hatte sie den Eindruck, daß ihre Ausgangsfrage nach der Dynamisierung
der Logik noch nicht ganz beantwortet war. ,,Laßt mich noch `mal auf meine
Ausgangsfrage zurückkommen. Die Materiewellen beschreiben Wahrscheinlichkeitsverteilungen
für die Wechselwirkungen zwischen Teilchen. Was hat das mit der Algebra der Logik zu
tun?``
,,Den Faden haben wir in der Tat verloren``, räumte Suzanne ein. Im stillen
bewunderte sie ihre Tochter für ihr Beharren auf Folgerichtigkeit. ,,Wenn wir in
naiver Weise unsere Alltagslogik der Boole'schen Algebra z.B. auf Interferenzerscheinungen
einzelner Photonen anzuwenden versuchen, erleiden wir Schiffbruch. Die
Häufigkeitsverteilungen beim Durchgang der Photonen durch den Doppelspalt genügen
nicht mehr der Boole'schen, sondern der Quantenalgebra. D.h. unsere Logik wird abhängig
von den Naturerscheinungen, wir können sie nicht einfach der Alltagssprache entnehmen.
Genauso verhält es sich nach Einstein mit der euklidischen Geometrie des Alltags. Durch
Gravitation wird sie zur Riemann'schen Geometrie dynamisiert ... ``
,,Und die Boole'sche Algebra wird durch die Quantenwechselwirkungen zur Quantenalgebra
dynamisiert? Wolltest du das damit sagen?`` drängte Marianne weiter nach Klarheit.
,,Warum hast du das nicht gleich gesagt?``
Die drei schauten sich verwirrt an und prusteten los. Nachdem die Wellen der Heiterkeit
verebbt waren, schwante unserer jungen Schönen allerdings, daß sie die letzte Ausführung
ihrer Mutter als Anfang überhaupt nicht verstanden hätte ...
Am Abend genoß unser Dreiergespann das feine Essen und den faszinierenden Blick auf das
Lichtermeer Manhattens. Klingend stießen sie die bauchigen Gläser aneinander, an denen
sich das Kerzenlicht brach und im Rotwein funkelte. ,,In vino veritas``, gab Marianne
den alten Trinkspruch zum besten. Die berauschende Wirkung des Weines lockerte die Zunge und
durchbrach die Verstellungen der Höflichkeitsfassaden. Das Äthanol wirkte direkt auf die
Neurotransmitter und änderte damit das Zusammenspiel der Nervenzellen im Großhirn. In
ähnlicher Weise beförderten Morphine das Glücksgefühl ...
Paul und Suzanne hatten ihren Wein genossen und erstaunt verfolgt, wie Marianne verklärt in ihr
Glas starrte. Wie in Zeitlupe setzte sie es an die Lippen und füllte sich den Mund. Sie wollte
wohl ihrer Zunge ein Weinbad gönnen. Erst nach dem dritten Mal merkte sie die Beobachtung.
Die drei lächelten sich fröhlich an. ,,Ich habe gerade an die Wirkung der Materie auf
den Geist gedacht``, hob Marianne zusammenfassend an. Der Kellner schenkte ihr unterdessen
diskret nach. ,,Wie wohl die Leute erstmals darauf gekommen waren, den Geist losgelöst
vom Körper anzunehmen?`` gab sie zu bedenken.
,,Dem Geist der Schamanen, Priester und Philosophen ging der Schreck voraus, der den Frühmenschen
in die Glieder fuhr, wenn sie ein bedrohliches Rascheln im Unterholz hörten. Die Furcht vor bösen
Geistern lebt noch im Volksglauben und in Märchen fort. Ähnlich verhält es sich mit der Seele.
Dem religiösen Geschwafel darum ging schlicht die Feuchte im Atem voraus. Mit dem ersten Atemzug
beginnt und mit dem letzten endet das menschliche Leben. Im Volksglauben wurde daraus der See, aus
dem die Störche die Kinder fischten. Dabei setzt die Atmung bloß den Stoffwechsel mit der Lufthülle
in Gang.`` Paul machte eine Pause und nahm vom Wein. Er hatte sich den Damen
gegenüber gesetzt und blickte sie abwechselnd an. Marianne schaute fragend zurück und hatte vom
schnellen Trinken rötliche Wangen bekommen. Suzannes Blick schien entrückt durch ihn hindurch
zu gehen und sich in der Weite des Universums zu verlieren. ,,Ich denke, diejenigen, die
körperlich im Überlebenskampf unserer Vorfahren benachteiligt oder intellektuell im Vorteil
waren, ersannen Geschichten oder übten sich in Wahrsagerei, um ihre Artgenossen zu beeindrucken
und sich als Schamane, Priester oder Führer zu empfehlen.``
,,Du meinst, Schamanismus, Geisterwahn und Seelenglaube entsprangen der Machtpolitik, die bis in
den Gottesstaat des Mittelalters führte?`` fragte Marianne interessiert.
,,Dem Handwerk entsprang die Technik zur Verbesserung des Umgangs mit den Naturschätzen.
Und aus dem Gerede miteinander ging die Politik zur Verbesserung des gesellschaftlichen
Zusammenlebens hervor``, schaltete Suzanne sich ein. ,,Die Verbesserung der Lebensverhältnisse
ist das durchgängige Thema der westlichen Zivilisation. Leider lösten sich die Zielvorstellungen
nur allzu häufig ab von den Realisierungsmöglichkeiten. Immer wieder wurden die gutgläubigen
Massen durch Heilsversprechen ins Verderben gestürzt.``
Die drei hatten eine gemeinsame Gemüseplatte bestellt, die in die Mitte des Tisches gestellt
wurde. Sie begannen, die schonend gedünsteten Gemüsesorten auf ihre Teller zu legen. Marianne
ließ es sich nicht nehmen, einzeln die köstlichen Soßen zu probieren. Genüßlich leckte sie
ihre Lippen. In Paul schienen Szenen aus dem großen Fressen auf. Frauenleiber, die sich im
Teig wälzten oder von denen man Früchte naschen konnte. Verblüfft registrierte er, wie ein
zarter Fuß geschickt seinen strammen Dodo zu massieren begann. Nur nichts anmerken lassen.
Das war auch ein Grund zur Flucht in den Intellekt: ,,Glücklickerweise``, begann er
bemüht neutral, ,,traten schon früh die Mahner und Kritiker einer Vergeistigung auf den
Plan. Nehmen wir z.B. die Geschichte vom Propheten Jonas, der einer Stadt, die in Sittenlosigkeit
lebte, Unheil zu prophezeien hatte, falls sie nicht auf den Pfad der Tugend zurückfände``
(er strammte seine Oberschenkel und klemmte Mariannes Fuß ein). Sie ließ es sich weiter
schmecken und schaute ihn erwartungsvoll an. ,,Um seiner undankbaren Aufgabe zu entgehen,
versuchte er die Flucht auf einem Schiff in die Ferne. Als das Gefährt allerdings in ein Unwetter
geriet, machte die Besatzung Jonas dafür verantwortlich und warf ihn einfach über Bord.``
(ihre Zehen hatten genug Spielraum zum Reizen seiner Eichel). ,,Wie nun das Schicksal so
spielte``, fuhr Paul leicht gepresst fort, ,,wurde Jonas von einem großen Fisch aufgeschnappt,
der ihn am Strand der besagten Stadt wieder ausspie. Als er nun seiner schweren Aufgabe nachgegangen
war, erwartete er in sicherer Entfernung das Unheil. Verblüfft mußte er dann aber feststellen, daß
die Bewohner der Stadt ihr Verhalten änderten und die angekündigte Strafe ausblieb.``
,,Und den Prophet widerlegte``, äußerte Marianne diebisch lächelnd und stellte abrupt
ihr Kitzeln ein. Paul zog ein Stechen in die Hoden und er verkrampfte eine Hand in die Serviette.
,,Voraussagen hängen von den Bedingungen ab, für die sie gelten. Das gilt auch für die
physikalischen Verlaufsgesetze, die nur dann Prognosen gestatten, wenn die Anfangs- und Randbedingungen
hinreichend genau realisierbar sind``, spannte Suzanne den Bogen von der Prophetie zur
Wissenschaft.
,,Das Problem des Propheten ist aber darüber hinaus, daß er seine Voraussage gefährdet,
wenn er sie mitteilt. Schlimmstenfalls werden Prognosen gerade dann ungültig, wenn man sie
überprüft. Denkt nur an die Unmöglichkeit, die Wege von Photonen im Interferenzmuster verfolgen
zu wollen. D.h. man kann eine Wahrnehmung haben, ohne ihre Interpretation zu kennen``, schloß
Paul sichtlich entspannt und atmete hörbar aus.
Die Damen sahen sich fragend an. ,,Was soll das denn heißen``, wollte Marianne kichernd
wissen. Die Antwort gab Suzanne: ,,Vielleicht meint Paul, daß wir etwas ahnen können, ohne es
zu verstehen ... ``
,,Oder daß wir Wirkungszusammenhänge erspüren, ohne sie ausdrücken zu können. Denn
Worte vergröbern ja sehr viel mehr als unsere Sinne. Erst die hochtechnisierte Messung von
Quantenkorrelationen erschließt uns ein über die Intuition hinausgehendes Wissen vom
Zusammenwirken im Ganzen``, ließ Paul sich vernehmen.
,,Nur in der Mathematik bleibt das Ganze aufgehoben``, meldete Marianne sich betont ernst
zu Wort und bedachte: ,,Aber sind wir mit der Mathematik nicht genau so weit weg von der Materie
wie der Geist der Philosophen?``
,,Die Fruchtbarkeit der Mathematik liegt in ihrer Quantifizierung. Im Gegensatz zur Alltagssprache
ist sie damit an die feinsten Strukturen anpaßbar bzw. vermag sie überhaupt erst auszudrücken,
und zwar mit unglaublicher Präzision``, entgegnete Suzanne.
Und Paul ergänzte: ,,Die theoretische Physik behandelt den Teilbereich mathematischer Strukturen,
die möglich sind. Die Experimentalphysik stellt fest, welche der Möglichkeiten realisiert werden
können. Und in der angewandten Physik wird untersucht, welche der Realien nützlich sein
könnten.``
,,Soll das heißen, die Differentialgeometrie stellt den Möglichkeitsraum der
Energie-Wechselwirkungen dar so wie der Hilbertraum den Möglichkeitsraum der
Quanten-Wechselwirkungen beschreibt?`` fragte Marianne aufsässig weiter.
,,Wenn wir die Energie-Wechselwirkungen im Großen betrachten, ja. Im Kleinen dagegen ... ``
,,Aber das Gravitationsfeld läßt sich doch aus der Raumkrümmung bestimmen. Und die
Energiequanten des Feldes sind die Gravitonen. Muß die Raumzeit dann nicht selbst energetisch
sein? Denn wie sonst sollten Energie und Raumzeit aufeinander einwirken können?``
Welch ein Esprit! Paul schaute Marianne fasziniert an. Er drohte, in ihr aufzugehen ...
Da er es nicht mehr aushielt, strebte er dem Klo zu. Suzanne verfolgte amüsiert die Wirkung
ihrer beschwippsten Tochter auf ihren Lover. Lächelnd hob sie zu einer Erläuterung an:
,,Du kannst dir die Raumzeit als aufgespannt durch Gravitonen denken, ähnlich wie Photonen
das elektromagnetische Feld bilden. Gravitationsfeld und Raumzeit wären dann in gleicher Weise
energiebasiert. Eine Quantisierung der Raumzeit selbst hat bisher allerdings zu keiner konsistenten
Theorie geführt.`` Sie mußte an die mit viel Kaffee durchwachten Nächte denken, in denen
sie über den Gleichungen gebrütet hatte. An einer Quantentheorie der Gravitation waren schon
viele gescheitert. Neuerdings verstiegen sich einige Forscher sogar dazu, die Gravitation nur noch
als eine Art Restkraft zu betrachten. So wie sich die innermolekularen Kräfte der elektromagnetischen
Wechselwirkung zwischen den Atomen nach außen als resultierende Van der Waals - Kraft annähern
ließen, sollte die Trägheit z.B. im Rahmen der stochastischen Elektrodynamik auf Ladungsfluktuationen
zurückführbar sein. Die Quantenfluktuationen des Vakuums bildeten letztlich die Ursache für die
Dynamik im Universum. Neuere Untersuchungen deuteten nämlich darauf hin, daß rund zwei Drittel des
Einflusses auf die Galaxienbewegungen aus der kosmologischen Konstanten herrührte. Die Wirkung der
Gravitation beschränkte sich danach auf nur ein Drittel und entsprang zum Großteil der schwarzen
Materie.``
,,Vielleicht bedarf es eines neuen Prinzips, eines erweiterten Rahmens, in dem QFT und ART zu
sehen sind``, hörte Suzanne wie von Ferne ihre Tochter anmerken.
Zur Nacht begaben sich die drei in Pauls Suite, um sich die beiden Jonas-Filme Alain Tanner's anzusehen. Sie machten es sich im Salon vor der Projektionsleinwand auf der ausziehbaren Couch bequem. Jonas, der im Jahr 2000 25 Jahre alt sein wird. Film ab: Ein arbeitsloser Industriearbeiter aus der Stadt sucht das einfache Leben auf dem Land. Sein Sohn Jonas kommt 1975 auf einem Bauernhof zur Welt; als Prophet eines alternativen Lebens. Ein desillusionierter Gewerkschafter trifft eine Spiritistin, die als Sekretärin bei einem Baulöwen arbeitet. Ein optimistischer Geschichtslehrer verliebt sich in eine Kassiererin, die Bedürftigen verminderte Preise berechnet. Alle treffen sich bei der Bauernfamilie und vereinen sich im Widerstand gegen den Bodenspekulanten, der ihnen den Hof abschnacken will. Die Spiritistin will den Gewerkschafter zum Tantra verführen. Der treibt es aber lieber in schlicht natürlicher Weise. Der Geschichtslehrer philosophiert anschaulich über die Schichten, Reihen, Löcher und Pfeile der Zeit, indem er Würste und Kohlköpfe zur Hand nimmt. Seine unorthodoxen pädagogischen Ansätze begeistern zwar die Schüler, bringen aber die Schulverwaltung gegen ihn auf. Ebenso ruft das unorthodoxe Kassieren die Geschäftsführung auf den Plan, so daß die Kassiererin in den Knast wandert. Während der Lehrer in die Altenbetreuung wechselt, lernt die Kassiererin im Bau eine Mitgefangene lieben. Ihre Entlassung feiern die beiden mit dem Pädagogen, dem sie damit einen sehnlichen Wunsch erfüllen: eine Nacht mit zwei Frauen zu verbringen ...
Als Jonas 25 ist, sehen wir ihn als Filmemacher mit einer russischen Schauspielerin. Befreundet ist
er mit einer Schwarzafrikanerin. Sein Mentor schenkt ihm seine digitale Handkamera, da sie für ihn
selbst zu gefährlich ist. Der Umgang mit der Kamera verführt die drei dazu, sich gegenseitig beim
Liebesspiel zu filmen ...
Am Morgen danach wachte Paul in den Armen seiner beiden Schönen auf. Er fühlte sich seiend wie
selten. Seine Hintergrundemotionen wurden durch einen ausgeglichenen Endorphinspiegel gestimmt.
Mit basaler Aufmerksamkeit gewahrte er das Wohlgefühl der warmen, angeschmiegten Leiber. Nach
einer Weile in den Federn dieser schwebenden Geborgenheit, fokussierte ihn seine Aufmerksamkeit
jedoch auf ein Druckgefühl im Unterkörper. Es äußerte sich in der spezifischen Emotion des
Harndrangs. Mit wippender Morgenlatte klaubte er sich zaghaft aus den Umklammerungen der Damen
und führte die spezifische Handlung des Klogangs aus. Im Bad setzte er sich und ließ es erleichtert
aus sich herausströmen. Ich fühle, also bin ich. Suzanne hatte das Buch wohl als Klolektüre
genutzt. Jeder Gedanke wird gefühlsmoduliert. Das spürt man beim Denken. Beim Sprechen hört man
es aus dem Tonfall heraus. Noch in der Handschrift bleiben Gefühlsmomente aufgehoben. In der
Maschinenschrift sind es Wortwahl und Stil, die vom Gefühlsuntergrund künden. Die Bindung zwischen
Satz und Stimmung wird aber schwächer und schwächer ... Verhält es sich mit der Bindung zwischen
Hintergrundemotionen und Hirnströmen ebenso? Paul stand auf, spülte, stellte das Duschwasser
auf Wohlgefühl und genoß das warme Strömen auf seiner Haut. Während er sich angeregt durch die
Myriarden von Hautreizen zu dem Gedanken verstieg, der Sinn des Lebens bestehe im Wohlfühlen,
gewahrte er durch das Fluidum hindurch den sanften Druck weicher Rundungen ...
,,Dasselbe nämlich ist Wissen und Sein``, wiederholte Marianne am Frühstückstisch
die These Parmenides. Sie hatte Feuer gefangen und drängte darauf, die Details zu verstehen.
Paul und Suzanne lächelten sich an. Wie gut sie Mariannes erregtes Interesse nachvollziehen
konnten. ,,Umgangssprache, Algebra und Geometrie zählen zum Wissen``, fuhr die Tochter
fort, ,,Energie bildet das Sein. Wenn ich euch gestern richtig verstanden habe, dann verbinden
sich in der QFT Energie und Algebra, in der ART Energie und Geometrie, und zwar nicht nur
metaphorisch, sondern ganz materiell. Wie ist das genauer zu verstehen?``
,,In der ART ist es die Metrik, die zugleich das Gravitationsfeld repräsentiert und den
koordinatenfreien Zusammenhang der Raumzeit-Geometrie bestimmt. Quelle der Gravitation ist
die Energie, die mit sich selbst wechselwirkt, da die Gravitonen als Feldquanten ja selbst
Energiequanten sind. Der direkte Nachweis von Gravitationswellen steht allerdings noch aus.
Berechnungen des Energieverlustes von Doppelsternen aufgrund der Abstrahlung von Gravitationswellen
stimmen aber auf bis zu 14 Stellen mit den Meßergebnissen überein.`` Suzanne verhehlte
nicht ihre Begeisterung für diese phantastische Genauigkeit in der Überprüfung der ART.
,,Die Messungen stiften also letztlich den Zusammenhang zwischen physischer Energie und
physikalischer Theorie``, setzte Paul den Gedanken fort. ,,Den mathematisch bestimmbaren
Raumzeit-Punkten in beliebigen Koordinatensystemen entspricht die Freiheit, Messungen an
beliebigen Orten und Zeiten sowie in beliebigen Bewegungszuständen vornehmen zu können.
D.h. die Rückwirkung der kosmischen Energieverteilung auf die Meßgeräte ist bereits
Bestandteil der Theorie. Der Selbststabilität des Universums entspricht die Selbstkonsistenz
der Theorie.``
,,Dann bleibt aber noch der Zusammenhang zwischen Experiment und Theorie zu klären``,
forschte Marianne weiter.
,,Den idealen mathematischen Formen kommen die realisierbaren Meßgeräte
prinzipiell nur näherungsweise nach. Deshalb sind die mathematischen Berechnungen der
Theoretiker, die über den meßbaren Bereich hinausgehen, genau genommen bloß science
fiction``, gab Suzanne zu bedenken.
,,So meinte ich das nicht``, ließ Marianne nicht locker. ,,Ich kann doch die
Meßgeräte nicht nach einer Theorie bauen, deren Gültigkeit ich erst messend in Erfahrung
bringen will, oder?``
Paul verfolgte amüsiert den Disput der Damen. Wenn da mal nicht ein wenig Eifersucht
mitschwang? Aber wahrscheinlich nahm er sich mal wieder viel zu wichtig. Um ihn ging es jetzt
überhaupt nicht, sondern um die Klärung eines Zirkelproblems. Er hob sein Glas, in dem
natürlich der Champagner perlte: ,,Auf den philosophischen Zweifel!`` Die drei
stießen freudig an.
Suzanne ließ sich aber nicht ablenken. ,,Der Zirkel löst sich auf in der Methode
schrittweiser Verfeinerung. D.h. wir beginnen im Alltag des Handwerks. Aus der
Reflexion
dieser Praxis gelangen wir z.B. zur euklidischen Geometrie. Danach bauen wir verbesserte
Meßgeräte, die genau genug sind, hier auf der Erde die Vorhersagen der ART zu überprüfen.
So wie die Theorien als Verbesserungen ihrer Vorgängertheorien entwickelt werden, können
auch die Meßgeräte mit jeweils verbesserten Techniken gefertigt werden ... ``
,,Dann ist der Zusammenhang zwischen Theorie und Experiment in der Wissenschaft ja ähnlich
wie der zwischen Geno- und Phänotyp in der Evolution ... `` kam Marianne ins Grübeln.
,,Du meinst``, nahm Paul den Gedanken auf, ,,die geratenen Theorien haben sich in
Experimenten zu bewähren wie die Mutationen der Gene in den Lebewesen?``
,,Nach Darwins Optimierungsverfahren lassen sich auch die Kognitionsleistungen unseres
Hirns verstehen``, sagte Suzanne zustimmend. ,,Eine Erweiterung auf die Wissenschaft
liegt nahe und ist von Biologen und evolutionären Erkenntnistheoretikern immer wieder versucht
worden. Konrad Lorenz
sprach von der Erkenntnisförmigkeit des Lebens und Rupert Riedl interpretierte die Evolution
in Erwartungs/Erfahrungskreisläufen.``
,,In den Details steckt noch eine Menge Arbeit``, gab Paul zu bedenken.
,,Wichtig aber bleibt die Unterscheidung mehrerer Ebenen, die in zeitlicher Entwicklung
aufeinander einzuwirken vermögen.``
,,Unterscheidbarkeit und Zeitlichkeit sind auch die Grundbegriffe, mit denen v. Weizsäcker
die Einheit der Natur zu denken versucht``, erinnerte Marianne.
Am Abend trafen sich die drei mit Adam im Foyer des Royal Theatre am Broadway. Copenhagen
stand auf dem Programm. Der Trendforscher hätte Suzanne fast nicht wiedererkannt. Erst als sie
ihm zulächelte, nahm sie ihn leicht für sich ein. Er konnte es kaum glauben.
Die klare Strenge des schwarzen Anzugs, ihre kurzen, gescheitelten Haare. Welch ein interessanter
Kontrast zu ihren weichen Gesichtsrundungen. Schnell verflog in ihm die Erinnerung an das
busenpralle T-Shirt und den gürtelschmalen Minirock. Als er Paul vorgestellt wurde, kommentierte
er nicht den Partnerlook der beiden Schwarzen. Mit seinem hellen Leinenanzug bildete er einen
deutlichen Gegensatz zu den Exis. Der bloß tüllverhüllte Bauchnabel Mariannes lenkte seinen
Blick aber wieder ab. Als es an der Zeit war, hakte Suzanne sich bei ihm ein, während Marianne
Paul an die Hand nahm. Die vier ließen sich in der Mitte der ersten Reihe nieder. Der Vorhang
öffnete sich und gab den Blick frei auf eine spärlich ausstaffierte Bühne: ein Tisch mit drei
Stühlen. Margrethe saß an der Längsseite des Tisches. Bohr stand ihr schräg gegenüber.
Margrethe But why?
Bohr You're still thinking about it?
Margrethe Why did he come to Copenhagen?
Der Grund für Heisenbergs Reise im Oktober 1941 nach Kopenhagen und vor allem der Eindruck,
den sein Anliegen damals auf Bohr gemacht hatte, wurde nie ganz geklärt. In seinem Buch
Der Teil und das Ganze schrieb Heisenberg: Ich versuchte Niels anzudeuten, daß man
grundsätzlich Atombomben machen könne, daß dazu ein enormer technischer Aufwand nötig sei
und daß man sich als Physiker wohl fragen müsse, ob man an diesem Problem arbeiten dürfe.
Der erste Teil des Satzes mußte Niels aber derart schockiert haben, daß er
die weiteren Andeutungen nicht mehr mitbekam.
Suzanne verfolgte die Gespräche zwischen Bohr, Heisenberg und Margrethe
mit gespannter Aufmerksamkeit. Der Autor Michael Frayn verwob
geschickt die Mißverständnisse beim Kommunizieren mit den Unbestimmtheiten beim Messen.
Mit Heisenbergs Unbestimmtheitsrelation war die Vagheit zu einem Grundsatzproblem geworden.
Denn inkommensurable Größen p, q konnten danach nicht zugleich mit einer Genauigkeit
unterhalb des Wirkungsquantums h gemessen werden: .
Bohr And out we go. Out under the autumn trees. Through the blacked-out streets.
Heisenberg Now there's no one in the world except Bohr and the invisible other.
Who is he, this all-enveloping presence of darkness?
Margrethe The flying particle wanders the darkness, no one knows where. It's here,
it's there, it's everywhere and nowhere.
Bohr With careful casualness he begins to ask the question he's prepared.
Heisenberg Does one as a physicist have the moral right to work on the practical
exploitation of atomic energy?
Margrethe The great collision.
Bohr I stop. He stops ...
Margrethe This is how they work.
Heisenberg He gazes at me, horrified.
Margrethe Now at last he knows where he is and what he's doing.
Heisenberg He turns away.
Margrethe And even as the moment of collision begins it's over.
Hier endete die Freundschaft der beiden, dachte Suzanne und lehnte sich wieder
zurück. Voller Anteilnahme war sie immer weiter nach vorne gerutscht. Das Schlußwort
hatte Heisenberg:
Heisenberg ... in the meanwhile, in this most precious meanwhile, there it is.
The trees in Faelled Park. Gammertingen and Biberach and Mindelheim. Our children and our
children's children. Preserved, just possibly, by that one short moment in Copenhagen. By
some event that will never quite be located or defined. By that final core of uncertainty
at the heart of things.
Nach einem Moment der Stille, brandete der Beifall auf. Unseren vier Besuchern hatte das
Stück gut gefallen. Vor dem Theater verständigten sie sich auf den Besuch des Summer
Garden im Rockefeller Center
.
Dort wollten sie gemeinsam den Abend beschließen.
Gern vertraten sie sich die Beine nach dem langen Sitzen. Die Damen folgten den im
Schwarz/Weiß-Kontrast flanierenden Herren. Ihre Gedanken umkreisten den letzten Kern
der Unbestimmtheit im Herzen der Dinge.
Als sie sich im Cafe niedergelassen und bestellt hatten, erhob Adam das Wort: ,,Der letzte
Satz im Stück klang für mich danach, daß der Autor die Unbestimmtheit als objektiv gegeben,
den Dingen gleichsam innerwohnend, ansieht. Hat er damit nicht gerade der Kopenhagener Deutung
der Quantentheorie widersprochen, nach der die Unbestimmtheit bloß eine Folge des Meßeingriffs
in die Naturvorgänge sein solle?``
,,So könnte man den Schluß problematisieren``, setzte Suzanne den Gedanken fort:
,,Er hat das Erkenntnisproblem quasi ontologisiert, in die Dinge selbst verlegt;
allerdings in poetischer Umschreibung``, fügte sie umsichtig hinzu.
,,Aber was in den Dingen sollte unbestimmt sein, wenn niemand nach einer Bestimmung
trachtet``, wunderte sich Marianne.
,,Da die Dinge auch untereinander und nicht nur mit Meßgeräten oder Lebewesen
wechselwirken``, ließ Paul sich vernehmen, ,,könnten sie je nach Umgebung ein
wenig verändert werden, z.B. wie nahe sie der Vakuumfluktuation kommen oder welche
Kristallfehlstelle sie gerade passieren ... ``
,,Aber das hängt doch wiederum davon ab, wie wir den Zusammenhang aufteilen. Im
zusammenhängenden Ganzen kann es keine Unbestimmtheit geben``, sagte Marianne bestimmt
und schaute Paul herausfordernd an.
,,Unser Schwarzer erwiderte schmunzelnd ihren Blick: ,,Schon die Natur selbst ist
mehrschichtig strukturiert. Der zufällige Zerfall eines Neutrons hängt z.B. davon ab, in
welchem Kern oder wie weit entfernt von einem Kern es sich befindet. Oder denk nur daran,
wie wichtig kleinste Schwankungen in der Nähe von Umschlagpunkten werden, z.B. bei
Phasenübergängen.``
Ganz zufriedengestellt war Marianne nicht mit dieser Antwort. Sie wollte es aber vorerst
dabei belassen. Schließlich hatte sie das Leben noch vor sich. Verschmitzt behielt sie
Paul im Auge. Was war er doch für eine seltene Art von Mann. Sein Selbstbewußtsein und
seine Integrität, seine umfassende Bildung und sein hintersinniger Humor, seine
nachsichtige Toleranz und seine heitere Gelassenheit, seine scheue Zärtlichkeit und
sein Gespür für den weiblichen Körper ... Oh je! Sie hatte sich verliebt! Gerade seine
Unabhängigkeit machte ihn so anziehend. Natürlich auch sein Intellekt und seine markante
Erscheinung. Beide wußte er souverän zu inszenieren, wurde aber nie überheblich oder
blasiert wie so viele andere ... Sie hob ihr Glas und trank ihm zu.
Lächelnd nahm er ihr Angebot an.
Auch Adam befriedigte das Gesagte nicht. Er hatte allerdings Mühe, die Diskussion
nachzuvollziehen. Selbst Marianne war ihm weit voraus. Was bei der Mutter allerdings nicht
verwunderte. Die drei schienen ihm bestens aufeinander eingespielt. Paul war wirklich
zu beneiden! Von zwei so schönen und intelligenten Frauen begehrt zu werden ... Da konnte
er leider nicht mithalten. Leise seufzend lehnte er sich zurück. Sein Blick fiel auf den
hell erleuchteten Prometheus
,
der den Menschen einst das Feuer brachte. An der Außenseite des Centers befand sich eine
Plastik seines Bruders Atlas
.
Wollte Rockefeller sich vielleicht mit den Titanen der Mythologie
vergleichen? Atlas herrschte
über Atlantis, Prometheus war Schutzherr der Menschen. Beide fielen darob in Ungnade bei
Zeus. Atlantis versank im Schlamm und den Menschen wurde die Büchse der Pandorra geöffnet.
Atlas wurde zum Träger der Welt verdammt. Rockefeller erschloß seinen Mitmenschen das
Erdöl. Die im Erdöl gespeicherte Energie des Sonnenfeuers trägt noch immer die
Industriegesellschaft. Adam kniff die Augen zusammen. Die golden funkelnde Statue schien
auf einem üppigen weiblichen Torso zu ruhen ...
Ganz entgegen ihrer Gewohnheit ließ sich Suzanne einen Schoko-Muffin schmecken. Lange
behielt sie die schmelzende Füllung im Mund, um den Kakaogeschmack zu intensivieren.
Während sie genußvoll kaute, verfolgte sie das nonverbale Zwiegespräch Pauls mit
Marianne. Die mußte sich momentan in einer ähnlichen Verzückung befinden wie sie selbst
vor einer Woche. Die Mutter war sich aber ziemlich sicher, daß es auch ihrer Tochter gelänge,
den erotischen Rausch als vorübergehenden Höhepunkt zu genießen und danach zu ihrem
Eigenleben zurückzufinden. Suzanne begann sich bereits innerlich zu lösen und an den
Weiterflug nach Kalifornien zu denken. Den nächsten Tag wollte sie allein verbringen.
Der Muffin hatte wie ein Schwamm ihren Speichel aufgesogen. Sie griff zum Glas mit
Mineralwasser. Wie vom Blitz getroffen, hätte sie es beinahe umgestoßen. Fasziniert
hielt sie inne und betrachtete die golden leuchtenden Lichtmuster, die sich am Glas und
in den Wasserwellen brachen. Sie schaute auf und gewahrte Adam, der wie gebannt auf die
Lichtquelle starrte. Der an den Fels gekettete Prometheus. Was Adam wohl gerade darin sah?
Suzanne führte langsam ihr funkelndes Glas an den Mund. Die Lichtpunkte tanzten auf allen
Gesichtern in der Nähe. Rockefeller brachte seinen Mitmenschen das Feuer des Erdöls
und eröffnete ihnen damit das Unheil der Autogesellschaft. ,,Was fasziniert dich denn
so an der Statue?`` wandte sie sich an Adam. ,,Der goldene Glanz?``
Adam antwortete nicht gleich. Es war ihm, wie aus einem Traum zu erwachen. Verlegen
lächelnd schaute er in die Runde. ,,Ich sah Prometheus auf einem riesenhaften
Frauentorso ruhen.`` Mit dieser Vorstellung löste er allgemeine Heiterkeit aus.
,,Mir schien er an einen Felsen gekettet``, entgegnete Suzanne amüsiert.
Adam sah sie hintergründig an. ,,Die Welt ist ein Text, den wir zu interpretieren
haben. Dich leitete die Kenntnis des Mythos, ich ließ meiner Bewunderung für weibliche
Formen freien Lauf ... ``
,,Die Welt als WillLust und Verstellung, cunnyglich``, zitierte Suzanne fröhlich.
,,Auf daß wir three quarks for Muster Mark bestellen``, setzte Paul noch einen
drauf.
,,Die Textmetapher der Postmodernisten ist mir zu anthropomorph``, nahm Suzanne nun
ernsthaft den Fehdehandschuh auf. ,,Ein Text wird geschrieben in einer Sprache. Für die
Kunst mag die Textmetapher brauchbar sein, aber für die Welt?``
,,Wird nicht seit Galilei
die Mathematik
als Sprache der Natur angesehen?`` gab Marianne zu bedenken.
,,Männer sehen in kurvigen Formen häufig weibliche Rundungen. Das ist doch biologisch
leicht verständlich. Je leichter ein Mann eine Frau erkennt, desto größer wird die
Wahrscheinlichkeit zur Fortpflanzung``, fuhr Paul nicht ohne Ironie fort. ,,Die
Invarianzleistungen unserer Sinne sind aus den praktischen Problemen der Lebensbemeisterung
hervorgegangen. In der Mathematik
werden die Idealisierungen
geometrischer Formen und die Abstraktionen arithmetischer Formeln nur explizit gemacht.``
,,Das Zeichnen läßt sich zur Geometrie verfeinern und das Zählen zur Arithmetik``,
pflichtete Suzanne ihm bei.
,,Die Mathematik sprengt noch nicht die Textmetapher``, schaltete sich Adam wieder ein.
,,Allerdings weist jeder Text, auch ein mathematischer, aufgrund seiner Vieldeutigkeit stets
über sich selbst hinaus.``
,,Aber Ziel der Mathematik ist doch die Eindeutigkeit``, wunderte sich Marianne.
,,Vielleicht meint Adam die Vieldeutigkeit in der Anwendung. Die Wissenschaften stehen
nicht nur in Begründungs-, sondern auch in Verwertungszusammenhängen. Ganz zu schweigen
von ihren Entstehungsbedingungen. In der Physik erfolgen mathematischer Beweis und
experimentelle Überprüfung Hand in Hand. D.h. eine physikalische Theorie schließt mit
dem Formalismus auch seine Interpretation mit ein.``
Suzanne nahm Pauls Gedanken auf: ,,Der reine Text ist bloß eine Fiktion, so als ob ein
Lächeln beim Verschwinden des Gesichts erhalten bliebe. Das gelingt nur Alice in Wonderland.
Es ist immer die Materie, die sich in Form begibt so wie sich die Energie selbst den Raum
ihrer Ausdehnung und die Zeit ihrer Dauer schafft.``
,,Es fragt sich allerdings``, knüpfte Paul den Faden weiter, ,,ob nicht in
Analogie zur Physik durch Invarianzforderungen hinreichend genaue Interpretationseinschränkungen
erzwungen werden könnten.``
,,Du meinst``, ging Suzanne interessiert darauf ein, ,,so wie die Eichinvarianz
des Materiefeldes die Existenz eines Eichfeldes zur Folge hat, das mit dem Materiefeld zu
wechselwirken vermag? Auf den Text bezogen also die Kontextinvarianz gleichsam ein
Bedeutungsfeld nach sich zieht?``
Paul und Suzanne starrten sich an und schienen in einander aufzugehen. Adam hatte
kopfschüttelnd verfolgt, was aus seinem Ansatz geworden war. Marianne lächelte ihm
einverständig und aufmunternd zu: ,,Wenn man Physiker sich selbst überläßt,
werden sie wunderlich. Was haben schon Ladungsverteilungen und Elektromagnetismus mit
Texten und ihren Bedeutungen gemeinsam?``
Langsam ließen Paul und Suzanne von einander ab und wandten sich Marianna zu, die
sie schnippisch anlächelte. ,,Die Evolution ... ``, hoben die beiden fast
gleichzeitig an. Ihr Lachen verhinderte allerdings ein Weiterreden. ,,Die Evolution
stiftet den Zusammenhang?`` beendete Marianne fragend den Satz. ,,Genau``,
bestätigte ihre Mutter erheitert und bemühte sich um Ernsthaftigkeit: ,,Die
Prinzipien der Selbstorganisation sind auf allen Ebenen der Naturentwicklung dieselben.
Und so liegt die Vermutung nahe, daß auch die Selbststabilisierung des Sprachgebrauchs
im menschlichen Zusammenleben einem Darwin'schen Optimierungsverfahren folgt.``
,,Der Clou der Evolution ist, daß sie uns vorführt, wie sich eine Organisation über
mehrere Ebenen hinweg erstrecken kann, ohne daß die Ebenen direkt aufeinander einwirken
müssen. Wichtig dabei sind allein hinreichend stabile physische Randbedingungen, so wie
sie sich beispielsweise hier auf der Erde entwickelt haben. Diese Art evolutionärer
Selbstorganisation erstreckt sich über alle Strukturebenen des Multiversums hinweg, von
dem wir allerdings nur einen winzig kleinen Ausschnitt kennen. Eine verantwortungsvolle
Politik täte gut daran, sich auf die Bedingungen und Prinzipien zu besinnen, die eine menschliche
Gesellschaft überhaupt erst möglich gemacht haben. Die Biosphäre jedenfalls wird erhalten
bleiben und sich weiter fortentwickeln, auch wenn die Menschheit sich selbst in absehbarer Zeit
ausrotten sollte.`` Die Eindringlichkeit, mit der Paul gesprochen hatte, zog alle in
ihren Bann.
Adam fand zuerst die Worte wieder: ,,Ich hoffe, du wolltest damit nicht einer Biopolitik
zu neuen Ehren verhelfen. Biotechnologie und Kapitalismus könnten einen Neofaschismus
heraufbeschwören, der die Greuel aller bisherigen Wahnsysteme weit in den Schatten stellen
könnte.``
,,Das meinte ich gerade nicht mit meinem Appell, sich in der Politik mehr auf die
Evolutionsprinzipien zu besinnen. Fahrlässige Eingriffe in die menschliche Keimbahn
z.B. könnten zur Selbstausrottung führen, gerade weil sie den bewährten Evolutionsprinzipien
widersprechen und den mittelbaren Wirkungszusammenhang einer subtilen Selbstorganisation
durch einen direkten Eingriff meinen besser machen zu können. Um es mit Peter Kafka auf
den Punkt zu bringen: Vielfalt und Gemächlichkeit statt Einfalt und Raserei!``
,,Eine Eichtheorie des Geldes, in der es z.B. gelungen ist, die
Black-Scholes-Gleichung
herzuleiten, gibt es
schon``, schaltete Suzanne sich ein und lächelte Paul wissend an; verriet aber nicht,
wie er zu seinem Reichtum gekommen war. ,,Sollte eine Eichtheorie der Macht dann nicht
ebenso möglich sein und neben der Wirtschaft auch den Staat in die physikalische Theorie
einbeziehen können. Natur und Technik werden durch Energie und Materie bestimmt, Staat und
Wirtschaft durch Macht und Geld reguliert. Komplementär zu diesen Systemorganisationen
sind allerdings die strukturellen Komponenten der Lebenswelt nicht zu vergessen: Kultur,
Gesellschaft und Person. Die Umstellungen zwischen System- und Lebenswelt bezeichnen dabei
die gleiche Schnittstelle, die schon am Beginn aller Differenzierung und Integration stand:
die Abgrenzung von innen und außen, egal ob es sich z.B. um Nukleonen, Zellen, Organismen
oder Galaxien handelt. Schwache Quark-Wechselwirkungen in den Nukleonen führen dabei
z.B. zu Mutationen in den Genen von Zellkernen, die sich wiederum auf die Lebensfähigkeit
der nächsten Generation eines Organismus auswirken können. In analoger Weise können sich
Rechenfehler oder Gesetzeslücken nicht nur auf das jeweilige soziale Subsystem beziehen, wie
die Börse oder die Justiz eines Landes, sondern sich auch auf die Biosphäre als Ganzes
auswirken.``
Adam brannte darauf, seinen Einwand vorzubringen. ,,Du hast mit Blick auf die
Naturwissenschaften das Soziale zu sehr instrumentalisiert. Kommunikatives Handeln ist
sehr viel reichhaltiger. Es geht nicht nur um die Berechenbarkeit und die Wahrheit von
Sachverhalten, sondern auch um die Richtigkeit von Normen und die Wahrhaftigkeit von
Erlebnissen ... ``
,,Durchaus nicht``, warf Suzanne ein, ,,ich wollte nur einige Beispiele
geben. Ich bin in der Tat der Ansicht, daß sich auch Normen der Intersubjektivität
und sogar die subjektiven Erlebnisse im Rahmen einer Theorie sozialer Evolution
entwickeln lassen werden. Habermas
selbst, auf den du
dich ja bezogen hast, hatte diese Perspektive bei seiner Rekonstruktion des
historischen Materialismus im Auge.``
,,Aber im Gegensatz zum natürlichen Wechselwirken und technischen Funktionieren ist
das Gespräch zwischen Menschen wesentlich spontan, zufällig und nicht vorhersehbar.
Das wirst du nie in einer physikalischen Theorie unterbringen können``, blieb Adam
beharrlich.
,,Die durch die schwache Wechselwirkung beschriebenen Vorgänge der Radioaktivität
sind auch spontan, zufällig und nicht vorhersehbar. Dennoch sind sie im Rahmen der
Quantenfeldtheorie sehr präzise formulierbar. Allerdings nicht für Einzelfälle, sondern
nur für sogenannte statistische Ensembles. Es wird also nie um den subjektiven
Erlebnisreichtum eines einzelnen Menschen gehen, wohl aber z.B. um seinen Beitrag an
den statistischen Fluktuationen, die sich aufschaukeln und gesamtgesellschaftliche
Auswirkungen haben können. Die Stuttgarter Synergetiker
haben schon mehrere physikalische
Theorien zum Verständnis derartiger sozialer Phänomene vorgelegt, z.B. wenn es um die
Dynamik von Meinungsverteilungen in einer Population geht. Statistische Theorien erlauben
die Behandlung nahezu deterministischer Vorgänge ebenso wie die fast zufälliger
Erscheinungen. Vergleich z.B. mal die Vorhersage einer Sonnenfinsternis mit der
Wetterprognose. Im übrigen läßt sich selbst bei einem Gespräch an den Themenwechseln
sehr schön der Einfluß von Fluktuationen, etwa durch Mißverständnisse oder Versprecher,
auf den Fortgang der Unterhaltung verfolgen. Sogar das Erlernen der Sprache
selbst
müßte sich im Rahmen der statistischen Physik darstellen lassen.``
,,Womit wir wieder bei der Eichtheorie der Bedeutung wären``, schloß Paul den
Bogen und hob zum Schlußwort an. ,,Über eine Bedeutungstheorie könnte sich doch
jeder von uns mal eigene Gedanken machen.``
,,Um der Philosophie ihre letzte geistig-immaterielle Domäne streitig zu
machen?`` Adams Frage blieb unbeantwortet. Paul beglich die Rechnung und bestellte
ein Taxi. Adam stieg vor dem Lexington Hotel aus, Marianne und Paul ließen sich zum
Plaza Hotel chauffieren und in einer Anwandlung von Sentimentalität zog es Suzanne noch
einmal in Tom's Restaurant.
Als sie nach tiefem und erholsamen Schlaf am Vormittag erwachte, blieb sie liegen und ließ sich nicht von der Geschäftigkeit der Metropole vereinnahmen. In der Woche intensiven Erlebens mit Paul war sie gar nicht richtig zum Nachdenken gekommen. Das war ihr bisher noch nie in dem Umfang widerfahren. Paul war sicher ein seltener Fall. Seine Konzentration auf den Moment, sein Humor und seine Ernsthaftigkeit: daß sie das noch erleben durfte! Vielleicht gab es ja in Utopia ein paar weitere Artgenossen von seinem Schlag. Sich mit solchen Menschen vereint zu fühlen, auch wenn sie über den ganzen Erdball verstreut sein sollten, war schon hinreichender Lebensgrund. Wenn sie dagegen an die Oberflächlichkeit und Zerstreutheit der meisten Mitläufer und Nachahmer dachte. Die schienen ständig mit ihren Handy's auf Anrufe zu warten, auch wenn sie in Gesprächen waren, Musik hörten, sich ein Video anschauten oder ein Buch lasen. Stets ließen sie sich freudig unterbrechen; so als ob sie alles nur täten, um irgendwie die Zeit totzuschlagen. Wie man sich in den Werbekanälen Filme ansehen konnte, die hinsichtlich der optimalen Wirkung der Werbespots zerhackt wurden und nicht mehr ihrer eigenen Dramaturgie folgten, war ihr schleierhaft. Welch ein Pseudoleben! Die Hedonisten der Spaßgesellschaft freuten sich offensichtlich über jede Unterbrechung ihrer Langeweile. Wenn sie sich dagegen für eine Arbeit oder einen Genuß entschied, konzentrierte sie sich mit ihrem ganzen Sein darauf und ließ sich durch keine Belanglosigkeit davon abbringen. Manchmal vergaß sie darüber sogar das Essen. Mit Magenknurren und Harndrang erwachte sie dann wie aus einem erlebnisreichen Traum. Und mit Paul war es genauso! Der kam auch ohne Handy aus und konnte sich ebenso konzentrieren, sich vollständig von einer Sache oder einem Genuß ausfüllen lassen. Auch ihm waren wenige intensive Freundschaften lieber als viele oberflächliche. Entspannt und voller Genugtuung reckte sie sich und kuschelte sich erneut in die Federn. So viel Wohlgefühl machte ihr fast ein schlechtes Gewissen. Zum Glück schlief sie darüber wieder ein.