Dumpf dröhnend setzten die Triebwerke den
Airbus
in Bewegung. Für Suzanne
war das Fliegen immer wieder aufregend. Sie schaute hinaus. Die Maschine
entschwebte bereits mit erhobener Nase in das strahlende Blau des Morgenhimmels.
Ein leichtes Durchsacken des Riesenvogels fuhr ihr als schwacher Schreck in den
Magen. Unwillkührlich tastete sie nach den Sitzlehnen. Der Flugverkehr zählt zu
den sichersten Transportweisen. Das Wissen darum verhinderte aber nicht ihre
Schreckreaktion. Auch die beruhigend klingenden Begrüßungsworte des
Flugkapitäns linderten kaum ihre Anspannung. Sie blickte hinab. Aus dem Rollfeld,
dem Flughafen, der Stadt
Frankfurt
,
den umliegenden Wiesen und Wäldern war ein
fernes Muster wechselnder Grüntöne geworden. Einem Netz gleich
durchwoben Feldwege und Straßen das Landschaftspflaster. Autos waren keine
mehr auszumachen. Die Vogelperspektive verschob ihre Aufmerksamkeit in den Kopf.
Wie befreit löste sich der Schreck im Körper auf und verschmolz mit ihrer
nachdenklichen Grundstimmung.
Aus der Ferne betrachtet, werden die Dinge
überschaubar. Die Erde wird zur Kugel, ihre Umlaufbahn zur Ellipse. Der
Abstand wandelt das unübersichtliche Dickicht zur klaren geometrischen
Form. Mit der Forderung, daß der Abstand unabhängig von der Eigenbewegung sein sollte,
revolutionierte Einstein
die Physik. Er dynamisierte die Geometrie, indem er die Gravitation als Krümmung
der Raumzeit verstand. Wird die Energiedichte zu groß, biegt sie die Raumzeit in
sich selbst zurück und kollabiert zu einem sich verengenden Schlund. Die
Grenzlinie der Krümmung zwischen innen und außen legt den Ereignishorizont des
schwarzen Loches
fest.
Nach dem holographischen Prinzip
`t Hoofts
sind seine inneren Eigenschaften vollständig aus der
äußeren Horizontfläche bestimmbar. Die Quantisierung der Horizontfläche ergibt
eine Quantentheorie der Gravitation. So wie Atome den Aufbau der Elemente bilden,
werden schwarze Löcher als Bausteine des Universums angesehen. Im sehr Großen der
kosmischen Weite wie im ganz Kleinen der Flächenquanten dominiert die Gravitation
das Geschehen: jeweils 27 Größenordnungen oberhalb des menschlichen Maßes sowie
unterhalb der atomaren Ausdehnung. Mit dem Bedenken der Folgerungen aus einem
einfachen Grundprinzip bescherte Einstein
unserer Kultur eine geradezu astronomische Horizonterweiterung auf über
60 Größenordnungen ...
Suzannes Faszination für Einstein und die Monotonie des Flugrauschens überführte
ihren Gedankenstrom unmerklich in einen Tagtraum. Sie fühlte sich verloren und ausgeliefert
in der Endlosigkeit des Firmaments. Geistig entgrenzt ließ sie den leuchtend blauen
Planeten hinter sich. In der Weite der Milchstraße verlor sie auch das Strahlenfeuer der
Sonnenglut aus dem Blick. Der Spiralnebel verblaßte im Galaxiencluster. Das kosmische
Panorama verschrob sich zu einem Wirbel, in dessen Zentrum eine Höhlung aufschien.
Umschlossen von einer Tunnelwand flog sie geradewegs in einen sich verengenden
Schlund hinein. Im nächsten Moment fand sie sich in einem Hohlrund wieder, mit dem sie
rasch expandierte. Wie in einer Seifenblase, die gerade vom Ring geblasen wurde.
In buntem Farbenspiel blitzten rings umher Lichter auf und erloschen. Aus wabernden
Umrissen erwuchsen schemenhafte Gestalten, zwischen denen die Blitze zuckten.
Dem flimmerden Muster aus Leuchtpunkten und Dunkelstellen entsprangen immer wieder
neue Hohlkugeln. Das Wabern und Blitzen glich einem ständigen Austausch, Hin
und Her; nicht nur zwischen ihnen, sondern auch in den Blasen. Wie im Schaumbad oder
in der Gischt der Brandung platzten sie oder verbanden sich zu größeren Formen.
Unvermittelt wurde es finster und ein Gefühl endloser Weite breitete sich aus.
Flüchtige Gestalten wirbelten umher. Ihr Tanz wurde von einer Art Zentralbewegung
überlagert, die sich von zäher Langsamkeit zu rasender Schnelle beschleunigte.
Im Zentrum ungeheurer Dichte zündete eine gigantische Explosion, die alles mit
gleißendem Licht überblendete. Das dunkle Fallen war in ein grelles Flüchten
umgeschlagen. Im Hochgefühl der Freude ging es hinaus aus der Sonnenglut und ...
... like a bird on a beam ... in the air she goes ...
... hinein in die Lebensfülle des blauen Planeten ...
... come Josephine
,
in my flying machine ...
Suzanne schaute verwirrt in das lächelnde Gesicht ihres Sitznachbarn. Sie hatte
geträumt, aber das Lied war wirklich erklungen. Come Josephine,
in my flying machine hallte es in ihr wider. Zur Unterhaltung der Passagiere
nicht ganz unpassend. Noch leicht benommen, erinnerte sie Amelia
, die seinerzeit allein den Atlantik überquerte.
Wie sich die einsame Pilotin dabei wohl gefühlt haben mag? Anfang des 20. Jahrhunderts
war das Fliegen noch ein Abenteuer, für das sich auch viele Frauen begeisterten. Aber
welche große Fluggesellschaft beschäftigte Frauen als Piloten?
... Whoa! Dear, don't hit the moon! ... No, Dear, not yet, but soon.
Ja, die Himmelsstürmer in ihren fliegenden Kisten! Auch Amelia fand den Tod im Abenteuer.
Ihr Versuch, die Erde am Äquator zu umfliegen, scheiterte an der Navigation. Ein Problem,
mit dem bereits die ersten Erdumsegler zu kämpfen hatten. Heute gibt es das globale
Positionierungssystem
(GPS): mit ihm sind
die Positionen fast überall auf der Erde bis auf einige Meter genau bestimmbar. Diese
unglaubliche Präzision erfordert auf zwölf Stellen genaue Korrekturrechnungen in der
GPS-Software! Die sind natürlich nur im Rahmen der Relativitätstheorie möglich und
offenbaren einmal mehr ihren praktischen Wert in Verbindung mit der Satellitentechnik.
Oh! My! The moon is on fire!
Das Feuer der Leidenschaft für das Fliegen brannte auch in Saint-Ex
, wie Freunde den berühmten Schriftsteller nannten.
Anläßlich seines hundertjährigen Geburtstages hatte Suzanne einige Bücher von ihm
im Rucksack. Auch die von
Max Planck
um 1900 auf den Weg gebrachte Quantentheorie war hundert
Jahre alt geworden. Und im Jahr 2001 jährte sich zum hundertsten Mal der Geburtstag
Werner Heisenbergs
.
In Deutschland würde zudem das erstmalige Erscheinen der Buddenbrooks 1901 in diesem Jahr gefeiert
werden, erinnerte Suzanne und wandte sich wieder Saint-Ex zu.
Sein Absturz 1944 blieb ungeklärt: wurde er abgeschossen, Opfer
eines Unfalls oder wählte er den Freitod? In einem Brief hinterließ er folgende Zeilen:
Sollte ich abgeschossen werden, werde ich rein gar nichts bedauern. Vor dem
künftigen Termitenbau graust mir. Und ich hasse ihre Robotertugend. Ich war dazu geschaffen,
Gärtner zu sein. Ein Flieger weiß der Robotertugend im Termitenbau zu entfliehen.
Wie der Gärtner hat er mit dem Wirken der Natur zu rechnen ...
... Über den Wolken muß die Freiheit wohl grenzenlos sein
alle Ängste, alle Sorgen sagt man
blieben darunter verborgen und dann
würde was uns groß und wichtig erscheint
plötzlich nichtig und klein ...
,,Jetzt outet sich unser Käpt'n auch noch als
Reinhard Mey
Fan``,
scherzte ihr Nebenmann.
,,Ich dachte schon, die Musik bloß geträumt zu haben``, erwiderte
sie.
Sein offenherziger Blick verweilte mit Behagen auf ihrem Antlitz. ,,Träume
sind doch etwas sehr Schönes``, sagte er geradezu feierlich.
Die Mehrdeutigkeit seiner Rede entging ihr nicht. Sie erwiderte seinen
Blick. Warum nicht ein bißchen plaudern? Schließlich war er nicht abstoßend.
,,Sind sie Künstler?`` fragte sie gleichmütig.
,,Dafür fehlt mir die Phantasie der Träume. Ich habe Literatur, Philosophie
und Kunstgeschichte studiert.`` Nach kurzer Pause fuhr er fort:
,,Ich arbeite für Werbeagenturen als Trendforscher
, indem ich Lebensstile
erkunde. Da bin ich natürlich viel unterwegs. Vor allem in
New York
und
Kalifornien
.
Die USA sind ja nach wie vor kulturprägend ... ``
,,Wenn man sich an die Massenkultur hält``, warf sie mit leichtem
Vorwurf ein.
,,Was möchten sie trinken?`` fragte die attraktive Stewardess
freundlich lächelnd. Er nahm ein Glas Sekt. ,,Und sie?``
,,Mineralwasser.`` Die beiden nahmen das übliche Frühstück
entgegen.
,,Auf die Kultur!`` suchte er zu vermitteln und hob sein Glas.
Routiniert entpackte und gruppierte er die Brötchen und Beilagen.
Noch während er die Brötchen schmierte, nahm er vom Obstsalat.
Suzanne ließ sich Zeit. Sie hatte weder Hunger noch Eile. So überließ
sie sich ihren Gedanken. Trendforscher? Lifestyle? Wenn Sein zum Design
wird und der Stil wichtiger als das Leben ...
,,Nun schauen sie doch nicht so ernst. Sonst bekommen sie noch
Sorgenfalten``, bemerkte er dreist.
,,Die natürlich nicht im Trend lägen``, entgegnete sie leicht
bissig.
,,Ich glaube, sie machen sich eine falsche Vorstellung von meiner Arbeit.
Für die Massenkultur interessiere ich mich gar nicht primär. Ich versuche
vielmehr, in den Subkulturen Tendenzen aufzuspüren, die zu Moden werden
könnten. So einheitlich wie es scheint, ist unsere Kultur gar nicht.``
,,Wie gehen sie denn vor beim Aufspüren? Sichten sie Veranstaltungskalender?
Besuchen sie Partys und Szene-Lokale? Und wie bringen sie ihre Eindrücke
zusammen? Verfolgen sie Arbeitshypothesen im Rahmen soziologischer Theorien?``
fragte sie streng und sah ihn herausfordernd an.
Da er gerade abgebissen hatte, mußte er nicht sogleich antworten. Jedenfalls
interessierte sie sich für ihn. Als natürliche Schönheit hatte sie
kein Styling nötig. Ihre weichen Gesichtszüge ließen
Juliette Binoche
in ihm aufscheinen, ihr wohlproportionierter Körper
Claudia Schiffer
erinnern. Das schlichte
Outfit und die fehlende Schminke deuteten auf eine Arbeit im öffentlichen Dienst
hin. Ihre gezielten Fragen verwiesen auf eine Tätigkeit an der Uni.
Suzannes Blick schweifte unterdessen in die strahlend blaue Weite des Himmels. Sie
freute sich darauf, in New York
ihre Tochter wiederzusehen. Die hatte an der
School of General Studies
der Columbia University
gerade ihr Studium aufgenommen. Zuvor hatte sie
in San Francisco ihren Highschool Abschluß gemacht. Wie sie sich wohl mit den
Jahren verändert hatte? Sie interessierte sich noch immer für die großen
Zusammenhänge. Aber hatte sie sich das Staunen, die unbefangene Offenheit und
Arglosigkeit des Kindes bewahren können? Einer schönen Frau wurde es damit
nicht leichtgemacht. In der Regel schuf sie sich schnell einen schützenden Panzer
aus Arroganz und Selbstgefälligkeit ...
,,Darf ich abräumen?`` Eine sonore Männerstimme lenkte Suzannes
Aufmerksamkeit auf den professionell freundlichen Steward. Sie ließ das meiste
zurückgehen, nahm aber noch einen O-Saft. Ihr Sitznachbar hob erneut ein Glas
Sekt: ,,Auf das Gespür``, sagte er leichthin lächelnd.
Sie lenkte ein: ,,Soll das heißen, daß sie ihren Ahnungen folgen und keiner
Theorie?``
,,Na ja, soziale Zusammenhänge sind sehr komplex und Komplexität gilt es
zu reduzieren. Das gelingt unserem ahnenden Fühlen noch am ehesten. Ich setze
mich meiner Umgebung aus, lasse sie auf mich wirken. Wenn man nur offen und
vorurteilsfrei genug daran geht, erschließen sich einem die Besonderheiten
der Situation ganz von selbst. Wie sagte der Fuchs zum
kleinen Prinzen
:
Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen
unsichtbar.``
,,Wenn der Dichter spricht. Aber was meint er? Nicht die äußere Erscheinung,
sondern die innere Struktur gilt es wahrzunehmen? Erst die Gewichtsfunktion
unseres Gefühls trennt die Spreu der Belanglosigkeiten vom Weizen der
Einsichten?``
,,So in etwa``, begann er zustimmend. ,,Jedenfalls kommt es nicht so
sehr darauf an, was die Leute gerade machen, z.B. sich piercen, Plateauschuhe tragen
oder sich den Kopf rasieren. Die Tendenz zur Individualisierung, die dahinter steckt,
ist entscheident.``
,,Auch wenn es sich nur um die Nachahmung von Moden handelt, um bloßes
Mitläufertum?`` ließ sie nicht locker.
,,Mitläufer sind nicht die, die `mal `was ausprobieren und z.B. als Frau
auf den BH verzichten oder mit Glatze herumlaufen, weil sie es bei wenigen anderen
gesehen haben. Mitläufer sind die grauen Mäuse, die auf ihr Äußeres keinen
Wert legen, die träge Masse, die immer so weiter macht wie bisher ... ``
Unverhohlen hatte er die Rundungen in den Blick genommen, die ihr T-Shirt wölbten.
Sie war allerdings aus dem Alter heraus, in dem sie das Starren der Männer verunsicherte.
Ihr fiel sein Ohr auf, an dem das Männersymbol hing. Ob er auf der anderen Seite
das Frauensymbol trug? Eigentlich hatte er recht. Und so entgegnete sie betont:
,,Wie die vielen Bild-Leser, Fußball-Fans, Mallorca-Touristen,
Groschenroman-Schmöker, Seifenopern-Gucker ... ``
Unser Literaturfreund hatte wieder ein Zitat parat.
,,Schon Goethe
schrieb in seinem
Bildungsroman: Der rohe Mensch ist zufrieden, wenn er nur etwas vorgehen sieht; der
gebildete will empfinden, und nachdenken ist nur dem ganz ausgebildeten angenehm.``
Sie wurde wieder sachlicher: ,,Jedenfalls scheinen sie `was von Luhmann gelesen
zu haben. Aber kennen sie auch die Synergetik Hermann Hakens?``
,,Die Lehre vom Zusammenwirken? Ich lese gern populärwissenschaftliche Bücher.
Für den Flug habe ich mir Hans-Peter Dürr
und Peter Kafka
eingepackt. Die Physiker gehören seit langem zur eigentlichen Avantgarde der Gesellschaft.
Sie haben nicht nur die Autorität der Kirche untergraben und die Aura der Kunst verblassen
lassen, sondern prägen zugleich die technisch-materielle Basis wie das mathematisch-spirituelle
Weltbild der westlichen Zivilisation.``
Sie war verblüfft. Er hatte ins Schwarze getroffen. Woher wußte er, daß sie
Physikerin war? Aber wahrscheinlich wußte er es gar nicht, sondern tastete bloß den Raum
seiner Ahnungen ab und achtete auf ihre Reaktionen. Er hatte unterdessen zwei Bücher
herausgekramt: Für eine zivile Gesellschaft und Gegen den Untergang. Sie
kannte die Autoren von Vorträgen und wissenschaftlichen Publikationen. Zudem waren sie
in der Alternativbewegung engagiert und ausgewiesene Theoretiker der politischen Ökologie.
Suzanne mußte an die bekannte Asymmetrie in den Wissenschaften denken. Naturwissenschaftler
sind häufig Generalisten, Geisteswissenschaftler dagegen kennen die Naturwissenschaften
in der Regel nur aus populären Büchern. Als wissenschaftlich gilt ihnen bereits das richtige Zitieren von Autoritäten.
,,Die beiden Bücher kenne ich nicht, aber die Autoren``,
wandte sie sich an den Lifestyler. ,,Sie nehmen auch an der Tagung teil, zu der ich unterwegs bin.``
,,Was für ein Zufall``, fiel er freudig ein. ,,Perspectives of the 21th century.
Da haben wir das gleiche Ziel.``
,,Wahrscheinlich sind mehrere weitere Tagungsteilnehmer in dieser Maschine``, relativierte
sie seinen Überschwang und ergänzte ironisch: ,,Wollen sie sich der Tagungsatmosphäre
auch bloß emotional aussetzen?``
,,Und welchen Theorienzirkeln werden sie sich anschließen?`` fragte er schlicht.
,,Der vereinheitlichten Philosophie
``, hob sie dozierend an:
,,Ausgehend von dem Zusammenhang, in dem kritische Theorie und moderne Physik gesehen
werden können, geht es mir um die Zukunftsperspektive einer
erneuerten Philosophie
,
die weit genug sein sollte, in der kommenden Weltgesellschaft Sinn zu stiften.
Darunter fallen auch die Sozialutopien der Physiker von einer ökologisch-verträglichen,
globalen Zivilgesellschaft.``
,,Mit der Sozialphilosophie Adorno/Horkheimers ist doch heute kein Blumentopf mehr
zu gewinnen. Die 68er sind mega-out``, erheiterte sich der Trendforscher.
,,Die Naturphilosophen in der Folge Bohr/Heisenbergs halten die Flamme der 68er am
Brennen. Schauen sie nur in ihre Bücher, sie werden sich wundern.``
Er verstand ihren Wink und begann mit der Lektüre. Schmunzelnd griff auch sie nach den Büchern, die sie dabei hatte. Sie wählte Tonis Carnets. Schon der erste Satz gefiel ihr: Die Menschen. Nicht sich dem öffnen, was sie sind, sondern dem, was sie werden können. Ein passendes Motto für einen Flieger und Schriftsteller, der im Fliegen und Schreiben seine Möglichkeiten auszugestalten suchte. Kapitel 3 erregte ihre Aufmerksamkeit: Strukturen des Universums. Man sieht nur mit der Mathematik gut, das Wesentliche bleibt dem Experiment verborgen, variierte sie Saint-Ex. Da es sich um verstreute Aufzeichnungen handelte, blätterte sie zunächst ein wenig herum. Ein Satz sprang ihr geradezu ins Auge: Ich nenne Masse den Grad an Gegenwart von 1/h. Was wollte der Mondgucker denn damit sagen? Sie las weiter: Die Masse könnte das Maß an Wahrscheinlichkeit sein, denn wenn die Geschwindigkeit der Lichtgeschwindigkeit gleicht, wird die Wahrscheinlichkeit von Gegenwart unendlich. Die Ruhemasse m0 nimmt mit der Geschwindigkeit v bis zur Grenzgeschwindigkeit c des Lichtes zu gemäß:
Soweit Einstein. Tonis Interpretation konnte als dichterische Freiheit durchgehen, nicht aber als einigermaßen tiefgründig bezeichnet werden, wie Suzanne erstaunt in einer Fußnote las. Da eine Wahrscheinlichkeit zwischen 0 und 1 liegen sollte, macht ein unendlicher Wert keinen Sinn. Sie müßte also durch die Gesamtenergie normiert werden. Dann hätte der energiereichere Zustand einen höheren Grad an Gegenwart. Im Sinne einer größeren Intensität oder Wirksamkeit ließe sich das noch plausibel machen. In der Regel sind aber die energieärmeren Zustände die wahrscheinlicheren. Da hatte Saint-Ex etwas durcheinander bekommen. Oder spielte er auf die Ausnahmen an, auf zufällige Fluktuationen? Und was sollte der Zusammenhang zwischen Masse m und Wirkungsquantum h andeuten? Der Impuls einer Materiewelle wird bestimmt durch h und , der Wellenlänge: . Soweit d`Broglie. Da das Wirkungsquantum so klein ist, spielt es auch nur bei sehr kleinen Massen eine Rolle: Meinte er das? Allein unterm Sternenhimmel mußte einem wohl wunderlich werden ...,,Haben sie Sodbrennen?`` vernahm sie ihren Nebenmann.
Noch ihren Gedanken nachsinnend, sagte sie gedehnt: ,,Man könnte es eine cerebrale
Übersäuerung nennen.`` Sie hielt ihm die Außenseite ihres Buches hin.
,,Saint-Ex hält die Masse für ein Wahrscheinlichkeitsmaß von Gegenwart ... ``
,,Das wird er doch bloß metaphorisch gemeint haben: je massiver etwas ist, desto
gegenwärtiger erleben wir es. Denken sie nur `mal an die fleischliche Medienpräsenz
unseres Ex-Kanzlers Kohl. Das Wesen der Dinge liegt in ihrer Gestalt, lese ich
gerade.``
,,Sind sie etwa der Postmoderne verfallen oder warum schenken sie dem wörtlichen
Verständnis kaum mehr Beachtung?``
,,Der Physiker Peter Kafka umschreibt das Schöpfungsprinzip als Verwirklichung von
Möglichkeiten: Die zufälligen Schwankungen jedes verwirklichten Systems von
Gestalten tasten dessen Nachbarschaft im Raum der Möglichkeiten ab. Wie wörtlich soll
man das denn verstehen können?`` Er schaute sie herausfordernd an.
,,Das ist doch bloß die Umschreibung eines darwinistischen Optimierungsverfahrens.
Ich erspare ihnen die Formulierung der entsprechenden Fokker-Planck-Gleichung
und greife lieber ihre Metapher vom
Erspüren einer Situation auf. Auch die Atome z.B. erspüren gleichsam ihre Situation. Denn
ihre ständige Wärme- und Quantenbewegung läßt sich als Abtasten ihrer Umgebung deuten. D.h. die
Reaktionskräfte lassen Rückschlüsse auf die Umgebung zu, der sie entstammen. Es macht
einen Unterschied, ob sich z.B. ein Eisenatom im Metallgitter oder im Hämoglobinmolekül
befindet. Die Planckkonstante h bestimmt dabei das Minimum der Wirkungseinheit in der
Wechselwirkung zwischen dem Atom und seiner Umgebung. Der Kehrwert 1/h ist gleichsam
ein Maß für die spürbare Materialität der Dinge innerhalb unserer Alltagserfahrung.
So mag es Saint-Ex vielleicht gemeint haben. Jedenfalls entsprechen der
Alltagswirkung einer Joulesekunde Js etwa 1033 Wirkungsquanten. Der
Grad an Gegenwart könnte also durch die Zahl der Wirkungsquanten bestimmt werden.
Und da Energie und Masse äquivalent sind, kann die Wirkung als das Produkt aus Energie
und Zeit auch über die Masse ermittelt werden.``
,,Ihr Bild der fluktuierenden Atome, die mittels ihrer ständigen Bewegung gleichsam die
Umgebung abtasten, gefällt mir. So machen es ja auch die Kinder, wenn sie die
Belastbarkeitsgrenzen ihrer Eltern testen.``
,,Ja, das Explorationsverhalten der Jungtiere reicht von der Brown'schen Molekularbewegung
bis hin zur Reisefreude der Touristen. Oder die Provokationslust der Avantgarde, wenn sie die
Toleranz der Gesellschaft auf die Probe stellt. Die Skala reicht aber noch sehr viel weiter,
nämlich von der Fluktuation der elementaren Flächenquanten bis zur Abwandlung
ganzer Universen in schwarzen Löchern. Aufgrund der umgekehrten Proportionalität zwischen
Energie und Auflösung im Mikroskop wie im Teilchenbeschleuniger, sind das allerdings nur zwei Seiten einer Medaille. Hat der Gravitationskollaps ein Universum auf einen Ring vom
Durchmesser der Plancklänge im Bereich von zusammengeschnürt, prallt es
mit ein ganz klein wenig veränderten Naturkonstanten zurück und selektiert sich durch
seine eigenen Stabilitätsbedingungen.``
,,Und sie werfen mir Postmodernität vor!`` empörte sich der Trendforscher
lachend.
,,Ich argumentiere im Rahmen wohlverstandener science fiction. Mithilfe des
Darwin'schen Optimierungsverfahrens läßt sich jedenfalls rational verstehen, warum
unser Universum so ist wie es ist``, entgegnete sie und fügte hinzu: ,,Im
Gegensatz zu den postmodernen Esoterikern halte ich die Gestalten eben nicht für
obskure spirituelle oder geistige Gebilde. Vielmehr handelt es sich bei den Atomen,
Lebewesen und Universen um höchst materielle Energiegestalten, die als Wirkung gleichsam
ihr eigenes Zeitmaß mit hervorbringen. Und wenn das Zeitmaß zwischen Variation und
Selektion der Lebensformen in einer Gesellschaft nicht mehr stimmt, kommt es zur
Beschleunigungskrise, wie Peter Kafka es nennt. D.h. der im Kapitalismus
vorangetriebene gesellschaftliche Wandel erfolgt schneller als die Reproduktionszeit
der Individuen durch Erziehung und Bildung. Um den gesellschaftlichen Wandel zu
entschleunigen, fordert er ganz im Sinne sozialistischer Tradition eine Marktwirtschaft
ohne Kapitalismus. Erläuterungen dazu finden sie in ihrem Buch.``
,,Dann werde ich wohl weiterlesen müssen``, lenkte er ein; ließ aber seinen
Gedanken freien Lauf. Schönheit und Intellekt! So eine Frau durfte er sich nicht
entgehen lassen. Glücklicherweise hatte sie ihm eine Fülle von Anknüpfungspunkten
geboten. Nur nichts überstürzen! Verstohlen musterte er ihr Profil. Was war er doch
für ein Glückspilz, neben so einer Frau zu sitzen. Er hätte platzen können
vor Freude. Leicht würde sie es ihm nicht machen. Aber wer weiß: vielleicht brannte ja
Feuer unter'm Eis? Wie sich gelegentlich ihre zierliche Nase in Falten legte: entzückend!
Und ihre Sternenaugen Funken zu sprühen schienen: wie Wunderkerzen des Geistes! Unversehens
heftete sich sein Blick auf ihre Nippel, die sich Stempeln gleich auf seiner Netzhaut
abdrückten. Auch das Spiel der Geschlechter folgte den Regeln der Evolution. Die
Steinzeitmenschen hatten es leichter. Sie folgten schlicht ihrem Trieb.
Heutzutage bestimmte der Intellekt die Auswahl ... oder waren es eher Geld, Macht oder
Ruhm? Alles Quatsch! Wenn Männer nicht Sklaven der Schönheit sind, dann bleiben sie
den Schlüsselreizen ausgeliefert.
Suzanne blätterte weiter in Tonis Aufzeichnungen. Im Kapitel Verstand und Sprache hielt sie inne:
Das Paradox, das ich zunächst den Dummköpfen entgegenhalte, ist zweifellos amüsant.
Wißt ihr, weshalb ein Stein fällt?
Ja, weil er von der Erde angezogen wird.
Was heißt Anziehung?
Nach etwas streben, auf etwas gerichtet sein.
Wie nennt man: ,,auf etwas gerichtet sein``,
wenn es sich um die absteigende Senkrechte handelt?
Fallen.
Ein Stein fällt also, weil er fällt.
Sind sie nun mit sich zufrieden?
Sie stöhnte gedehnt. Typisch Philosoph! Eine empirische Frage wird in ein Sprachproblem
verwandelt, das dann paradox erscheint. Erst wird die Frage nach dem Weshalb in ein
Was heißt umformuliert und dann wundert man sich, wenn bloß eine Tautologie
herauskommt. Weshalb sich die Dinge anziehen, wird außerhalb der Umgangssprache
beantwortet, und zwar mittels mathematischer und experimenteller Beweisführung.
Das Geheimnis der Materialität der Dinge beruht auf dem Austausch von Gravitonen.
Alle Dinge sind letztlich Energiegestalten, die über Gravitonen miteinander wechselwirken.
Es ist die Energie, die in allem wirkt und alles schafft. Wer allerdings nicht über den
Tellerrand seines Sprachhorizonts hinausgeht ...
Ein Bildwechsel auf den Monitoren ließ sie zerstreut aufmerken.
Regina Ziegler
presents ...
The Waiting Room
...
A Jos Stelling Film
...
Suzanne lächelte belustigt als die Erinnerung an den gelungenen Kurzfilm in ihr
aufschien: Männerphantasien im Wartesaal. Eine heiter-ironische Vorführung des zivilisierten
Mannes: ganz ohne Worte. Gestik und Minenspiel, Blicke und Gebärden der Schauspieler tragen die
Handlung. Es darf gelacht werden über das ständige selbstgefällige Balzgehabe der
Männer. Wenn dann allerdings `mal eine attraktive Dame die Initiative ergreift, geraten
die Herren in heillose Verwirrung. Aus Jägern werden Gejagte. Sie schaute listig zu ihrem
Nebenmann. Fasziniert starrte er auf den Bildschirm. Da Suzanne nichts umter'm Rock zu tragen
pflegte, kam ihr ein amüsanter Gedanke ...
Der Lifestyler hatte sich entspannt zurückgelehnt. Es war ihm, als wollte sie zum Gang
durchgelassen werden. Da er nicht aufstand, stieg sie über ihn hinweg ... aber nicht ganz!
Auf halbem Weg hielt sie inne und drehte sich langsam zu ihm herum. Ihre gespreizten
Beine umschlossen seine Oberschenkel. Wie hypnotisiert legte er sanft seine Hände auf
ihre Waden und schob sie tastend nach oben. Sie nestelte an seinem Schritt und
fingerte seinen prallen Lustgriffel hervor. Seine Fingerkuppen strichen Federn
gleich über ihre Kniekehlen, so daß es ihr Schauer über die Haut jagte.
Während er an ihren Schenkeln emporstrich, schob sie ihr Becken vor und ging
behutsam in die Knie. Davon hatte er immer wieder geträumt: eine Frau im Minirock
ohne Höschen setzt sich einfach auf ihn! Er massierte ihren festen Arsch und sie
rieb gefühlvoll seine pulsierende Eichel an ihrer feuchten Lustperle. Ihre zaghaft
kreisenden Bewegungen gingen in ein leichtes Saugen über als ihre inneren Lippen seine
Schwellung umschlossen. Behutsam ging es Ab und Auf, Ab und Auf ... Als er sich
aufzublicken traute, gewahrte er die neiderfüllten, aber auch einverständigen Blicke
der Mitreisenden. Während sie sich an ihm rieb und lasziv anlächelte, bemerkte
er verwundert, daß er nur einem erotischen Kurzfilm zuschaute ...
Als Suzanne vom Klo zurückkam, war ihr Sitznachbar in eine entrückte Heiterkeit
versunken. Zufrieden lächelte er in sich hinein. Er brauchte einige Zeit bis er
sie bemerkte. Sein Ausdruck wechselte in grenzenloses Erstaunen. Mechanisch erhob er
sich, um sie wieder zu ihrem Fensterplatz durchzulassen. Ihr war nicht entgangen, daß sein
anderes Ohr tatsächlich das Frauensymbol zierte. War er vielleicht bisexuell? Noch immer
starrten die Fluggäste sie unverhohlen an. Die meisten hatten leicht verklärte Gesichtszüge.
Erinnernd die Älteren, sehnsuchtsvoll die in mittleren Jahren, voll zustimmender Anteilnahme
die Jüngeren. Die ganze Szenerie schien sich ins Unwirkliche zu verwandeln. Mit ironischem
Lächeln nahm sie Platz, schnallte sich wieder an und blickte auf. Über den Monitoren lief
der Vorspann des Hauptfilms. Das konnte doch nicht wahr sein! Noch ein filmästhetisches
Meisterwerk aus Holland: Antonias Welt
von Marleen Gorris
. Suzanne konnte es nicht
glauben. Befand sie sich im kulturellen Ausnahmezustand? War Hollywood unbemerkt pleite
gegangen? Oder überflogen sie bereits einen anderen Planeten? Sie griff zu den Ohrhörern
und tauchte in Antonias Welt ein: heiter-anteilnehmende Betrachtungen über das Leben und
leben lassen, wie sie wohl nur in der aufgeschlossenen Atmosphäre Hollands möglich sind.
Antonias Welt beginnt mit der bangen Erwartung der Urenkelin Sarah, wie das Wunder vom Tod
sich an ihrer geliebten Urgroßmutter vollziehen würde ...
Ja, es wird Zeit, daß ich sterbe.
In ihrer Erinnerung läßt Antonia noch einmal ihr Leben Revue passieren. Nach dem Krieg
kehrt sie mit ihrer Tochter Danielle aufs Land in den Schoß ihrer Familie zurück, um
ihre Mutter zu beerdigen ...
Ja, hier ist es.
Ins Leben werden wir geworfen. Den Ort des Fortgangs und sein Ende können wir selbst
bestimmen ... Die Utopie eines eigensinnigen Lebens ... In der Phantasie schafft sich
die Künstlerin Danielle immer wieder Szenen erfüllter Wünsche ... Sie wählt einen
stattlichen Kerl, um sich schwängern zu lassen. Nachdem sie einige Samenergüsse
empfangen hat, macht sie Kopfstand ... Ihre heranwachsende Tochter Therese erweicht das
versteinerte Herz des alten Freundes Antonias: krummer Finger. Gemeinsam philosophieren
sie in seiner Bücherstube ...
Was ist denn nun mit der Zeit? Machen wir die Zeit?
... Ja, jedes Lebewesen hat sein eigenes Zeitmaß.
Wir haben die Zeit erfunden.
Suzanne war vollends in Antonias Welt eingetaucht. Die Jahrszeiten wiederholten sich.
Selbstzufrieden pflanzte sich die Zeit fort, ohne jemals etwas anderes zu gebären als sich
selbst. Therese verstand nicht, warum die Menschen an Gott glaubten, ohne zu bedenken, wer
ihn gemacht hatte ... Sie war ungewöhnlich begabt und entwickelte gleichermaßen eine Liebe
zur Mathematik und Musik ... Das sophistische Geschwätz der Intellektuellen an der Uni
beleidigte ihre Intelligenz, ohne daß sie dafür körperlich entschädigt würde ... Den
ewigwährenden Reigen von Geburt und Tod setzte auch sie mit der Geburt einer Tochter fort,
die sie Sarah nannte. Der Nihilist krummer Finger zitierte Schopenhauer: Die Welt ist
eben die Hölle. Und die Menschen sind die gequälten Seelen und Teufel darin. Er verstand
nicht, wie man ein Kind einer solchen Welt aussetzen konnte. Das allerbeste ist, nicht
geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein ... Auch krummer Finger bestimmte sein
Lebensende selbst. Er wollte vor allem nicht mehr denken. Folgerichtig erhängte er sich ...
Es gibt aber nichts, was für immer stirbt, erläuterte Antonia ihrer Urenkelin.
Es bleibt immer etwas zurück, etwas winziges, das den Keim zu neuem Leben trägt ...
Der Abspann des Films trug Suzanne auf dem Klangteppich des Soundtracks fort aus der
überschaubaren Welt des Landlebens in die internationale scientific community.
Deren Zusammenhang wurde nicht mehr durch die Jahreszeiten und die Geborgenheit in der
Großfamilie bestimmt. Das Internet stellte eine virtuelle Gemeinschaft der Wissenschaftler
her, die gelegentlich auf Konferenzen und durch Forschungsaufenthalte
um persönliche Kontakte bereichert wurde. Der Wissenschaftsbetrieb
war ihr zur Lebensform geworden, die in ihrer Vision zum Modell der Weltgesellschaft taugte.
Nirgendwo sonst kam man der idealen Sprechsituation
näher, um den traditionellen
Idealen der Klarheit und Wahrheit, Freiheit und Gleichheit verhaftet zu bleiben.
Der kritische Rationalist Hans Joachim Niemann
hatte die Strategie
der Vernunft auf den Punkt gebracht: Finde heraus, worin genau dein Problem besteht,
und suche unparteiisch nach der bestmöglichen Lösung. Auf die Genauigkeit der
Situationsanalyse kommt es an, nicht auf das dogmatische Geschwafel ideologischer oder
religiöser Besserwisser. Die Unparteilichkeit fand ihren Ausdruck in den Invarianzforderungen
wissenschaftlicher Theorien. Ganz so wie die Unabhängigkeit physikalischer Formeln oder
Experimente vom Bezugssystem in den Relativitätstheorien. Und die Optimierungsverfahren
Boltzmanns und Darwins sicherten bestmögliche Annäherungen an optimale Problemlösungen.
Quantitative Näherungsverfahren waren allerdings sehr viel schwieriger zu entwickeln als
die bloß qualitative Schwarz-Weiß-Malerei der Fundamentalisten ...
,,Was möchten sie essen?`` Langsam bahnte sich die Frage der Stewardess ihren
Weg in Suzannes Bewußtsein, aber nur akustisch, nicht semantisch. ,,Wie bitte?``
,,Sie können wählen zwischen Fleisch, Fisch oder Gemüse.`` ,,Gemüse``,
brachte Suzanne noch leicht benommen hervor und nahm die Ohrhörer ab. Der Lifestyler
trank Weißwein zum Fisch: Matjesringe und Lachsröschen. Er schien seine Fassung
wiedererlangt zu haben. Verschmitzt schaute sie ihn an und sagte bestimmt: ,,Meine
Trendprognose für das Jahrhundert lautet: Die Zukunft gehört der Frau!``
,,Da könnten sie recht haben``, entgegnete er gelassen und hob sein Glas:
,,Auf die Frau!`` Sie erwiderte sein Lächeln und stieß mit ihm an.
Das ermunterte ihn dazu, sich vorzustellen: ,,Ich heiße Adam und bin mehrere
Zehntausend Jahre alt.``
,,Mein Name ist Eva``, fiel sie lachend ein und fuhr betont ernst fort:
,,Die männliche Variante der Frau hat heute allerdings ausgedient. Eva ist bereits
in der Lage, sich vollkommen selbst zu reproduzieren. Schon Jesus mußte eine Frau gewesen
sein, wenn er tatsächlich durch Jungfernzeugung
zur Welt gekommen sein sollte ... ``
Adam ging darauf ein und begann, sie beiläufig zu duzen: ,,Spinnen wir den
Gedanken ein wenig fort. Dir schwebt die Perspektive einer reinen Frauengesellschaft vor?
Ich vermute allerdings, daß sich ein Großteil der Frauen Männer zumindest als Lustknaben
halten werden.``
,,Und ich denke, allenfalls im Zoo wird Eva noch Exemplare Adams beherbergen wollen``,
setzte sie sarkastisch einen drauf.
,,Dann wird es zumindest für eine gewisse Übergangszeit unverbesserliche
Weibchen geben, die es immer wieder zu den Männchen hinter den Gittern treiben wird``,
sponn er ironisch belustigt weiter. ,,Die archaischen Paarungsrituale werden sich nicht
so schnell überwinden lassen.``
,,Da magst du recht haben. Langfristig wird sich aber durch Eingriffe ins Erbgut
oder mittels gezielter Selektion ein rein weiblicher Mensch verbreiten, der vom Mann
mindestens so weit fort entwickelt sein wird wie der gegenwärtige Mensch vom Affen.``
Er nahm schmunzelnd eine distanziert anthropologische Haltung ein: ,,Eine interessante
Perspektive feminaler science fiction. Aber was soll das genauer heißen?``
,,Mensch und Affe trennt doch im wesentlichen bloß die Sprache.
Deshalb wird auch der nächste Entwicklungsschritt in der Kommunikation
erfolgen, gleichsam eine neue Bedeutungsebene erklommen.``
,,Aber den Anfang unserer Kultur bildete die Tat, nicht das Wort.``
,,Dem will ich gar nicht widersprechen. Ist aber einmal das Handeln sprachlich
ausdifferenziert, gibt es kein Zurück mehr. Schließlich ist ja auch das Sprechen
stets ein Handeln. Und Sprachkompetenz wie Einfühlungsvermögen sind bei Frauen ausgeprägter
als bei Männern. Unter der Herrschaft der Männer bangten die Mädchen um ihre
Jungfräulichkeit und die Jungen um ihr Selbst. In der feminalen Gesellschaft wird
es beide Ängste nicht mehr geben. Und der elektronischen Vernetzung zur Weltgesellschaft wird
die quantenmechanische Verschränkung zum kosmischen Bewußtsein folgen ... ``
In ihrer Begeisterung waren die Gedanken mit Eva durchgegangen. Kopfschüttelnd nahm Adam
von Wein und Fisch. Eva schälte mit Appetit eine Blume vom Kohl und trieb die Provokation
auf die Spitze: ,,Jedenfalls halte ich Adam bloß für eine Übergangsform zwischen
Mensch und Tier. Ein Auslaufmodell auf dem Weg in eine humane Gesellschaft. Im Gegensatz
zum gewaltsamen Urputsch der Männer im Neolithikum wird der Übergang in das Feminalstadium
der Menschheit allerdings sehr viel subtiler verlaufen und den grobschlächtigen
Tatmenschen und Analytikern verborgen bleiben. Nur wer den synthetischen Blick für
den Sinnzusammenhang des Ganzen erlangt, wird die neue Zeit heraufziehen sehen.``
,,Erlösungswünsche und Aberglaube waren im Mittelalter genauso präsent wie heute
die Medienillusionen der virtuellen elektronischen Welten. Die Macht der Symbole nimmt
ständig zu. Der Stil des Lebens ist wichtiger als das Leben selbst geworden. Vergleich
doch nur mal die Entwicklung von der Kommune I zum Big Brother Container. Im Container
ging es schlicht um die Wiederholung der Alltagsbanalität. Die Schrumpfgestalt des
Konsumenten wurde gefeiert, die Gesellschaft als Freizeitpark organisiert. In der
Kommune I
dagegen wurden neue Lebensformen ausprobiert, das Reich der Möglichkeiten ertastet. Es
ging darum, die Ketten der autoritären Kleinfamilie zu sprengen. Theorien wurden als
praktische Anleitungen zur Verbesserung der Lebensverhältnisse verstanden.``
Adam und Eva lächelten sich vielsagend an. Hatten sich ihre Ansichten angeglichen
oder redeten sie mit gleichen Worten, aber verschiedenen Bedeutungen? Was war mit ihnen
geschehen? Schweigend und nachsinnend wandten sie sich ihren Mahlzeiten zu. Das
Bordpersonal begann bereits mit dem Servieren des Desserts.
,,Für die hübsche Uschi Obermaier
hatte
der Kommunarde Rainer Langhans
sogar die Revolution verraten``, nahm Suzanne den Faden wieder auf. Es schien ihr
an der Zeit, sich nun wirklich vorzustellen: ,,Ich heiße übrigens Suzanne und
bin Physikerin.`` Sie hatte sich bemüht, einen weichen Klang in ihre Stimme
zu legen.
Adam schaute sie an. Ihr kesses Lächeln widerprach der versöhnlichen Stimmlage. Wie sollte er daraus schlau werden? Ihr zierlicher Mund, die süße Stupsnase, ihre dunklen Sternenaugen ... beinahe hätte ihr Liebreiz ihn überwältigt und er ihr ins Ohr geflüstert: ,,Suzanne, du bist nicht nur hübsch, sondern schön ... `` Mannhaft widerstand er der Versuchung und sagte bloß betont lässig: ,,Die Kommune konnte noch verraten werden, der Container nicht mehr. Die Kommune wollte das Establishment provozieren, der Container repräsentierte es nur noch. Selbsterkenntnis und Gesellschaftsanalyse wurden durch Geldgier und Ruhmsucht ersetzt.
Dies war aber nur die Mainstream-Variante der Kommune. Unterdessen haben sich einige
Frauen
um
den Ex-Kommunarden Rainer Langhans in einem Harem
organisiert. Sie nennen es ein Experiment
mit dem letzten APOnauten
.
In der Zukunftsbibliothek meines Kollegen Matthias Horx
haben die Zwillinge Gisela und Jutta
ihre Vorstellungen
von FutureSex zu formulieren versucht. Nachdem Uschi sich in die Außenwelt davon gemacht
hatte, begab Rainer sich auf den Weg in die Innenwelt. Bis heute arbeitet er an seiner Wandlung
zur arischen Lichtgestalt. Und die german twins reden in Talkshows der Spiritualisierung
und Astralisierung des Sex das Wort. Damit ließe sich die alte Hippie-Parole variieren:
make love, not sex. Ein Motto, wie es auch vom Papst verkündet werden könnte.``
Es kam Freude auf. Nach einer Pause fragte sich Suzanne laut: ,,Sind nicht die Konsumidiotie
im Container und der Spiritualitätswahn im Harem zwei Seiten einer Medaille?`` Sie behielt
Adam fest im Blick. Hatte sie sich ein falsches Bild von ihm gemacht oder wollte er sich nur
ins rechte Licht rücken? ,,Wer mit seinen übervereinfachten Lebensauffassungen an der
Alltagsrealtität scheitert, verfällt der Banalität des Konsums oder sucht sein Heil in
der Einfältigkeit der Religion.``
,,Die Kommunarden folgten der kritischen Theorie, die Behälterbewohner dem Mammon und
die Haremsfrauen beten ihre Lichtgestalt an. Hast du denn eine Theorie in der Misere parat, die
beide Seiten der Medaille umfassen könnte?`` fragte er harmlos.
Obwohl ihr etwas unbehaglich wurde, nahm sie souverän seinen Fehdehandschuh auf:
,,Im Rahmen der Eichtheorien fundamentaler Wechselwirkungen sind natürlich auch
schon physikalische Geldtheorien
entwickelt worden. Den Energieflüssen entsprechen darin die Geldströme und den Eichfeldern
die Werteerwartungen der Börsenkurse. Je mehr Freiraum für eine selbstbestimmte Lebensgestaltung
ausgeschöpft werden kann, desto probabilistischer wird die Gesellschaftstheorie: wie für die
Kommune. Auf Menschen, die nur noch mit dem Strom schwimmen und bloß nach Geld und Ruhm
streben, wird eine nahezu deterministische Sozialtechnologie anwendbar: wie im Container.
Das gleiche gilt für die Illusionen der Religion, dem klassischen Opium nicht nur für das
Volk, sondern wohl auch für den Harem. Schon aus wenigen plausiblen Annahmen über die Paarwechselwirkungen
lassen sich innerhalb der statistischen Physik von Vielteilchensystemen die typischen Polarisierungen
in menschlichen Gesellschaften verstehen. Der Rahmen der statistischen Physik ist natürlich weit genug,
sowohl kritische Gesellschaftstheorie als auch affirmative Sozialtechnologie zu umfassen.``
Suzanne lehnte sich genüßlich zurück und grinste Adam unverhohlen an.
Er nahm es gelassen hin. Einer Avantgardistin konnte man nichts vormachen. Fürs erste
streckte er die Fahne und empfahl sich. Schmunzelnd stand er auf und ging in Richtung
Klo davon.
Suzanne schaute seiner schlanken Gestalt nach, die ein heller Leinenanzug umhüllte. Unsere Eva orderte ein Glas Sekt und griff nach Adams Buch Hans-Peter Dürrs. Mal sehen, was der Grundlagenforscher und Politökologe über seine Vorstellungen von einer zivilen Gesellschaft schrieb. Er begann mit einem neuen Weltbild: Leben basiert nicht auf anderer Materie, sondern ist Ausdruck nomaler Materie, die eigentlich keine Materie ist, sondern die das Wesentliche, was das Lebendige ausmacht, im Grunde schon hat. Dieses Wesentliche, das Potenzielle, lässt sich wohl besser mit dem Geistigen als dem Materiellen, dem Realen, charakterisieren. Dieser geistigen Struktur ist eigen, dass sie nicht nur im Wesentlichen indeterminiert ist, sondern dass sie im Grunde unauftrennbar eine Einheit bildet. Die Wirklichkeit und in ihr das Biosystem bildet ein innig verwobenes Ganzes, das nur in einer Vergröberung als aus Teilen bestehend betrachtet werden kann.
Das waren Gedanken, die mit der Quantentheorie Einzug in die Physik hielten. Danach war jede Zerlegung des potentiellen Ganzen in seine experimentell wirkenden Bestandteile prinzipiell nur näherungsweise möglich. Und die Planckkonstante bestimmte das minimale Quantum der Wirkungsübertragung in den fundamentalen Wechselwirkungen der Elementarteilchen. Was bedeutet das? fragte sich Hans-Peter ein paar Seiten weiter: Wir haben eine Umkehrung: Das Primäre ist Beziehung, der Stoff das Sekundäre. Materie ist ein Phänomen, das erst bei einer gewissen vergröberten Betrachtung erscheint. Stoff ist geronnene Form. Vielleicht könnten wir auch sagen: Am Grunde bleibt nur etwas, was mehr dem Geistigen ähnelt - ganzheitlich, offen, lebendig: Potenzialität. Materie ist die Schlacke dieses Geistigen - zerlegbar, abgeschlossen, determiniert: Realität. In der Potenzialität gibt es keine eindeutigen Ursache-Wirkungs-Beziehungen. Die Zukunft ist im Wesentlichen offen. Es lassen sich für das, was verschlackt, was real passiert, nur noch Wahrscheinlichkeiten angeben. Es gibt keine Teilchen, die unzerstörbar sind, die mit sich selbst identisch bleiben, sondern wir haben ein feuriges Brodeln, ein ständiges Entstehen und Vergehen. Von der Potentialität war es für Dürr nur ein kleiner Schritt zur Esoterik: Alles wurzelt in einer unauftrennbaren Potenzialität, die Züge eines holistischen Geistes trägt.
Was sollte dieser Abflug ins Spirituelle? Oder wollte sich der Autor nur den wissenschaftsfeindlichen Politökologisten empfehlen? Darüber mußte sie unbedingt mit ihm auf der Konferenz sprechen. Ihr ging das entschieden zu weit: Die unbelebte und die belebte Natur basieren auf derselben Art von Prä-Materie, die im Grunde, wie uns die moderne Physik lehrt, eigentlich keine Materie ist, sondern einer viel offeneren und gewissermaßen lebendigen Dynamik folgt. Potentialität, das Erwartungsfeld von Möglichkeiten, die Möglichkeitsgestalt sollte reine Gestalt, Beziehungen ohne materiellen Träger sein? Ein Lächeln ohne Gesicht gibt es nur bei Alice im Wunderland. Als Beispiel führte Dürr das elektromagnetische Feld an, das angeblich ohne materiellen Träger den Raum erfüllte. Dabei hatte Einstein schon 1905 gezeigt, daß elektromagnetische Felder aus elementaren Energiepaketen, den Photonen, bestehen. Und 1916 hatte Einstein dann mit seiner berühmten Feldgleichung den Zusammenhang zwischen Energiedichte und Raumzeit-Struktur formuliert. Die elementaren Energiepakete des Gravitationsfeldes, die Gravitonen, konnten als Träger der Raumzeit-Struktur selbst angesehen werden. Raum, Zeit, Materie gehörten fortan untrennbar zusammen. Gleichwohl neigten Theoretiker angesichts der formalen Schönheit der mathematischen Gleichungen physikalischer Sätze dazu, die Existenz mathematischer Strukturen als Ausdruck des ,,reinen Geistes`` zu interpretieren. Schon Heisenberg, den Begründer der abstrakten Quantenalgebra, hatte die platonische Auffassung in ihren Bann gezogen, mathematische Gegenstände als ideale Formen zu deuten.
Entnervt legte Suzanne das Buch beiseite und blickte hinaus in die helle Weite des
Firmaments. Mußte man den Geistergläubigen in der Ökologiebewegung so viele
Zugeständnisse machen? Wie kamen die Menschen immer wieder dazu, ihr ach so fragiles
und flüchtiges Bewußtsein derart zu überschätzen? Die Menschen jetten um die Welt
und wenn `mal `was schief geht, jammern sie in Trauergottesdiensten ihrem ,,Herrn``
`was vor. Anstatt sich einmal die Außenbedingungen in Höhe klar zu machen.
Dort draußen war es recht ungemütlich. Die Temperatur
lag bei -55oC, der Druck betrug etwa . Einige Minuten ohne Atmung und der
Mensch verliert sein Bewußtsein. Den freien Fall zur Erde wird er nicht mehr erleben.
Und nach der Zerstörung seines Gehirns beim Aufprall wird er sein Bewußtsein
auch nie wieder erlangen, handelt es sich doch lediglich
um das Selbsterleben des Gehirns. Vor unserer Zeugung und nach unserem Tod gibt es uns
einfach nicht. Eine Einsicht, die den meisten Menschen wohl unerträglich scheint. Zum
Trost erfinden sie sich Geister und Götter, die sie neuerdings Möglichkeitsgestalten
oder Erwartungsfelder nennen und auf ,,rein`` mathematische Strukturen reduzieren.
Wie konnte man nur die Power in den Energiegestalten der Materie ignorieren; die kosmische
Energie der Sonne, die im Öl gespeichert auch den Triebwerken dieses Riesenvogels den
nötigen Schub verlieh ...
,,Hat dir das Essen nicht geschmeckt?`` hörte sie von Ferne Adam fragen.
Suzanne wandte langsam ihren Blick aus der Weite des Himmels in die Nähe ihres
Sitznachbarn, der sie frisch anlächelte und nach Gesichtswasser duftete. ,,Du bist
schon eine merkwürdige Verwirklichung menschlicher Möglichkeiten``, fuhr er fort.
,,Wie beredt dein schweigendes Antlitz ist. Unwohlsein und Unbehagen haben sich in
Erstaunen und Ungläubigkeit gewandelt, in denen Empörung und Entrüstung
mitschwingen. Ich denke allerdings nicht, daß ich dein Erleben moduliert habe.``
Ihr Gesicht hellte sich auf, was er als Ermunterung verstand. ,,Mich hat beeindruckt,
wie du meine Ahnungen vom Gespür einer Situation in einen geradezu kosmischen
Zusammenhang verwoben hast.`` Er schaute sie unbefangen und erwartungsvoll an.
Suzanne griff lächelnd nach ihrem Glas: ,,Auf den kosmischen Zusammenhang.``
Prikkelnd perlte ihr der Sekt hinunter. ,,Ich hatte gerade an die maßlose
Überschätzung des Bewußtseins gedacht, auch unter den theoretischen Physikern ... ``
,,Überschätzung des Bewußtseins?`` hob Adam erstaunt an.
,,Aber darüber hinaus haben wir doch überhaupt nichts! Unser Bewußtsein ist
gerade das, was uns zum Menschen macht. Es umfaßt die gesamte Welt unseres Regens und
Erlebens. Philosophisch betrachtet, kennen wir genau genommen nur unsere Bewußtseinsinhalte.
Alles was darüber hinaus geht, ist Spekulation.`` Damit hatte er ihre Nase wieder
vorsätzlich in Fältchen gelegt.
,,Nun werd' doch nicht kindisch und spiel versteck, indem du die Augen schließt.
Unser Regen und Erleben ist immer zugleich innen- wie außenbezogen. Wozu hätten wir sonst Sinne
und Motorik? Und wozu der Verrechnungsaufwand, den das Gehirn ständig betreibt, um z.B. unser
Raumerleben konstant zu halten, obwohl wir den Kopf bewegen?``
,,Das Gehirn konstruiert seine eigene Welt. Schließlich sind die Nervenimpulse
überall gleich, egal ob es sich um sensorich, motorisch oder zentral verarbeitete
Signale handelt.``
Suzannes Ausdruck verdüsterte sich mit einem Anflug von Mitleid. ,,Nun langweile
mich doch nicht mit radikal-konstruktivistischem Geschwafel! Sag bloß, du hast nie
in ein Physiologiebuch geschaut? Selbstverständlich werden alle Signale im Gehirn
in gleicher Weise frequenzmoduliert; genauso wie beim UKW-Radio. Das ist natürlich nur
möglich, weil wir in einem einheitlichen Feld von Energiequanten agieren, wobei
unsere Sinne dem Hirn die verschiedenen Reizmuster als Aktionspotentiale verfügbar machen.
Den zentralen Projektionszentren ist dabei natürlich bekannt, woher die Reize jeweils kommen,
da sie ortsgebunden weitergeleitet werden. Nehmen wir ein Beispiel: Die Lichtquanten der
Sonnenstrahlung gelangen durch das Fenster auf meine Nase, werden dort teils reflektiert,
teils absorbiert, treffen in deinem Auge auf die Netzhaut, lösen je nach Frequenz und
Anzahl einen Farb- und Helligkeitsreiz aus, der ortsbezogen und frequenzmoduliert nach
mehrfacher Vorverarbeitung in deinem visuellen Projektionszentrum ein Bild generiert,
das in Verbindung mit vielen anderen Reizen zu deinem Bewußtseinsinhalt beiträgt.``
,,Und dort Wohlgefallen auslöst``, sagte Adam versöhnlich.
,,Auch ein energiebasierter Zustand, der sich im Laufe der Evolution zwischen den Geschlechtern als vorteilhaft erwiesen hat``, ging sie auf seinen Wechsel der Bedeutungsebene ein. ,,Wir leben in einem vielschichtigen energetischen Wirkungsgefüge. Je zwei Schichten lassen sich analytisch nach Form und Inhalt trennen, ohne aber tatsächlich ganz voneinander geschieden werden zu können. Es bleibt immer eine Verbindung und mag sie auch noch so schwach sein. Nur indem wir fiktiv von der jeweils unterliegenden Ebene absehen, gelangen wir zu den Einseitigkeiten der geistergläubigen Philosophen und Theologen. Ökologen nennen eine Überdüngung, die alles höhere Leben in einem Biotop zerstört, Hypertrophie. Linguisten bezeichnen eine ähnliche Situation innerhalb unserer Sprachspiele als Hypersemiose. Das Wuchern bedeutungslosen Geschwafels ist in den Geistes- und Sozialwissenschaften leider weit verbreitet. Man könnte an semantische Umweltverschmutzung denken.``
Suzanne sah unseren Lifestyler aufsässig an. Sie hatte sich richtig in Rage geredet. Aber das
hohle Gelaber über Dinge, die es überhaupt nicht gibt, regte sie immer wieder auf. Adam schaute
leicht verblüfft drein. Sie war wohl übers Ziel hinaus geschossen. Beruhigter fuhr sie fort:
,,Jeder Mensch verliert täglich beim Einschlafen
sein Bewußtsein. Den meisten unserer Artgenossen ist auch klar, daß sie nach einigen Minuten
ohne Atmung ins Koma fallen. Atmung heißt aber nichts anderes als Energieaustausch mit der
Umgebung, indem energiereicherer Sauerstoff aufgenommen und energieärmeres Kohlendioxid
abgegeben wird. Mir ist schleierhaft wie man so ignorant sein kann ... ``
,,Vielleicht weil Menschen manchmal aus dem Koma wieder erwachen``, fiel Adam ein.
,,Aber doch nur, wenn sie künstlich beatmet und ernährt wurden.`` Suzanne beschlich
das Gefühl, es mit einem Vormenschen zu tun zu haben.
,,Und wenn im selben Körper ein neuer Geist erwacht wie bei Katharina Beta? Die Frau erlitt
bei einem Autounfall ein Schädel-Hirn-Trauma mit Totalamnesie. Wurde ihr nicht ein zweites
Leben zuteil?``
,,Ein faszinierender Fall, in der Tat! Aber worauf willst du eigentlich hinaus? Daß dem
Körper erneut ,,göttlicher Odem`` eingehaucht wurde, ein Leben nach dem Tod möglich war?
Das sind doch alles nur Metaphern, wenn nicht hohles Gerede``, ereiferte sich Suzanne erneut.
,,Leider haben wir noch keine naturwissenschaftliche Theorie des Bewußtseins. Wir wissen
aber, daß unserem Gehirn ein hohes Maß an Ausfallsicherheit und Plastizität eigen ist. Die
Frau wurde nicht neu geboren, das Gehirn generierte vielmehr ein neues Bewußtsein, ganz so wie
beim Kind. Und so ähnlich beschreibt Katharina auch ihr Erwachen aus dem Koma. Sie fühlte sich
wie aus dem Wasser geboren; eine schöne Metapher für die frei fluktuierenden Energiequanten.
Die Differenzierung beginnt mit wirren Licht- und Schalleindrücken, mit Schmerz und Wohlgefühl,
dem Gewahrwerden des eigenen Körpers, der Umgebung ... `` Suzanne hielt inne und
vergegenwärtigte sich das Erwachen ihres eigenen Bewußtseins. ,,Wenn ich
so zurückdenke, ging es mir ganz ähnlich. Meine frühesten Erinnerungsfetzen sind schemenhafte
Gestalten über meinem Bett und schallende Töne, wenn ich unter Erwachsenen war. Ich verstand
nichts, wunderte mich aber frühzeitig darüber, wie wohl die Erwachsenen sich verstanden.
Schließlich äußerten sie sich alle völlig verschieden, laut und leise, hoch und tief,
schnell und langsam ... ``
,,Das ist doch genau der Punkt, an dem sich sprachliches Zeichen und physikalisches Signal
trennen. Du hörtest nur Signale, ohne Zeichen zu erkennen. Dir entgingen die Bedeutungen!``
warf Adam erregt ein, indem er das letzte Wort besonders betonte. Laut und deutlich erhob er seine
sonore Stimme, so daß viele Mitreisende aufmerkten: ,,Es sind die Bedeutungen, die den Geist
generieren!``
Suzanne hätte aufschreien können ob seiner Ignoranz! Hörte er ihr überhaupt zu und suchte sie
zu verstehen? Sie fühlte sich ins philosophische Seminar versetzt, gefangen im Kreise von
Schamanen und Geisterbeschwörern. Sollte sie damit weiter ihre kostbare Lebenszeit verschwenden?
Lediglich seine wohlklingende Stimmlage hielt sie davon ab, das Gespräch zu beenden. Tiefseufzend
hob sie an: ,,Da müssen wir wohl wieder von vorn anfangen. Signal- und Bedeutungsschicht
sind nicht gänzlich voneinander trennbar. Wie gesagt, es bleibt immer eine Verbindung.
Bedeutung können wir den Signalen nur deshalb beilegen, weil ihre Energiequanten auch
Eigenschaften der Außenwelt transportieren. Es sind die Photonen des elektromagnetischen
Spektrums, die z.B. unseren Körper wärmen und uns ein Bild der Außenwelt vermitteln.``
Suzanne wandte ihr Gesicht dem hellen Fenster zu und schloß die Augen im wohligen Sonnenschein.
,,Die Infrarot-Strahlung der Sonne reizt nicht nur meine Thermorezeptoren, sondern läßt
zugleich Rückschlüsse auf ihre Herkunft zu. Ebenso verhält es sich mit dem sichtbaren
Sprektrum des Sonnenlichtes. Nur indem es in der Retina Elektronen freizusetzen vermag,
kann das Gerhirn daraus Ströme generieren, die mehrschichtig vernetzt, aus den Signalen
die Bedeutungen und aus diesen wiederum den Sinn generieren. Auf jedem Entwicklungsniveau
wird die Zahl möglicher Energiegestalten variiert. Beim Sprechen werden aus der Fülle
artikulierbarer Laute vergleichsweise wenige Worte gebildet, die stellvertretend als Zeichen für
Dinge unserer Umgebung stehen. Das Wort ,,Sonne`` z.B. steht für den blendenden und
wärmenden Feuerball am Tageshimmel. Die Energiepakete des artikulierten Lautes Sonne, ein
Phononenfeld, repräsentieren das sichtbare Photonenfeld der Sonne ... ``
,,Und die Zuordnung zwischen beiden?`` warf Adam fragend ein.
,,Erfolgt in unserem Bewußtsein auf der Grundlage des Hirnstoffwechsels. Es gibt keine
energiefreien Beziehungen. Alle Wechselwirkungen erfordern einen minimalen Austausch von
Wirkungsquanten. Das gilt auch für alle Verweise zwischen Handlungsschemata und
Handlungsvollzügen im Rahmen der Gebrauchstheorie der Bedeutung.``
,,Dann ist unser Bewußtsein für dich tatsächlich nicht mehr als ein Energiefeld?``
bohrte Adam ungläubig weiter.
,,Ein hirnorganisiertes Energiefeld; so könnte man es nennen. Geist und Materie sind
gleichsam nur die zwei Seiten der einen Energiemedaille. In schwach gebundener, flüchtiger
Form könnte Energie als ,,Geist`` aufgefaßt werden, ganzheitlich, offen, lebendig:
Potentialität. Je stärker die Energiequanten sich binden, desto materieller wirken sie,
sind zerlegbar, abgeschlossen und determiniert wie in der Alltagsrealität. Wieso erstaunt dich
das so? Ein materieller Monismus ist dir doch nicht fremd; denn er vermeidet ja das kategoriale
Grundproblem, wie ,,wesensfremde`` Bereiche andernfalls aufeinander einwirken
können sollten.`` Suzanne schaute unseren Philosophen mit großen Sternenaugen an. Er drohte
von ihnen aufgesogen zu werden wie die Materie durch den Strudel eines schwarzen Loches.
Mein Gott, ist sie schön! Adam hatte Mühe, nicht in sie hineinzustürzen.
Eva wußte natürlich um ihre Wirkung und lächelte feinsinnig. Er konnte sich gar
nicht an ihr sattsehen. Langsam und konzentriert fand er die Worte wieder: ,,Es ist
die Energie, die in allem wirkt und alles schafft. Auch das Bewußtsein ist Energie,
nämlich ein hirnorganisiertes Energiefeld. So deine Thesen.`` Die beiden hatten
sich nach wie vor im Blick. Eva nickte leicht. Nach einer bedeutungsschwangeren Pause
fuhr er fort: ,,Im Unterschied zu den luftigen Energiegestalten unseres Bewußtseins,
ist das Gehirn selbst schon wesentlich dichter, aber noch immer recht weich, warm und
feucht. Und eingebettet ist es in einem harten und trockenen Schädel. Könnte man die
verschiedenen Energiegestalten vielleicht mit den Aggregatzuständen vergleichen? So
wie Wasser als Dampf herumwabert, als Flüssigkeit strömt und wirbelt und im Eis zu
festen Kristallen erstarrt?``
Adam und Eva sahen sich forschend an. Woher kam plötzlich sein Verständnis für sie?
Gehörte sein Schwanken zwischen Provokation und Einfühlung vielleicht zu einer Strategie,
sie aus der Reserve zu locken? Sie beschloß, sich nicht aufs Glatteis führen zu
lassen: ,,Die Bildung von Eiskristallen ist ein gutes Beispiel dafür, wie Ordnung
aus dem Chaos entsteht. Oberflächlich betrachtet, könnte man ein Wunder vermuten. Als
Kind habe ich häufig im Winter auf dem Lande bei meiner Oma fasziniert die Eisblumen
bewundert, die über nacht aus der Luftfeuchte auf den Fensterscheiben gewachsen waren.
Sie schienen aus dem Nichts zu kommen. Später verstand ich dann, daß sie allein aufgrund
der elektromagnetischen Wechselwirkung zwischen den Wassermolekülen in Verbindung mit
geeigneten Randbedingungen entstehen. D.h. aus dem Zusammenspiel vieler vergleichsweise
einfacher Teile kann ein kompliziertes Ganzes hervorgehen. Ähnlich ist es in
unserem hochkomplexen Hirn, das aus dem Zusammenwirken vieler einzelner Nervenzellen
besteht. Im Gegensatz zur elektromagnetischen Wechselwirkung zwischen den Wassermolekülen
bei der Eisbildung ist es im Gehirn die flexible Verschaltung, Bahnung und Gewichtung
der Reizleitung zwischen den Neuronen, die in den Sinnesorganen und Projektionszentren zu
Strukturbildungen führen. Hermann Haken hat im Rahmen der Synergetik zeigen können, daß
es auch innerhalb der Hirntätigkeit sogenannte Ordnungsparameter gibt, die es dem Hirn
erlauben, aus einer Vielzahl von Sinneseindrücken, Muster zu bilden bzw. wiederzuerkennen.
Etwa beim Sehen eines Gesichtes oder beim Hören einer Stimme unter verschiedenen
Umweltbedingungen. Musterbildung und Mustererkennung sind dabei wieder nur zwei Seiten
einer Medaille. D.h. das Gehirn erkennt Muster, indem es sie nachbildet und mehr oder
minder weit zur Deckung bringt mit den Reizmustern der Sinne oder der Motorik. Dieses
Mehrebenenspiel zwischen Entstehen und Vergehen reicht von den Aktionspotentialen und
Neurotransmittern bis hin zu den Handlungsschemata der Sprache. Die Details physikalischer
Hirnforschung sind mathematisch und experimentell sehr anspruchsvoll. Gleichwohl kommt man
dabei ohne jeden Wunderglauben aus.``
,,Wenn ich dich recht verstanden habe``, versuchte Adam Anschluß zu halten,
,,dann ist zwar alles Energie, aber auf jeweils unterschiedlichem Organisationsniveau.
Auf der unteren Ebene sind die Beziehungstrukturen dabei stark, innerhalb der höheren
Schichten zunehmend schwächer energievermittelt. Ist es also letztlich bloß die
Quantität, die den Strukturreichtum der einen Qualität bestimmt? Verbinden sich so
Zahlenmystik und Einheitssehnsucht? Fällt Aufklärung in Mythologie zurück?``
,,Weniger hochtrabend ausgedrückt, wird die Wissenschaft immer zwischen Spekulation
und Beweis, Phantasie und Kalkül schwanken. Nicht Zahlenmystik und Einheitssehnsucht
bestimmen die Grundlagenforschung, sondern Mathematik und Physik. Das Bewußtsein umfaßt
die ganze Bandbreite der Zustandswahrscheinlichkeiten von nahe Null bis fast Eins. Die
Vagheit unseres Erlebens und Regens löst den Widerspruch zwischen Vorhersagbarkeit
und Vorherbestimmtheit in den Handlungsvollzügen. Es unterfällt damit auch dem
evolutionstheoretischen Grundprinzip, wonach Leben Problemlösen ist.``
,,Das wird ja richtig spannend``, freute sich unser Trendforscher.
,,Durch die Metaebene des Reflektierens erschließt das Gehirn uns mit dem
Bewußtsein einen Möglichkeitsraum für zukünftiges Handeln. Damit dürften nicht
nur Widersprüche auf der Objektebene aufgelöst worden sein, sondern so etwas wie
Sozialität oder Zwischenmenschlichkeit überhaupt erst möglich geworden sein. Denn
Einfühlung setzt das Erwägen von Wahrnehmungs- und Handlungsalternativen voraus.``
,,Und genauso verhält es sich mit deinem Spürsinn``, ergänzte Suzanne
einverständig. ,,Während wir bewußt Handlungsalternativen durchspielen, nimmt
unser Hirn unbewußt Kontakt mit seiner näheren und weiteren Umgebung, unserem Köper, auf.
Dessen Rückmeldungen können dann zu einer gefühlsgewichteten Bewertungsfunktion der
Handlungsalternativen führen. Das, was du Situationsgespür nennst.``
,,Da sollten wir doch gleich noch `mal auf das Gespür anstoßen.`` Adam und
Eva prosteten sich zu. Wie gern hätte er sie freudig in seine Arme geschlossen und fest
an sich gedrückt.
Wissend lächelnd schaute sie ihn an und bemühte sich um eine neutrale Stimmlage:
,,Du wirst es nicht glauben, aber der Möglichkeitsraum unseres Bewußtseins läßt
sich im Rahmen der Hilbertraumstruktur der Quantenmechanik beschreiben, in dem
wahrscheinlichkeitsgewichtete Zustandssummen mögliche Meßresultate physikalischer
Systeme repräsentieren. Im Experiment wird dann festgelegt, welche Meßgröße in welchem
Systemzustand in Erfahrung gebracht werden kann, um mit der berechneten Wahrscheinlichkeit
verglichen werden zu können. So verhält es sich auch mit der Zustandsreduktion in
unserem Bewußtsein, wenn wir eine Entscheidung treffen. Die kontinuierliche Überlagerung
der Wahrscheinlichkeiten im sogenannten Quantenbit wird reduziert auf das binäre
Boole'sche Bit. Aus dem sowohl-als-auch einer Vielheit wird das entweder-oder einer
einfachen entscheidbaren Alternative. Wie von Weizsäcker mit seiner Ur-Theorie gezeigt
hat, kann man auch umgekehrt vorgehen und mit den entscheidbaren Alternativen
beginnen ... ``
,,Möchten sie ein Sandwitch?`` fragte die Stewardess. ,,Und ein Mineralwasser, bitte``, äußerte Suzanne. Adam blieb einen Moment sprachlos. Er meinte die Stewardess zu kennen: ,,Haben wir uns nicht schon `mal gesehen?`` Sie schaute ihn an und schien nachzudenken ... ,,Bei Marietta in ihrem Münchner Salon?``
,,Genau! Du bist Katarina``, erinnerte Adam sich erfreut. ,,Ich muß leider weiter.`` Sie schrieb etwas auf eine Visitenkarte und steckte sie ihm in die obere Jackentasche. ,,Gib mir bitte noch einen Sekt.`` Vertraulich lächelnd reichte sie ihm den Picolo mit Glas.
Tischgesellschaften, Salons und Kaffeehäuser standen am Beginn der bürgerlichen Öffentlichkeit. Suzanne verwunderte, daß es heute noch Salons gab. Waren diese Ausprägungen der Gutenbenberg-Ära nicht längst in der Turing-Galaxie des Internets aufgegangen?
Adam lehnte sich zurück und ließ seine Erinnerungen an Katarina Revue passieren.
Er hatte sie kennengelernt als sie noch ihrem Ex-Freund nachtrauerte. Sie hatten die halbe
Nacht im Bad verbracht. Beim Trösten war er ihr sehr nahe gekommen. Schmunzelnd schenkte
er sich Sekt ein und nippte vergnügt am Glas. Damals wohnte sie in Wien und war
auf Besuch bei einer Münchner Freundin. Die hatte sie mit zu Marietta gebracht. Der Salon
sollte sie auf andere Gedanken bringen. Irgendwie hatte er sie aber schnell wieder aus den
Augen verloren.
Suzanne packte ihr Sandwich aus und roch daran. Ein kühler Duft nach Käse, Salat und
Tomate entströmte ihm. Mit Appetit biß sie tief hinein. Kauend schaute sie auf den Monitor.
Noch etwa eine Stunde Flugzeit. In New York war es noch vormittag. Ihre Tochter Marianne erwartete
sie am Flughafen. Gemeinsam würden sie nach Harlem zur Columbia University fahren. Sie hatte
ein Zimmer im Gästehaus reserviert. Marianne hauste im Studentenwohnheim. Adam wollte zur
selben Tagung; sie könnten ihn mitnehmen: ,,Wir sind bald da``, wandte sie sich
ihm zu. ,,Ich werde abgeholt. Wir könnten dich mit in Richtung Uptown nehmen.``
,,Ich werde im Lexington, Midtown, wohnen``, ließ er sich zögernd vernehmen.
,,Das wird kein großer Umweg sein``, stimmte sie ein und sah ihn forschend an. Er
weilte wohl noch im Salon. ,,Sind Salons nicht längst aus der Mode gekommen?``
fragte sie scheinbar verwundert.
,,Unter Schickeria-Emanzen sind sie seit einigen Jahren wieder en-vogue``, erwiderte
er leicht spöttisch. ,,Dabei wären Bettine von Arnim oder Gertrude Stein durchaus
seriöse Vorbilder gewesen. Ich war lange nicht mehr da. Wahrscheinlich gibt es Mariettas
Salon gar nicht mehr``, ergänzte er mürrisch.
Suzanne überlegte, ob sie weiter fragen sollte. Es schien ihm unangenehm. Aber warum sollte
sie das abhalten? ,,Zu welchen Themen versammelte sich denn die Münchner Schickeria?``
ließ sie nicht locker.
,,Tagesthemen, wie die Rechtschreibreform z.B. oder das bundespolitische Kulturmanagement.
Meistens ziemlich langweilig und ohne intellektuellen Anspruch. Es gab aber auch Ausnahmen,
wie Peter Wippermanns gelungene Präsentation seiner Trendstudie zu den
Milleniums-Frauen
. Oder das
Happening der german twins zu ihrem Harems-Experiment mit Rainer Langhans. Adams
Stimmung hellte sich zunehmend auf. ,,Kennst du die Schmidt-Zwillinge Gisela
Getty und Jutta Winkelmann?``
,,Als SchneeweißRosenrot
sind sie mir erstmals begegnet in einem Fernsehfilm. Sie hatten ja allerhand Höhen und Tiefen
in ihrem Leben und wußten sich vielfältig zu inszenieren. Das Thema hatten wir ja schon:
Ruhmsucht und Geldgier schienen auch bei ihnen zu dominieren. Unterdessen hat Rainer sie wohl
auf den Spiritualitätstrip gebracht.``
,,In der Tat! Mit der Esoterik ist Mariettas Salon inhaltlicht verflacht. Die
Öko-Spiritistin gehört natürlich zu den Wahlverwandtschaften aus Peters
Trendstudie. Daneben unterscheidet er die smarte Schlampe, die moderne Amazone
und die neue Hausfrau. Zur Präsentation hatte er fähige Schauspielerinnen dabei,
die in Rollenspielen die Lebensstile mit Leben erfüllten: das Leben als spirituelle
Erfahrung, als lustvolles Experiment, als strategisches Planspiel sowie die Professionalisierung
des Hausfrauendaseins.``
,,Worunter würdest du mich denn einordnen``, wollte unsere Eva wissen.
Adam sah sie lächelnd an. Jetzt durfte er sich nicht reinreißen. Abwägend antwortete er:
,,Du scheinst lustvolle Experimente mit strategischen Planspielen verbinden zu können.``
,,Also Schlampe und Amazone zu verkörpern? Männlich ausgedrückt: Lebemann und Karrierist?
Das ist recht vereinfacht, aber nicht ganz abwegig. Selbst würde ich mich schlicht als
Wissenschaftlerin verstehen, auf dem Wege zu erkennen, was die Welt im innersten zusammenhält.
Wie hat der Trendforscher denn die neuen Wahlverwandtschaften operationalisiert?`` drang
sie in ihn und griff zum zweiten Sandwich.
,,Wenn ich mich recht erinnere, hat er so an die hundert Kriterien erfragt und faktoranalytisch
ausgewertet in einer Ebene zwischen Kontrolle und Lust sowie Harmonie und Konflikt.``
,,Ah, das gibt mir Gelegenheit, an die Zustandsüberlagerungen im Hilbertraum zu erinnern.
In der Physik müssen beobachtbare Größen durch diagonalisierbare Operatoren darstellbar sein.
Mathematisch ist das ganz analog zur Faktorenanalyse, in der es auch bloß um eine
Hauptachsentransformation geht.``
Adam schaute sie staunend an. Womit kannte sie sich eigentlich nicht aus? ,,Du hättest
den Salon ganz schön aufgemischt``, sagte er kopfschüttelnd.
,,Habermas
hat ja den
Strukturwandel der Öffentlichkeit bereits Anfang der 60er Jahre analysiert. Nach dem Übergang
ins Fernsehzeitalter scheint gegenwärtig ein Wandel ins Internet-Zeitalter angebrochen zu sein.
Die kommunikative Interaktion der Tischgesellschaften, der Salons und der Kaffeehäuser hat sich
zur Interaktivität der chat rooms, der mailing lists und der news groups
entwickelt.``
,,Ein geradezu dialektischer Dreischritt``, stimmte Adam ihr zu.