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Alles ist, was es ist, nur, indem es zu dem wird,
was es nicht ist

Dieser Satz aus dem Lager der Dialektiker reformuliert Gedanken antiker Naturphilosophen. ,,Alles fließt und nichts bleibt``, schrieb Heraklit und wunderte sich: ,,Sie verstehen nicht, wie das Eine, auseinanderstrebend, in sich übereinstimmt: Harmonie wie beim Bogen und der Leier.`` Heraklit sah keinen Widerspruch zwischen Einheit und Vielheit, Qualität und Quantität. Er stellte sich alles als im ständigen Austausch gegensätzlicher Bestimmungen vor: ,,Das Kalte wird warm, das Warme kalt, das Feuchte trocken, das Dürre naß.`` Nichts ist denkbar ohne seinen Gegensatz: ,,Tag und Nacht, Wachen und Schlafen, Leben und Tod.`` Kurz: Gedenke des Anderen! Der Imperativ der negativen Dialektik Adornos. Das Wirken der Natur setzt sich fort im menschlichen Organismus. Antagonistische Muskeln bestimmen unsere Bewegungen; sympathisches und parasympathisches Nervensystem regulieren unsere Triebe und Gefühlslagen. Das physiologische Gegenwirkungsprinzip bestimmt auch unser Verhalten zwischen Flüchten und Standhalten, Liebe und Haß, Zustimmung und Widerrede. Kompromiß, Synthese und Harmonie führen in der Regel zum Ausgleich der Gegensätze.

Karl Marx hat die Einheit und den Kampf der Gegensätze auf die ökonomische Basis der Gesellschaft zurückgeführt. Nach ihm ist die gesamte Menschheitsgeschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen zwischen Besitzenden und Besitzlosen, Kapitalisten und Arbeitern. In der Politik folgt stets auf die Aktion die Reaktion, auf die Revolution die Restauration. Wird in den demokratischen Republiken auf der Grundlage der Menschenrechte eine friedliche Lösung der Konflikte erstrebt, führen Faschisten Kriege zur Durchsetzung ihrer Machtansprüche. Für sie ist alle bisherige Geschichte die Geschichte von Rassenkämpfen um Lebensraum. Zu den Rassen- und Klassenkämpfen der Faschisten und Kapitalisten kommen noch die Religionskriege um den rechten Glauben. Im neuzeitlichen Kolonialismus und Imperialismus verbanden sich ökonomisches Ausbeutungsinteresse, europäischer Herrenrassenanspruch und christlicher Missionswahn zu einem Vernichtungsfeldzug gegen die kolonisierten Untermenschen in Amerika, Afrika, Asien und Australien. Auch in der sich abzeichnenden kapitalistischen Weltkultur werden Klassenkämpfe, Rassenkonflikte und Religionskriege auf der Tagesordnung bleiben. Heraklit hielt Krieg und Harmonie für vereinbar. Welche Lösungsvorschläge machen Gegenwartsphilosophen?


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Ingo Tessmann
1/31/2000