Was ist und was soll Netzphilosophie?

Ingo Teßmann

Als Anregung zur Einführung einer neuen Philosophie, einer neuen Netzphilosophie schreibt Leena zusammenfassend: Es liegt viel daran, genau jetzt darüber nachzudenken, welche Prinzipien unsere Technik tragen und wie sie später aussehen soll. Die Philosophie, die wir in dieser entscheidenden Umbruchphase in unsere Technik einflechten wird darin wahrscheinlich sehr tief eingewoben bleiben. Um zu vermeiden, dass Technik uns entmündigt, müssen wir frühzeitig darauf achten, dass entmündigende Charakteristika gar nicht darin vorkommen. Deshalb brauchen wir eine neue Philosophie. Eine Philosophie des Netzes. Nach meinem Verständnis richtet sich dieser Appell an die Systemarchitekten und Entwicklungsingenieure unserer Netzinfrastruktur und Endgeräte. Es scheint Leena um so etwas wie eine "Entwurfsphilosophie" technischer Artefakte zu gehen. Sie fordert eine Technikphilosophie des Netzes mit emanzipatorischem Anspruch. Gründe für eine Erneuerung der Philosophie ebenso wie Ursachen zur Schaffung neuer Philosophien hat es schon viele gegeben. Bereits Epikur verband in seiner Philosophie der Freude den materialistischen Atomismus Demokrits mit Platos idealistischem Streben nach Glückseligkeit. Im März 1841 promovierte Marx in Berlin über Die Differenz der Demokritischen und Epikureischen Naturphilosophie und wandte sich fortan zur Beantwortung der sozialen Frage der philosophischen und ökonomischen Analyse des Kapitalismus zu. Und als Antwort auf Proudhons Philosophie des Elends veröffentlichte er 1847 in Paris Das Elend der Philosophie. Der durch den technischen Fortschritt getriebene gesellschaftliche Wandel erfordert eine fortlaufende Erneuerung der Philosophie und so waren es wiederum die sozialen Umstände der 1920er Jahre, die den Marxismus mit Psychoanalyse und Ästhetik zur Kritischen Theorie wandelten. Die Bürgerrechtsbewegung, der Studentenprotest und die Jugendrevolte der 1960er Jahre fand dann ihren Ausdruck in der Theorie kommunikativen Handelns, die Habermas unter Einbeziehung von Systemtheorie und Sprachanalyse 1981 vorgelegt hatte. Mehr noch als schon Marx vernachlässigte er darin aber die Technik, so dass Leenas Forderung nach einer neuen Philosophie wie eine Rückbesinnung auf das von Marx beklagte Elend der Philosophie klingt. Sollte nicht endlich die bereits von Epikur begonnene Verbindung von Materialismus und Idealismuns bzw. Natur- und Sozialphilosophie in Angriff genommen werden? Versuche, die Philosophie nach dem Vorbild der Naturwissenschaften erneuern zu wollen, hat es wiederholt gegeben. Vielleicht verspricht ja die Netzphilosophie endlich die lang erstrebte Synthese. Von ähnlichen Gedanken ließ sich Putnam bereits 1990 in seinen Gifford Lectures leiten, wenn er in ihrer Niederschrift ausführt: dass die derzeitige Situation der Philosophie nach Wiederbelebung und Erneuerung verlangt. Putnam knüpfte in seinen Argumentationen Für eine Erneuerung der Philosophie an das Projekt der Künstlichen Intelligenz an und endete mit dem Ausblick darauf, die Philosophie als Demokratietheorie mit dem Kernstück einer intelligenten Durchführung der gemeinschaftlichen Forschung zu verstehen. Diese Themen ließen sich mit Bezug auf die Künstliche Intelligenz und das Demokratiepotential des Netzes zwanglos fortführen.

Aber wie schon bei Marx und in der Kritischen Theorie sollte es in einer neuen Netzphilosophie um sehr viel mehr gehen, nämlich um eine Philosophie des Internets im gesellschaftlichen Kontext des Kapitalismus. Dabei lassen sich mehrere philosophische Anknüpfungspunkte weiter verfolgen. Insofern es sich beim Internet um ein Medium handelt, unterfällt die Netzphilosophie der Medienphilosophie. Eine Geschichte der Medien hat Jochen Hörisch geschrieben und die ferne Zukunft des Menschen im neuen Netzmedium hat Miriam Meckel mit dem SciFi-Roman NEXT ausgestaltet. Hörisch beginnt seine Mediengeschichte mit dem Urknall und beendet sie mit dem Internet. Am Anfang ist der Sound, das Rauschen oder besser das fluktuierende Nullpunktsfeld, aus dem erste Strukturen herauswachsen, die noch heute in den Fluktuationen der kosmischen Hintergrundstrahlung nachhallen. Deren repräsentativ-symbolischer Sinn ist bereits ein Medium. Kulturgeschichtlich stellt Hörisch mit Oblate, Münze, CD-ROM eine mediale Dreieinigkeit von Tauschformen heraus. Die mit dem chinesischen I-Ging begonnene und von Leibniz im Binärsystem formalisierte Digitalisierung hat mit CD-ROM, DVD, BD oder Memory-Stick noch nicht ihren Endpunkt erreicht. Den schildert Meckel, indem sie die im gegenwärtigen Internet bereits vorhandenen oder angelegten Tendenzen zur Virtualisierung kenntnisreich fortspinnt und einem ersten digitalisierten den letzten analogen Menschen gegenüberstellt. Das ist erheiternd wie beunruhigend zu lesen. Aber noch ist es nicht soweit und gesellschaftsphilosophisch kann die Netzphilosophie Bezug nehmen auf die politischen Initiativen zur Gestaltung der Informationsgesellschaft. Dabei bleibt das Philosophieren über das Internet eingebettet in der mathematischen Naturphilosophie eines Newton und Leibniz wie in der prosaischen Sozialphilosophie von Marx und Habermas. Das Konzept fehlertoleranter Interconnected Networks reicht in die 1960er Jahre zurück und die Integration des Internets in das zur ortsunabhägigen Teamarbeit entworfene Bestriebssystem UNIX machte das Netz im professionellen Bereich populär. Den Durchburch zur Massentauglichkeit erreichte das Internet aber erst mit der in den 1980er Jahren entwickelten Hypertext Markup Language HTML. Anfang der 1990er Jahre richteten die Universitäten erste WWW-Server ein, auf die mit dem Browser Mosaic schon bald komfortabel zugegriffen werden konnte. Aus den mit der Vernetzung von Forschung und Lehre im Hochschulbereich gemachten Erfahrungen heraus entstanden verschiedene Visionen einer Informationsgesellschaft, um möglichst allen Menschen zu jeder Zeit und an jedem Ort auch Bilder, Musik und Filme so einfach zugänglich zu machen wie bisher Telefongespräche. Mit der Verbreitung von netztauglichen PCs und Notebooks entwickelte sich das Internet schnell zu einem Massenmedium des Informierens, Präsentierens und Kommunizierens. Die Kehrseite der Massentauglichkeit hatte natürlich eine zunehmende Trivialisierung der Inhalte und Umgangsformen zur Folge, so dass die anfangs dominierende akademische Nutzung mehr und mehr dem marktschreierischen Boulevard Platz machte. Dabei folgte die Boulevardisierung des Internets einer allgemeinen Trivialisierungstendenz, die bereits die Popkultur seit der neoliberalen Ökonomisierung in den 1980er Jahren heimgesucht hatte. Gegenwärtig ist mit der Verbreitung der Smartphones die Integration aller Medien so weit gelungen wie es vor 20 Jahren gefordert worden war. Die Lebenswelt der Menschen ist allerdings nicht nur medial bereichert worden; zugleich hat eine Überwachung und Kontrolle der Internetnutzer begonnen, die immer mehr persönliche Daten den exekutiven Staatsorganen und netzbetreibenden Firmen verfügbar macht. Den damit verbundenen Angriff auf die Freiheit haben kürzlich Ilija Trojanow und Juli Zeh thematisiert.

Dem emanzipatorischen Anspruch der Sozialphilosophie kritischer Theorie folgend, ist es an der Zeit zu fragen, ob die Nutzung und Entwicklung der technischen Möglichkeiten im Netz bereits gesellschaftlich optimal ist; denn zu erstreben ist das soziale Optimum zwischen der Ausgestaltung der persönlichen Lebensmöglichkeiten und dem Erhalt der natürlichen Lebensbedingungen auf der Erde. Suboptimal ist in Anknüpfung an die Jugendbewegung der 1960/70er Jahre der Impuls einer Veränderung der Gesellschaft zum Besseren hin fortzuführen. Die von den Hippies auf den Weg gebrachte Free Software Foundation und das GNU-Projekt nehmen die partizipatorischen Anregungen der damaligen Kulturrevolution auf und transformieren die Systemkritik auch in die Betriebssysteme und Netzapplikationen. Keinem hierarchischen Systemdenken einiger großer Firmen ist danach zu folgen, sondern die Vielfalt und Flexibilität eines selbstkontrollierbaren Baukastensystems anzustreben. Wie aber sollte eine neue Jugend- oder Protestbewegung entstehen können? Damals trieben Studentenprotest, Rockmusik und Filmkunst die Jugend auf die Straße und in die Politik. Orientierung bei ihrer Kapitalismuskritik boten ihnen Marxismus und Kritische Theorie. Heute ist die ökonomische Basis der Gesellschaft einem gigantischen Schuldenberg gewichen und die technische Kontrolle der Lebenswelten der Menschen allgegenwärtig geworden. Aber nur die Piraten scheinen daran Anstoß zu nehmen und das noch nicht einmal aus lauteren Motiven: interessieren sie sich doch vornehmlich für die Abschaffung des Urheberrechts. Wenn das nicht ein Nebenschauplatz der Spaßgesellschaft ist. Eine politische Piratenphilosophie gibt es nicht, nur ein Parteiprogramm. Ein Grund mehr für eine umfassende Netzphilosophie, eine neue Philosophie der Verschränkung von Systemen und Lebenswelten im Netz. Die damalige parallele Entwicklung von Pubertät und Jugendrevolte im gesellschaftlichen Umbruch der 1960/70er Jahre war eine historische Ausnahmesituation ebenso wie das in der Rockmusik rhythmisch wie lyrisch konzentrierte Lebensgefühl von Aufbruchstimmung und Horizonterweiterung. Dieses emanzipatorische Gemeinschaftserleben scheint dem individuellen Hören von Samples, dem ständigen Chatten und dem Stumpfsinn von Ballerspielen gewichen zu sein. Ein gemeinsames Lebensgefühl der Jugend gibt es heute nicht mehr, dafür aber eine Technikfaszination, an die eine neue Netzphilosophie anknüpfen könnte. Was sind die Systemimperative des Netzes und wie mediatisieren sie die Lebenswelt? Welche Eingriffsmöglichkeiten zur Selbstorganisation gibt es? Wie weit reichen die Freiheitsspielräme im virtuellen Netz wie im wirklichen Leben? Sollte das Netz vollständig den Lebensalltag bestimmen oder umgekehrt die Lebensweise das Handhaben des Netzes leiten? Kurzgefasst: wie wollen wir zukünftig leben?

Hamburg am 8. Juli 2012.

Und eine PDF-Version.