Nächste Seite: Spieltrieb Aufwärts: Von Adler und Engel Vorherige Seite: Von Adler und Engel   Inhalt

Adler und Engel

Nach Virginia Woolf werde die Romankunst besser durch leidenschaftliche Hingabe an eine Idee, indem sie mit Poesie und Philosophie Wange an Wange gehe und sich auf die Wirklichkeit beziehe. Mit Die Wellen hatte Woolf paradigmatisch ausgeführt, was für ein literarisches Kunstwerk aus diesen Anforderungen geschaffen werden kann, wenn die Autorin sie mit empfindsamer Bildsprache und kreativer Imagination umzusetzen versteht. Virginias Können und der Kontext der Bloomsberries sind das Eine, die Rezeption das Andere. Zu ihrer Zeit waren Die Wellen auch bei Kritik und Publikum ein Erfolg. Aber heute, wo die jungen Leute vom Unterschichtsfernsehen und den Ballerspielen abgestumpft werden, E-Mails und SMS kaum mehr als Textbruchstücke zu schreiben erfordern, das Eintauchen in virtuelle Realitäten dem Blick auf die faszinierende Wirklichkeit vorgezogen und die durch einen Text ermöglichte Welterfahrung auf die Schlüssellochperspektive der subjektiven Wahrnehmung eingeschränkt wird; in so einer Zeit, schreibt Zeh auf dem Rasen, dürften Bewussteinsströme, innere Monologe, autoanalytische Suada und überhaupt Spaziergänge durch den am besten kranken Kopf einer einzelnen Figur keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervorlocken. Mit Reflexion und Imagination ist offenbar kein Roman mehr zu machen. Nicht die Imagination Einsteins, sondern die Phantasie der Brüder Grimm ist gefragt. Kinderbücher, allen leicht verständlich, finden die Gunst des Publikums, sofern es überhaupt noch liest. Sex and crime sells; rüder Umgang, knappe Dialoge, kurze Spannungsbögen, lineare Handlungsfolgen und das ganze übersichtlich in kurze Kapitel verpackt. Und was macht Zeh? Die mitstenographiert ihre Gedankentätigkeit, produziert unzusammenhängende Textfetzen, Szenen, Kurzdialoge, einzelne Sätze oder kleine, in sich geschlossene Episoden - und beruft sich dabei auf Freud, der in Der Dichter und das Phantasieren den Tagtraum als eine Ersatzhandlung für das kindliche Spiel bezeichnet habe, das dem Erwachsenen nicht mehr erlaubt sei, während das Dichten eine Sonderform des Tagträumens darstelle. In Verbindung mit den Früchten ihrer Studien der Schriftstellerei und des Rechts, hatten sich ihre neuen handwerklichen Fähigkeiten des freien Phantasierens angenommen und motiviert durch ein Dozentenlob, holte Juli den Lektor aus der inneren Schublade, sichtete Material, stellte Reihenfolgen und Zeitebenen her, schrieb Übergänge und entwickelte eine Geschichte, in die sie bereits angelegte Handlungsstränge überführen und einen Teil des Ideenguts aus ihrer juristisch-völkerrechtlichen Spezialisierung einfließen lassen konnte: So entstand Adler und Engel. Das Fragmentarische dieses Buches, die aufgelöste Chronologie, die Schnitt-Technik und das ganze mosaikartige Erscheinungsbild sind Folgen der Heimlichkeit; wie auch das viereckige Loch im Roman, das jemand in die Dielenbretter der Wohnung gesägt hatte. Ganz ähnlich hatte schon die kleine Juli ihre Texte vor dem neugierigen Blick der Erwachsenen versteckt. Sollte die Heimlichkeit, in der Zeh ihre Textfragmente schrieb, am Ende zu einer Synthese von traditioneller und moderner Romankunst geführt haben?

Äußerlich ist der Roman in 32 benannte Unterkapitel gegliedert, die sich etwa je zur Hälfte über die beiden nach Orten bezeichneten Hauptkapitel verteilen: Leipzig und Wien sind die Schauplätze des Buches, das vorgestellt wird als Liebesgeschichte, Kriminalroman, Entwicklungsgeschichte und Polit-Thriller in einem. Also für jede etwas? Aber ein Klappentext wird nicht von der Autorin gemacht und dient eher der Verkaufsabsicht als der Inhaltscharakterisierung. Mit einem Walfisch vor der Tür fängt es in Leipzig an und endet nackt im Regen auf einer Mauer in Wien: Sogar durch das Holz der Tür erkenne ich ihre Stimme, diesen halb eingeschnappten Tonfall, der immer klingt, als hätte man ihr gerade einen Herzenswunsch abgeschlagen. Ich nähere ein Auge dem Türspion und sehe direkt in einen großen, weitwinklig verbogenen Augapfel, als läge im Treppenhaus ein Walfisch vor meiner Tür und versuchte, in die Wohnung hereinzuschauen. Ich fahre zurück und drücke vor Schreck auf die Klinke. Ein neugierig machender Anfang, wie es sich für einen Polit-Thriller gehört; denn so wie der Wal kein Fisch ist, befindet sich natürlich auch kein Fisch vor der Tür, sondern eine Frau schaut gleichzeitig wie das ICH durch den Spion. Mit dem ICH wird die Welterfahrung auf die Türspionperspektive der subjektiven Wahrnehmung verzerrt und die Leserin wird mit auf ein Abenteuer genommen, von dem sie nicht mehr mitgeteilt bekommt als das ICH zu erfassen vermag. Keine allmächtige Erzählerin wird gleichsam aus der Vogelperspektive der Allwissenheit für Aufklärung sorgen. Mit bangem Schrecken lassen wir den Engel eintreten ... Und wie geht es aus? Weil der nasse Stoff auf der Haut zu jucken beginnt, ziehe ich die Hose aus, das Hemd auch, und setze mich nackt auf die Mauer im Hof. Es ist ein guter Moment, um sich waschen zu lassen. ... Erleichtert lasse ich mich auf den Rücken sinken, der Regen strömt stark und gleichmäßig. Ein paar Mal greife ich über mich in die nasse, balkenlose Luft. So bleibe ich liegen und schaue in die Wassermassen, deren fallende Bewegung man übersehen kann, indem man sie anstarrt. So wenig wie ein Wal ein Fisch ist, hat auch nicht Luft, sondern Wasser keine Balken. Der Schluss hält, was der Anfang verspricht; bleibt er doch ebenso in der Schwebe wie die zur Strömung werdenden Tropfen des fallenden Regens. Fixiert man einen Tropfen, sieht man die Strömung nicht und auf das Strömen achtend, entgehen einem die Tropfen. Es fehlen die Wellen des Meeres, die das Strömen untergliedern, ihm ein Muster aufprägen. Aber was ist aus dem Walfisch geworden? An dem blonden Engel hängt leider keine Gebrauchsanweisung; er will lediglich einen Orangensaft. Aber wer hat schon Orangensaft im Haus? Eigentlich ist der Walfisch ein Radiomädchen, bei der nachts gestrandete Existenzen anrufen können. Manche fangen an zu heulen. Ich nicht. Dafür begeisterte mich von Anfang an die unglaubliche Kälte, mit der sie ihre schluchzenden Anrufer mitten im Satz abwürgen konnte, wenn die kurze Sprechzeit überschritten war. Nun ist sie da, weil sie wohl im Sender die Telephonnummern speichern, um bei Bedarf die Adressen der Anrufer zu ermitten. In einem ihrer Sätze, den sie sagt, kommt das Wort ,,Diplomarbeit`` vor. Kurz denke ich darüber nach, ihr noch einmal ins Gesicht zu schlagen, aber die Vorstellung hat nicht den geringsten Reiz. ... Noch Kaffee, frage ich. Orangensaft, wimmert sie. Ihr Tonfall erinnert mich viel zu sehr an Jessie, die auch immer gewimmert hat, wenn sie nicht bekam, was sie wollte. ... Alles ist toll. Alles wird immer toller, alles ist ohnehin nur ein Spiel, alles ist alles. Und Erinnerungen sind einfach nur wie Fernsehen.

Die ganze Zeit bin ich nicht auf ihren Namen gekommen, jetzt fällt er mir wieder ein: Clara. Jedenfalls nennt sie sich in der Sendung so ... Weil es mich aufwühlte, Jessies Namen zu nennen, beschloss ich, ,,meine Freundin`` zu sagen. ... Natürlich war sie süß. Auch anstrengend. Vor allem aber machte ich mir Sorgen. Cooooper, sagte sie, ich glaube, die Tiger sind wieder da. Das ist doch Unsinn, sagte ich, hör auf damit. Du kommst doch wiiiieder, oder? Natürlich komme ich wieder, sagte ich, spinn nicht rum. Ich spinne nicht, sagte sie. Dann fiel ein Schuss. ... Coopers Freundin Jessie hatte sich umgebracht und nun - ist auch schon Clara wieder da. Orangensaft, sagt sie. ... Nickend und lächelnd entnehme ich dem Kühlschrank eine Flasche Orangensaft für sie und ein Siegel Pulver für mich. Später klingelt das Telephon. Rufus will Sie sprechen, sagt die Sekretärin. Es ist meine Firma. Nicht die kleine Korrespondenzkanzlei in Leipzig, sondern das Büro vom großen Häuptling in Wien. ... Er ist ein Genie. Und er hat keine Ahnung davon, was mit mir los ist. ... Sie wissen es selbst. Sei kennen die beruhigende Wirkung des Rechtssystems, Mäx. Gebrauchen Sie das für sich. Rufus, ich bin drogenabhänging. Eine Weile ist die Leitung wie tot. Dann lacht er schallend. Mäx, sagt er, Sie wissen doch, dass dreißig Prozent aller bewundernswerten Juristen drogenabhängig sind. Und von denen arbeiten hundert Prozent bei uns. ... Alles Weitere schriftlich, sagt er schließlich. Viel Glück, Mäx. ... Na dann, sagt das Radiomädchen plötzlich leise, dann hast du ja jetzt viel Zeit. Der Karrierejurist Max wurde durch einen Schicksalsschlag aus der Bahn geworfen. Seine Freundin Jessie hatte sich beim Telephonieren erschossen: aus Angst vor den Tigern. Sie hatte ihn immer Cooper genannt - und nun war er drogenabhängig wie sie. Waren Dealer hinter ihr her gewesen, weil sie Geld unterschlagen hatte? Das könnte der Anfang einer Spur sein, die es zu verfolgen gilt; denn in einem kleinen viereckigen Loch unter den Dielenbrettern, auf dem der Telephonschrank stand, befindet sich eine Drittelmillion. Das Einzige, was ich von dir will, sagt Clara leise, ist deine Geschichte. Alles andere interessiert mich nicht. Im Bunde mit der Studentin fragt sich die Leserin natürlich sogleich, warum bloße Dealer Tiger genannt werden sollten. Ist das nur eine Metapher wie bei Virginia Woolf für den Schrecken und die Plötzlichkeit, mit denen uns das Leben und die Mitmenschen manchmal überraschend entsetzen? Aber war nicht in Verbindung mit der Balkankrise von der Existenz paramilitärischer ,,Tiger`` gesprochen worden und galt der serbische Volksheld Arkan, der ,,Säuberer`` nicht als ihr heimlicher Anführer? Ein Zusammenhang zwischen Drogen- und Waffenhandel wäre nicht ungewöhnlich, dienen Drogengeschäfte doch häufig der Finanzierung von Waffen. Mit der Klarsicht, die eine Ladung Koks in ihm auslöste, sah Max geradezu den Sinn der Weltordnung in sich und seiner Umgebung aufscheinen. War nicht auch seine Kanzlei an der Ausarbeitung der völkerrechtlichen Verträge beteiligt gewesen, mit der die EU ihre Osterweiterungen vorbereitete? Gab es womöglich nicht nur eine Verbindung zwischen Dealern und Tigern, sondern auch zwischen Sender und Kanzlei? Und womit finanzierte Jessies Vater seinen mondänen Lebenswandel? Und Jessies Freund Shershah aus gemeinsamen Internatszeiten in Wien? Der schöne Shershah, auch nur ein kleiner Fixer und geldgieriger Dealer? Und die angeblich so wissbegierige Clara, das Radiomädchen, und ihr Professor: was interessierte sie wirklich an ihm? War nicht selten etwas bloß so wie es schien? Und dann noch der Titel: wer waren die Adler und wer die Engel? Fragen über Fragen ...

Engel waren ursprünglich Götterboten. Auch Drogendealer und Waffenhändler verrichten Botendienste. Dienen noch heute Drogen der Erleuchtung und taugt die Maschinengewehrgarbe zum Gebet? Adler haben Schwingen und Engel Zungen: Als ich klein war, sagte Jessie, ging es mir sehr schlecht. Ein großer Adler brachte mich in ein Haus, wo er Kinder sammelte. Dort saß ich am Fenster und sah dem Wetter zu und den Jahreszeiten. Den Sommer habe ich gehasst, er tat mir weh im Kopf, zu viele Farben und Geräusche. Unten stand eine Hecke aus Sonnenblumen, das Gelb schrie zu mir herauf, ein Ton wie Messerklingen auf Porzellan. Die Schnecken schafften es nicht bis zu meinem Fenster. Sie blieben auf halbem Weg an der Hauswand kleben und verkrochen sich in ihren Häusern. Bis zum Regen. Dann kamen sie mich besuchen, und ich habe sie immer gefüttert, wenn sie den weiten Weg hinter sich hatten. Verstehst Du? Ich nickte. Sie schaute zu mir auf, ihr Gesicht war wie ein blasser, flacher kleiner Mond, es gab Mare Crisium und Mare Nubium aus Straßenschmutz darin. Crisium, die Gefahr und Nubium, die Wolke. Poetische Naturen leben wie im Märchen und vermögen all ihre Erlebnisse der Märchenwelt anzuverwandeln. Aber machen es die Verfechter des gesunden Menschenverstandes nicht genauso? Selbstreflexion und Rollenverständnis sind entscheident. Ob dann Theorien formuliert oder Geschichten erzählt werden, ist eine Frage des Temperaments. Es hat geregnet, sagte Jessie am Telephon, und die Nacktschnecken liegen hier überall im Hof verteilt, wie herausgeschnittene Zungen. Wie was bitte?, fragte ich. Engelszungen, sagte sie, die mit dem Regen heruntergekommen sind. Und Clara? Auf der Suche nach einem Zwischenlager besuchen sie einen Künstler in seiner Werkstatt. Als sie wieder aus dem Dunkel ins helle Tageslicht tritt, öffnet sie langsam die Lider, ihre Augen darunter sind nach oben gedreht, und das himmelblaue scheint wirklich haargenau aus dem gleichen Stoff gemacht wie die fehlerlos blaue Kuppel über uns. Vielleicht hält ihr kleines Bewusstsein hinter den kleinen blauen Fetzen ihrer Augen Zwiesprache mit dem großen Bewusstsein hinter der großen Himmelsdecke. Adler und Engel, denke ich, und dann auf Englisch, weil es besser klingt: Eagels und Angels. Endlich dreht sie die Augäpfel herunter und schaut mich an. Welcher Adler hat Max den Engel geschickt? Sind Frauen die Engel und Männer die Adler? Leben Frauen in Märchen und Männer in der Wirklichkeit? Max, höre ich Claras Stimme hinter mir, ich will ein kleines Haus irgendwo im Wald mit einer zerzausten Trauerweide davor. Das ist alles. Mehr will ich nicht vom Leben. Niemals. Wie poetisch ein Polit-Thriller sein kann! Juli Zeh hat jedenfalls keine Angst vor Virginia Woolf: Als die Tiger wieder da sind, brennt ihm die Zigarette zwischen den Lippen wie eine Zündschnur. Nur gut, dass noch nicht einmal genug Luft im Café ist, um Schallwellen zu übermitteln. Dafür gehen ganze Flutwellen von Energie in konzentrischen Kreisen von dem Mädchen aus und ich fühle mich wie ein Weinkorken, der schaukelnd an die Peripherie getrieben wird. Ist Max bereits seiner gesellschaftlichen Existenz verlustig gegangen? Oder steht er akut unter Drogen, die ihm seine Sinne zurichten? Es muss doch einen Fehler im System geben, die Stelle, an der sich der Riss in der Realität befindet. Den hatte schon der junge Törless zu finden geglaubt, um fein säuberlich ,,gut`` und ,,böse`` auseinander halten zu können. Aber es gibt nur eine Welt, die zugleich alles in einem ist und doch in viele Welten zerfällt. Juli Zeh knüpft ein verzweigtes Netz von Bezügen, allerdings immer nur bruchstückhaft und andeutungsweise, das mit Max auch nach und nach die Leserin umzutreiben beginnt und zum Weiterlesen verführt. Ähnlich wie es Woolf in Mrs Dalloway vorgeführt hat, indem sie von der Oberfläche ausgehend Höhlen grub, sie im Untergrund zu einem Geflecht verband, das erst am Schluss auf der Party aus der mehr oder minder zufälligen Beteiligung aller Akteure wieder ans Licht kommt, versteht es auch Zeh einen untergründigen Lebenszusammenhang zwischen allen Akteuren herzustellen, der am Ende für Max offen zu Tage tritt. Im Rückblick vermag er sich nur noch als belanglose Figur im Spiel des Lebens nach dem Sinn der Weltordnung zu sehen. Dabei kann er noch froh sein, nicht geopfert worden zu sein und alles verstanden zu haben während seiner klärenden Waschung unter der Wolkendusche: Es ist ein guter Moment, um sich waschen zu lassen. Ich führe die Hände im Schoß zusammen und betrachte sie aufmerksam, sie sind mir bekannt und vertraut, die Finger formen sich zu einer Schale, die leer ist und leer bleibt, nicht einmal geeignet, das hineintropfende Wasser zu einer kleinen Pfütze zu sammeln. Als ich lange genug hingesehen und alles verstanden habe, öffne ich die Hände wieder, drehe sie flach ausgestreckt erst nach oben, dann nach unten, nichts fällt hinein und nichts heraus. So wie Max das Regenwasser nicht mit seinen Händen auffangen kann, ist ihm auch das Leben einfach zwischen seinen Fingern durchgelaufen und er spürt nicht einmal mehr den Phantomschmerz seiner Existenz.

Von einigen Kritikern ist Zeh für ihre übersteigerte Bildsprache und Metaphorik gerügt worden. In der Mehrheit waren die Rezensionen aber zustimmend bis lobend. Und dem Publikum hat das Buch allemal gefallen. Dass in der Rhetorik geschulte Juristen im Rausch zu poetischen Metaphern greifen, scheint mir keinesweg so weit hergeholt; falls man den Roman überhaupt vornehmlich realistisch deuten will. Julis Sprachvermögen ist einfach begeisternd. Und die Wellenmetaphern verweisen wie schon bei Virginia auf den universalen Zusammenhang, in dem alles steht. Jedes Ereignis ist wie ein Schlag ins Wasser und breitet sich wellenförmig aus, bildet mit den Wellen der vielen anderen Wasserschläge Überlagerungen, die sich verstärken, abschwächen, brechen oder stationär stabil bleiben können. Und welcher Idee hat sich Zeh hingegeben? Die mit dem Wellenbild im Einklang stehende Einsicht, dass der Tiger springt und Schrecken verbreitet, aber trotz des dominierenden Panikgefühls nicht für sich allein gesehen werden kann, sondern wie der letztlich aus einer Wolke fetzende Blitzschlag die Folge einer sich lange vorbereiteten Großwetterlage ist. Das gilt auch für den Karrieristen, der nur studiert, um einen Job zu bekommen, mit dem er reichlich Kohle einfahren kann; sich aber ansonsten überhaupt nicht dafür interessiert, was er da paukt und nur für die nächste Prüfung auswendig lernt. Im Berufsleben führt das dann zu der Betriebsblindheit, die Juli in ihrem Roman Max erleben lässt, der erst nach der Verzweiflungstat Jessies innehält und langsam und mühsam dahinter kommt, in welchen Zusammenhängen er eigentlich gearbeitet hatte und wie weit die Verstrickungen seines Privat- und Berufslebens unterschwellig schon mit der großen Politik und ihren brutalen Handlangern vorangeschritten waren. Naive Krimis oder Abenteuerromane, die ihre Spannung bloß aus Action und dem Verfolgen linearer Kausalketten schöpfen, sind Julis Sache nicht. Ihr geht es eher um die spontane Ordnung aus dem Chaos und um die Muster, die sich daraus im Bewusstsein nachzeichnen. Ihre äußeren Naturmetaphern sind stets zugleich Metaphern unserer inneren Natur. Auch darin ist sie Virginia gefolgt. Dem gewandelten Publikumsgeschmack nachgebend, hat sie ihre Idee gleichwohl den Erfordernissen eines Thrillers angepasst - und siehe da: es hat dennoch funktioniert! Mit ihrem Roman reflektiert sie auch die politische Lage in Europa nach dem Zerfall der Sowjetunion und arbeitet geschickt Erfahrungen ihrer völkerrechtlich motivierten Reisen in den Balkan ein. Der Schutz der Privatssphäre im Medienkapitalismus, das Durchdringen von Berufs- und Privatleben und ihre Einbettung in den politischen Kontext sowie die Ökonomisierung aller Lebenszusammenhänge sind Themen, die sie in ihren nächsten Romanen weiter verfolgen wird.


Nächste Seite: Spieltrieb Aufwärts: Von Adler und Engel Vorherige Seite: Von Adler und Engel   Inhalt
ingo 2009-09-06