Russell setzte seinen logischen Untersuchungen folgendes Axiomensystem der Aussagenlogik voran:
Nach dem Vorbild Peanos wählte er fünf Axiome. Wie nachstehendes Beispiel zeigt, kommt man auch mit drei Axiomen aus. Das vierte Axiom erweitert die Aussagenlogik zur Prädikatenlogik:
Die Axiome sind als Schemata für syntaktisch korrekte Ersetzungen anzusehen. Als Ersetzungen gelten Ausdrücke, die aus dem logischen Alphabet gebildet werden können. Das ist analog zur Bildung arithmetischer Terme aus Zahlvariablen und Verknüpfungen. Axiom A3 gilt nicht in der konstruktiven Logik. Dort gilt nur die Umkehrung: . Die Äquivalenz: wird auch Kontraposition genannt. In der klassischen Logik gelten ferner die Definitionen:
Um aus den Axiomen und Definitionen logische Sätze, die Theoreme, ableiten zu können, sind noch zwei Ableitungsregeln zu formulieren:
Setzen wir die Theoreme , und
als bereits abgeleitet voraus, gelingt die
Ableitung des Theorems von Duns Scotus: .
D.h. aus einem Widerspruch kann jeder Satz gefolgert werden! Ein Widerspruch
der Form heißt in der Logik Kontradiktion.
,,Das ist ja `n Hammer!`` fuhr Sofie auf. ,,Wenn ich einen Widerspruch
zulasse, folgt beliebiges! Es beginnt mir zu dämmern, warum die
Widerspruchsfreiheit in der Wissenschaft so wichtig ist. Aber wie sieht es
im Alltag aus? Die Menschen widersprechen sich doch ständig ...``
,,Deshalb tut ja auch jede was sie will und alle machen mit``, entgegnete
Hilde lachend.
Als Vorbereitung auf das Beweisen in der Mathematik ist es eine gute Übung, mit logischen Beweisen anzufangen, da sie wesentlich einfacher sind. Die Ableitung des Satzes von Duns Scotus gelingt wie folgt:
Die erste und letzte Zeile zusammengenommen: .
Zur Kontrolle solltet Ihr den Übergang zu jedem Ableitungsschritt mit einer
Definition, einem Axiom oder einem Theorem rechtfertigen. In der Reihenfolge
sind anzuwenden: D2, A1, R1, A3, R1, Theorem, R1. Ihr könnt Euch jetzt
vielleicht vorstellen, daß Ableitungen kürzer werden, wenn es viele
Axiome gibt. Wenn Ihr Euch daran macht, das benutzte Theorem
abzuleiten, werdet Ihr merken, wie lang
die Ableitung insgesamt wird ...
,,Das leuchtet ein``, bemerkte Hilde und begann die Ableitungsschritte
nachzuvollziehen ...
,,Die Ableitungen der anderen Theoreme schieben wir auf``, bestimmte Sofie.
Das zweite bedeutende Werkzeug im logischen Baukasten Russells ist seine Typentheorie. Ausgehend von den Axiomen und Definitionen der Prädikatenlogik leitet er darin die Peano-Axiome ab, ohne die Widersprüche der Cantor'schen Mengenlehre zu erhalten.
In der Typentheorie geht Russell von dem Prinzip aus, daß ein Ausdruck, der sich auf alle Gegenstände eines Typs bezieht, wenn er etwas bedeutet, etwas bedeuten muß, das höheren Typs ist als die Gegenstände, auf die er sich bezieht. Wo man sich auf alle Gegenstände eines Typs bezieht, gibt es eine gebundene Variable, die zu diesem Typ gehört. Daher ist ein Ausdruck, der eine gebundene Variable enthält, höheren Typs als die Variable selbst. Das ist das grundlegende Prinzip der Typentheorie. Mit diesem Prinzip läßt sich in der Typenlogik für jeden Typ die Widerspruchsfreiheit erreichen. Die Allmenge ist von anderem Typ als eine Menge. Der Allsatz: alle Kreter lügen ist von anderem Typ als der singuläre Satz: Epimenides lügt.
Russell glaubte, die Arithmetik damit auf die klassische Logik zurückgeführt zu haben. Sein System war zwar widerspruchsfrei; einen Vollständigkeitsbeweis konnte er aber nicht führen. D.h. es könnte noch mathematisch wahre Satze geben, die logisch nicht ableitbar wären. Auf das Problem der Unvollständigkeit werde ich zurückkommen.
Was in der Wissenschaft zu trennen versucht wird, geht
in der Umgangssprache munter durcheinander. Um sich nicht in Sprachfallen zu
verfangen, ist es auch im alltäglichen Umgang wichtig, in Analogie zu den
logischen Typen Sprachebenen zu unterscheiden. Normalerweise wird in der
Umgangssprache über die Dinge in der Welt gesprochen. Dann handelt es sich
um Objektsprache. Wird nicht über Objekte, sondern über die Sprache
gesprochen, redet man in der Metasprache. In ihr werden Worte nicht
gebraucht, sondern erwähnt. Ein Beispielsatz: Hamburg hat sieben
Buchstaben und liegt an der Elbe. Im vorigen Satz wird Hamburg zuerst
erwähnt, dann gebraucht. Epimenides sagt metasprachlich, daß er objektsprachlich
lüge. Damit widerspricht er sich nicht mehr. Die Hierarchie der Metasprachen
ist unbegrenzt. Es ist wichtig, sich nicht in ihr zu verirren. Was ist z.B. von
der Mutter zu halten, die ihrem Kind vorwirft: Sei doch `mal spontan!
,,Eine ausweglose Situation. Denn spontan sein heißt, etwas aus sich
heraus zu tun, unaufgefordert``, fiel Sofie ein.
,,Sei spontan! ist die Aufforderung, sich aufforderungsfrei zu verhalten``,
ergänzte Hilde.
,,Wer das nicht durchschaut, sitzt in der Falle!`` rief Sofie empört.
,,Das ist ganz schön fies von der Mutter. Sie hätte sagen müssen:
Ich fordere dich metasprachlich auf, objektsprachlich spontan zu sein
...``
,,Wenn sie das aber nicht durchschaut?`` entgegnete Hilde, ,,wird
das Kind es ihr niemals recht machen können und irgendwann durchdrehen.``
,,Dann wäre Logik ja Psychotherapie``, wunderte sich Sofie. ,,Dieser Aspekt
achtsamer Rede ist mir bisher noch nicht aufgefallen. Welch eine praktische
Tragweite die Sprachanalyse haben kann!`` freute sich Sofie über ihre Einsicht.
Ihre Freude wurde aber durch die drohende Ahnung untergraben, daß die Erkenntnis
nicht nur allgemein von großer Tragweite war. Was bedeutete das für ihre
persönliche Situation? Für das gesellschaftliche Umfeld, die politische
Weltlage?
,,Wie ist es möglich, einer Beziehungsfalle von innen her zu
entgehen?`` fragte Hilde und ergänzte: ,,Mutter und Kind sind beide Gefangene
ihrer Umgangssprache.``
Sofie dachte noch immer an sich: ,,Wie waren Alberto und ich in
Eure Welt gelangt ... Ich war eingeschlafen ...``
,,Wir wissen von Freud, daß Träume die Pforten ins Unterbewußte sind``,
entgegnete Hilde.
,,Wenn wir Gedanken als innere Sätze auffassen, denken quasi als innere Rede; dann können wir die Sprachebenen auf die Gedanken übertragen``, sinnierte Sofie. ,,Atome, Gene, Gedanken, Bücher ... In den Gedanken gehen die Sprachebenen ebenso durcheinander wie in der Umgangssprache. Der Major schrieb metasprachlich über mich und Alberto. Ein weiterer Autor könnte quasi meta-metasprachlich für Dich und Deinen Vater denken ... Durch das Vermengen unserer Sprachebenen im Traum konnten wir uns begegnen. Träumte ich oder träumte Dein Vater?
Russell gelang durch die Trennung von Sprachebenen nach Typen die Lösung
selbstbezüglicher Widersprüche. Er stand ihnen äußerlich
gegenüber. Wie entkommt man aber einer Beziehungsfalle, in der man selbst
gefangen ist? Eine Möglichkeit des Auswegs bietet die Sprachanalyse durch
Reflexion der eigenen Situation. Denn die Reflexion erfolgt auf einer
Metaebene. Auf diese Weise war es Alberto möglich zu durchschauen, daß er
und ich lediglich zur Illustration der Metaphysik Berkeleys dienten. Nach
ihm gibt es ja nur Empfindungen bzw. Phänomene des Bewußtseins.
Wie weit sind wir seitdem mit der Aufklärung gekommen?``
,,Könnte es nicht auch Hierachien der Objektsprache geben? Schließlich
sind die Objekte selbst hierarchisch aufgebaut. Von den Elementarteilchen bis
hin zum Kosmos, von den Molekülen zu unseren Körpern, von den Bits
zu den Mustern auf dem Bildschirm eines Computers: Wie ist das Hervorgehen
der jeweiligen Ebene aus der unterliegenden möglich?`` ergänzte Hilde den
Gedankengang Sofies.
,,Könnten es nicht auch in der Wirklichkeit Widersprüche bzw. Krisen sein, die die Grenzen einer Ebene sprengen? Alberto sprach von der Viele-Welten-Theorie der Physiker. Im Gegensatz zu den sprachlichen Gedankenwelten der Philosophen, müßte es sich um wirkliche Welten handeln``, entgegnete Sofie und es beschlich sie die Ahnung, nicht bloß in der Hierarchie des philosophischen Geistes, sondern womöglich in einer parallelen Wirklichkeit physikalischer Materie zu existieren.
Die Mädchen waren allerdings schon zu ermüdet, um weiter ihren eigenen
Gedanken zu folgen. Und so beschlossen sie, im Text Albertos fortzufahren.
In Analogie zum Verständnis der Materie aus elementaren Bausteinen in der Physik, hat Russell seine Philosophie logischen Atomismus genannt. Darin versucht er, die Welt aus logischen Atomen zu rekonstruieren. Auf der Grundlage seiner sprachkritischen Analysen geht es ihm in diesem Projekt um die Behandlung metaphysischer Probleme. Nach der Zerlegung philosophischer Texte in ihre logischen Bestandteile, bemüht er sich nunmehr, aus ihnen eine neue Philosophie zu entwerfen. Der Analyse folgt die Synthese. Ontologisch geht es darum, die in der Logik unausgesprochenen Existenzannahmen deutlich zu machen. Es gibt mehr als nur die logischen Atome. Erkenntnistheoretisch setzt Russell die Physik voraus und unterstellt eine Korrespondenz zwischen Tatsachen und Aussagen wie sie zwischen Meßergebnissen und theoretischen Annahmen in der physikalischen Praxis üblich ist. Wahrheitstheoretisch bezieht er sich auf die in der Physik bewährten Verfahren zur Bestätigung oder Widerlegung einer Theorie.
Wenn Ihr Euch ans Physikpraktikum erinnert, solltet Ihr versuchen, Euch den
Zusammenhang zwischen Meßergebnissen und theoretischen Annahmen zu vergegenwärtigen.
Theoretische Annahmen werden auch Hypothesen genannt. Das Bestätigungsverfahren
heißt Verifikation, die Widerlegung Falsifikation. Die aus den Untersuchungen
Russells entstandene Wissenschaftstheorie wird logischer Empirismus genannt. In den
empirischen Wissenschaften wirken die Logik der Theorie und die Meßpraxis der Erfahrung
innig zusammen. Einstein war sogar der Meinung, die Theorie entscheide, was
beobachtbar sei ...
,,Im Physikpraktikum ermittelten wir das Hooke'sche Kraftgesetz durch
Dehnung einer Spiralfeder. In einem anderen Versuch maßen wir die
Spannungs/Strom-Verhältnisse bei verschiedenen Widerständen. Heraus kam
das Ohm'sche Gesetz``, erinnerte sich Sofie.
,,Die Experimente hatten wir auch gemacht. Wenn wir das Hooke'sche- und
Ohm'sche Gesetz als Hypothesen auffassen, dienten die Messungen der Überprüfung.
Wir hätten die Versuche allerdings nicht alleine durchgeführt. Unser Lehrer wäre
bestimmt auch nicht darauf gekommen, wenn er die Hypothesen nicht schon gekannt hätte.
Ohne Hypothesen sind Messungen sinnlos. Das könnte Einstein mit seinem Spruch
gemeint haben. Wie wohl Hooke und Ohm auf die Annahme der Proportionalität
zwischen Kraft und Dehnung bzw. Spannung und Strom gekommen waren?`` kam Hilde ins
Grübeln.
,,Hätten wir die Sätze überhaupt widerlegen können``, zweifelte Sofie.
,,Ich denke, mit beliebigen Federn und Widerständen wären die Messungen
weniger passend ausgefallen``, entgegnete Hilde.
,,Jedenfalls scheint es einen Spielraum im Beurteilen des Falsifizierens
bzw. Verifizierens zu geben``, vertiefte Sofie ihren Zweifel und ergänzte:
,,Ich glaube, das Philosophieren untergräbt meine Gutgläubigkeit ... Laß
uns im Text fortfahren!``