Die Schreie des Schmerzes und die Schüsse des Jägers verhallten in der
Wolke des Blutsturzes. Mit dröhnendem Kopf und singenden Ohren rappelte
Sofie sich auf. Die eingetretene Stille wirkte betäubend. Im lichter
werdenden Nebel warfen ihr zahlreiche Spiegel vielfältige Bilder zu.
Bei genauerem Hinsehen fiel ihr auf, daß ihre reflektierten Abbilder
in Myriaden weiterer Bilder zerfielen. Fasziniert sprang sie auf und drehte
sich im Kaleidoskop ihres Selbst. Blätter wirbelten empor, als
ob ein Windstoß sie erfaßt hätte. Zielsicher griff Sofie
sich eins heraus:
Drehte sie sich oder die Spiegeltrommel? Sofie schien zu ruhen. Interessiert begann sie zu lesen:
Die fehlerhafte und Unglück bringende Auffassung, als sei ein Mensch
eine dauernde Einheit, ist weit verbreitet. Es ist aber eine offenes
Geheimnis, daß der Mensch aus einer Menge von Seelen, aus sehr
vielen Ichs besteht. Die scheinbare Einheit der Person in diese vielen
Figuren auseinanderzuspalten gilt für verrückt.
In disem Aufbaukurs werden wir zeigen, wie diejenigen, die das
Auseinanderfallen ihres Ichs erlebt haben, die Stücke jederzeit
wieder in beliebiger Reihenfolge neu zusammenstellen können. Wie
der Dichter aus einer Handvoll Figuren ein Drama erschafft, so bringen
wir immerzu eine neue Mannigfaltigkeit unseres Lebensspieles hervor.
Sofie schaute vom Blatt auf und bemerkte eine ganz in schwarz gekleidete Gestalt an einem Spieltisch. Mit geübten Fingern griff sie sich aus Sofies Spiegelbildern ihre Figuren und ordnete sie rasch auf dem Brett zu je wechselnden Spielen des Lebens. Von Neugierde gedrängt, trat Sofie heran. Sprachlos schaute sie eine zeitlang zu. Routiniert gruppierte der Spieler immer neue Lebenssituationen.
,,Nach welchen Regeln spielen Sie denn?'' fragte Sofie zaghaft.
Ohne aufzuschauen, gab der Schwarze Antwort: ,,Das Spiel des Lebens wie das der Materie folgt den Regeln der Quantentheorie. Wußtest Du das nicht?''
Sofie war verblüfft. Daran hatte sie in der Tat schon einmal gedacht. Ihr fiel das Superpositionsprinzip wieder ein. Lineare Zustandsentwicklungen eines physikalischen Systems bildeten das Spektrum möglicher Meßwerte. Vielleicht schufen die Zustandsentwicklungen der Persönlichkeit analog die Vielzahl möglicher Bewußtseinszustände? Schloß sich hier nicht wieder der Kreis zwischen Poesie und Physik?