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Im Strudel des Terrors

Ein Turm brannte bereits als ein Flugzeug krachend im zweiten verschwand und sich sogleich in einen Feuerball verwandelte. Dunkler, satter Qualm stieg empor, Menschen schrien, die Stimme eines Roporters überschlug sich. Unter den hochaufragenden Zwillingstürmen des World Trade Centers (WTC) gewahrte Suzanne die Schrift: AMERICA UNDER ATTACK . Der aus den Einschlaglöchern und geborstenen Fenstern herausquellende Rauch bildete eine weit ausfächernde Windfahne , die sich am Rande ihres Gesichtsfeldes verlor. Suzanne glaubte sich in einen Horrorfilm versetzt, der die schaurige Szenerie holographisch ins Schlafzimmer projizierte. Verzweifelt winkende Menschen befanden sich noch oberhalb der Feuersbrunst, vor der sich immer wieder welche in Panik herabstürzten. Suzanne verharrte wie betäubt. Starr vor Schreck und Angst. Konnte sie denn nicht aufwachen aus diesem Alptraum? Wovon sprach der Reporter eigentlich? Begann gerade der 3. Weltkrieg? Verflucht sei der Mensch, der sein Schwert zurückhält vom Blute! Daß die Macht böse ist, wissen wir. Aber der Dualismus von Gut und Böse, von Jenseits und Diesseits, Geist und Macht muß, wenn das Reich kommen soll, vorübergehend aufgehoben werden in einem Prinzip, das Askese und Herrschaft vereinigt. Das ist es, was ich die Notwendigkeit des Terrors nenne. Naphtas haßverzerrte Fratze ging unter in der aufwallenden Staubwolke des in sich zusammenstürzenden Zwillingsturms. ,,Wie entsetzlich!`` hörte sie Olga aufschreien und wurde sich der grausamen Realität des Geschehens bewußt. Wie in Trance verfolgten die drei alles weitere Geschehen in der Live-Übertragung aus Manhatten. ,,Das darf doch nicht wahr sein!?`` entfuhr es Al als der zweite Turm wie eine Ziehharmonika stockwerksweise zusammenkrachend in einer riesigen Staubwolke verschwand, die sich lawinenartig durch die Straßen wälzte. Der Raum verfinsterte sich und alles wurde donnergrollend unter Schutt und Asche begraben. Unwillkürlich klammerten sie sich aneinander, schlossen die Augen und duckten sich ab. Al war so verwirrt, daß er nicht die Fernbedienung nutzte, sondern sich benommen aufraffte und die Laserprojektion der Nachrichten auf Bildschirmgröße reduzierte. Nachdem er sichtlich erschüttert das raumerfüllende Grollen auf Distanz gebracht hatte, sank er deprimiert und entsetzt, aber auch zornig und wütend aufs Lager zurück. ,,Das ist ja blanker Terror!`` rief er verstört. ,,Wer fliegt denn vorsätzlich Zivilmaschinen in Hochhäuser?`` Nicht nur das WTC war getroffen worden, sondern auch das Pentagon stand in Flammen. Und ein vierter Jet hatte sein Ziel verfehlt. Womöglich hatte er ins weiße Haus gestürzt werden sollen. Unterdessen drängten die Gedanken an ihre Verwandten und Freunde in New York zur Tat. Telefonisch war kein Durchkommen möglich. Suzanne hielt es bei nüchterner Betrachtung zwar für unwahrscheinlich, daß sich Marianne oder Paul morgens im WTC aufgehalten haben könnten; aber sicher konnte sie natürlich nicht sein. Und so schickte sie ihrer Tochter eine e-mail und wartete beunruhigt auf ein Lebenszeichen.

Al zog es in den Kreis seiner Kollegen, Olga blieb den ganzen Tag über bei Suzi im Bett. Gebannt verfolgten sie die Dauer-Nachrichten. Und wieder hallte Hitlers extatisches Gekrächse in Suzanne nach: Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen! Den Sender Gleiwitz hatten als Polen verkleidete deutsche Soldaten überfallen. Und wer hatte die Terroristen ausgebildet? Wo hatten sie ihre Flugstunden erhalten? Die meisten kamen aus Saudi-Arabien. Die Ermittlung der Flugzeugentführer ging so schnell, daß sich der Verdacht aufdrängte, die arabischen Terroristen seien den Geheimdiensten schon länger bekannt gewesen. Was möglich ist, wird irgendwann einmal wirklich. In Filmen und Büchern war ein derartiges Szenario wiederholt dargestellt und diskutiert worden. Warum hatte das niemand ernst genommen?

Für die Falken im Pentagon bildeten die Terroranschläge jedenfalls den willkommenen Anlaß, gegen die islamistischen Schurkenstaaten loszuschlagen. Schon die Attentate der RAF hatten eine verschärfte Staatssicherheit zur Folge gehabt. Im Gegensatz zur Stadt-Guerilla hatten die Islamo-Faschisten den Tod tausender Unschuldiger aus dutzenden Nationen in Kauf genommen, um die Symbole des imperialen US-Kapitalismus zu zerstören. Welch ein kaltblütiger Wahnsinn! Olga befürchtete die Wiederherstellung des Überwachungsstaates, vor dem sie gerade geflohen war. Der Nationalsozialismus war weitgehend Geschichte, der Bolschewismus vor gut zehn Jahren zusammengebrochen - und jetzt das! War der Islamismus die heraufziehende neue Weltgefahr? Um von Saudi-Arabien abzulenken, hatte die US-Regierung rasch Osama Bin Laden und die al-Qaida als Urheber des Terrors ausgemacht. Ein Krieg gegen Afghanistan war damit ziemlich sicher und würde nur der Anfang weiterer Kriege gegen die islamistischen Schurkenstaaten sein. Olgas und Suzis Gedanken wurden immer wieder durch erschüttende Szenen aus Manhatten unterbrochen. Überlebende berichteten von der Feuersbrunst durch Kerosinströme, die wie Brandbomben durch Fahrstuhlschächte und Treppenhäuser schossen. Angehörige hatten per Handy mit ihren todgeweihten Verwandten in den zu Lenkwaffen umfunktionierten Passagierflugzeugen gesprochen.

Eine Mail ihrer Tochter erhellte Suzannes düstere Stimmung. Auch Paul war wohlauf. Marianne hatte ein verlängertes Wochenende in seiner Suite verbracht. Ihre Gedanken umkreisten die gleichen Probleme. Paul hatte zudem darauf hingewiesen, daß der 11. Sept. wohl nicht zufällig als Tag des Anschlags auf die Symbole des US-Kapitalismus gewählt worden war. Am 11. Sept. 1973 zettelte der CIA in Chile den Militärputsch Pinochets gegen den sozialistischen Präsidenten Allende an, bei dem etwa drei Tausend Menschen ermordet wurden. Aber waren die Islamo-Faschisten ernsthaft mit den Freiheitsbewegungen in Latein-Amerika vergleichbar? Opferten sich die Islamisten für die Befreiung der arabischen Länder? In ihrem Religionswahn ging es ihnen wohl eher um eine Verschärfung der Unterdrückung im islamischen Gottesstaat. Gerade den Frauen versprach der american way of life eine sehr viel weiter gehende Befreiung als unter dem mittelalterlichen Regime der Taliban in Afghanistan. Gegenüber dem Sowjet-Kommunismus erschien den Amerikanern der Islamo-Faschismus allerdings als das kleinere Übel. Nur mit Hilfe der USA hatten die Taliban ihre russischen Besatzer in die Flucht schlagen können. Nach dem Zerfall der Sowjetunion erstarkte in ihren Grenzregionen der Islamismus. Welch ein Rückfall in die Barbarei! Aber damit war es jetzt vorbei! Die geballte Militärmacht der USA würde sich von nun an gegen den Islamismus richten und nicht mehr das sozialistische Aufbegehren in der dritten Welt bekämpfen. Für die Selbstmordattentäter war das wohl eher eine unbeabsichtigte Nebenfolge. Olgas Begeisterung darüber wirkte sogar ansteckend auf Suzanne, die aber dennoch skeptisch blieb ob der Allmachtsphantasien der neuen Weltmacht. Ihren WAR AGAINST TERROR begannen die Amerikaner unter der Parole infinite justice; schwächten ihr Streben nach unbegrenzter Gerechtigkeit aber bald zum enduring freedom ab. Die dauerhafte Freiheit der westlichen Zivilisation galt es zu verteidigen. Al, Olga und Suzi wunderten sich immer wieder darüber, daß die Terrorpiloten trotz ihrer kaltblütigen Logistik nicht bedacht hatten, den Falken im militärisch-industriellen Komplex der kapitalistischen Führungsmacht einen willkommenen Anlaß zum Kulturkampf geliefert zu haben. Aber unterwürfige Liebe und fanatischer Haß machen blind und es blieb zu hoffen, daß die Anti-Terror-Allianz nicht unverhältnismäßig übers Ziel hinaus schoß.

Suzanne hatte der Terroranschlag derart aufgewühlt, daß sie vorerst nicht mehr ihren Studien nachgehen konnte. Da ihr politischer Aktionismus ebenso fremd war, regte sie unter den Utopisten ein Seminar zum wiedererstarkten Faschismus an. Die gegenwärtige Anti-Terror-Allianz gegen den Islamo-Faschismus sah sie in der Folge des alliierten Krieges gegen den Germano-Faschismus. Sicher nicht zufällig haben Mein Kampf Hitlers und der Dschihad Qutbs ihre Wurzeln in Rassismus und Antisemitismus des beginnenden 20. Jahrhunderts. Hitler berief sich auf die Biologisten und Sozialdarwinisten Gobineau und H.S. Chamberlain, während der Muslimbruder Qutb neben dem Koran vor allem aus dem lebensphilosophischen Werk Der Mensch. Das unbekannte Wesen. des Jesuiten und Arztes Carrel zitierte. Ähnlich wie Hitler Mein Kampf, verfaßte auch Qutb drei Jahrzehnte später seine Kampfschrift Im Schatten des Korans im Gefängnis. Diese Parallele zwischen dem ,,Kampf`` der Germano- und dem ,,Dschihad`` der Islamo-Faschisten wollte Suzanne weiter verfolgen. Dabei fiel ihr auch wieder die hellsichtige Intuition Thomas Manns ein, der seinen fanatischen Jesuiten Naphta genannt hatte; ein Name, der auf das hebräische Wort für Kampf verwies. Und ebenso die fatale Verbindung von Biologismus und Medizin, Irrationalismus und Heilkunst hatte der zugleich deutschnationale und antifaschistische Schriftsteller im Zauberberg kunstvoll ausformuliert. Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer, auch während der Liegekuren im Sanatorium. Auf den Davoser Hochschultagen berichtete seinerzeit Albert Einstein über die Grundbegriffe der Physik und ihre Entwicklung und am gleichen Ort erschoß der Jude David Frankfurter den Arier Wilhelm Gustloff.

Suzanne gewahrte sich auf Abwegen und mußte sich zur Raison rufen. Denn erfundene Zusammenhänge zwischen entlegenen Ereignissen und Vorgängen waren es immer wieder, die zu den abstrusesten Spekulationen führten und im Volk stets begierig aufgenommen wurden,- als gelte es, einem Ertrinkenden den Rettungsring hinzuwerfen. Über die weite Verbreitung von Okkultismus und ,,Verschwörungstheorien`` hatten sich schon Albert Einstein und Thomas Mann lustig gemacht. Ebenso wie die Mondlandung wird bestimmt auch der Anschlag auf das WTC als bloße ,,Simulation`` entlarvt werden, hinter der natürlich das internationale Judentum steckte ... Schon am Niedergang des Deutschtums in der Weimarer Republik sollte das Weltjudentum schuld gewesen sein, indem es den Staat in ,,Zinsknechtschaft`` gehalten hatte. Die Wundergläubigkeit der Massen haben sich die Herrscher zu allen Zeiten zunutze gemacht. Sogar die Bildung vermochte dem grassierenden Irrglauben nicht abzuhelfen. Darüber ließ sich eine Brücke zur Computertechnik und Hirnforschung schlagen, sinnierte Suzanne mit schlechtem Gewissen; denn wieder einmal war sie ihrem Plan untreu geworden. Vorhersehbar ist nur die Vergangenheit, dachte sie schmunzelnd. Al hatte sie in den letzten Wochen nur einige Male gesehen und Olga ging weiter ihren Studien nach. Um so mehr erhoffte sich Suzanne vom Beginn ihres Seminars. Allein und gedankenschwer schlief sie ein - in ihrem eigenen Zimmer.

Immer wieder zog es sie an den Strand. Suchte sie die Nähe der Hippies? Wollte sie den Atem des rollenden Meeres erhaschen? Der Schriftsteller vermochte ihn in die wellenden Wogen seiner Epik zu bannen. Feynman rekapitulierte am Strand die Evolution. Und Schrödinger inspirierte der Zürichsee zu einem Sonett . Sinnend in Tagträumen, umweht von lauen Lüften, gebettet im Schallfeld des immerwährenden Brandungsrauschens erlangte sie ihre innere Ruhe und heitere Gelassenheit zurück. Die Salze des Urmeeres wirkten noch immer ausgleichend in den Landbewohnern, die ihm vor so langer Zeit entkrochen waren. Und in den Muttertieren der Säuger gedeiht der Nachwuchs noch immer im Fruchtwasser wie in der Ursuppe ihrer Ahnen. Welch ein ewiger Reigen der Wiederkehr. Welle auf Welle brandete heran und stürzte sich schaumschlagend an den Strand. Schon Aphrodite wurde in all ihrer weiblichen Schönheit aus dem Meeresschaum geboren. Und in seinem männlichen Streben nach Wahrheit formalisierte Schrödinger seine Vorstellung von der Materie als Schaumkamm auf den Wellenfronten der Strahlung in seiner berühmten Wellengleichung . Erotisch inspiriert wurde er dabei von einer Muse, die ihm in der Höhenluft Arosas im sexuellen Rausch zum kreativen Durchbruch verhalf. Das weit auslaufende Vor- und Zurückfließen des kühlenden Nasses unterspülte die Frauenlandschaft unserer Schönen, die sich frank und frei dem Strömen in und auf ihr überließ. Das ozeanische Gefühl universaler Geborgenheit und Übereinstimmung mit dem Pulsen der Natur ließ sie im wärmenden Strand aufgehen. Das leckende Wasser, der schmusende Sand und die kitzelnde Sonnenwärme versetzten die Hautsinne in ein erregendes Prickeln. Es war ihr, als verschmölze sie mit Haut und Haar in der Naturszenerie. Endorphine modulierten ihre Reizströme und der Atem des rollenden Meeres nahm ihr lustvolles Stöhnen auf und trug es in die pazifische Weite der Erdrundung. Beglückt ermattet versank sie wieder ins Tagträumen und verstieg sich zu dem Gedanken, daß sich die Natur in ihr geradezu selbst erfreue, gleichsam in der wachsten Empfindung von Allsympathie .
Berauscht von ihrem earth fuck aus ihrer Liebe zur Natur, gewahrte sie nicht den jungen Mann, der sich ihr fasziniert genährt hatte. Was für ein Anblick der Erdmutter! Schwankend zwischen Anbetung, Erregung und Heiterkeit, hielt er zunächst einen Moment andächtig inne. Den Zauber der Situation galt es einzufangen! Behend schaffte er die beiden Teile ihres kleinen Schwarzen aus dem Blickfeld, zog dem abströmenden Wasser folgend einen Kreis um die ekstatisch von sich gestreckten Glieder unserer Venus und verfolgte diese wahrhaft menschlichen Proportionen im Geiste Leonardos mit der web-cam seines Handys. Die lustvolle Begegnung von Mensch und Natur auf ihrem sehnsuchtsvollen Weg zueinander fand den Weg ins Internet - und ein neuer Frauenkult nahm seinen Anfang ...
Ahnte Suzanne etwas von dem weltweiten Ausschlag ihrer Wonnewellen , die bis in die Tiefe des Rheins spürbar blieben und auf der Höhe der Satellitenbahnen ins World Wide Web verteilt wurden? In ihrem Dämmern verschmolzen Humanismus und Romantik. Aber was sollte ohne Aufklärung aus ihnen werden? Die wogenden und strömenden Rheintöchter verkörperten sich an ihr und Leonardo unterlegte Suzis Antlitz mit dem geheimnisvollen Lächeln Mona Lisas . Tom traute seinen Augen nicht. Gebannt kniete er vor der verzückt bebenden Frauenlandschaft. Hatte er vielleicht wieder zuviel Pott in seinen Joint getan? Zum Glück zeichnete die web-cam alles auf. Aber was blieb von dem erlebten Zauber außerhalb des Bewußtseins? Ein erinnertes Erlebnis war nur noch Erinnerung und kein Erlebnis mehr. Erlebte Sinnesfreuden und Gefühlsstürme vermittelte aber das Orgasmothron, von dem Woody Allen als wiedererwachter Schläfer nicht lassen konnte. So etwas gab es bestimmt auch in Utopia, mutmaßte Tom neidvoll lächelnd und erschrak leicht als ihn Suzi aus seinen Gedanken riß. Für sie schien er sich geradewegs aus ihrem Lusttraum verkörpert zu haben. ,,Hallo Tom``, rief sie freudig überrascht über ihre Traumfortsetzung im Leben und schaute ihm freimütig in die Augen, indem sie sich vor ihm aufsetzte, dabei langsam ihre Knie unters Kinn zog und ihre Beine mit den Armen umschloß. Das an- und abbrandende Wasser spielte mit den Kraushaaren ihrer Lustpforte wie mit Wasserpflanzen. Amüsiert verfolgte Eva wie sich Tom noch zierte und ihrem Blick standzuhalten versuchte. Unterdessen erhob sich über plätschernden Wassern der helle Klang einer E-Gitarre . Adams Steamhammer teilend, lauschten sie Junior's Wailing im Kreis humaner Proportionen, die sich um das weibliche Zentrum weiteten: Love me Baby, always be around. Throw your armes around me - like a circle around the sun. Ihr Rhythmus schien über Twenty Four Hours zu pulsen und wieder in den plätschernden Wassern nachzuschwingen. Die paradiesische Begegnung klang aus mit Sweet Smoke in a Baby Night. Mit der stillen, aber mächtigen Hebung des Erdenrunds vor die Sonnenglut, zogen sich die beiden in den Schutz einer Felsgrotte zurück. Tom hatte hier einen Rucksack mit Proviant und Schlafsack deponiert. In der Kühle des Abends schmiegten sie sich wärmend aneinander und genossen Rotwein zu Brot und Käse. Vom weit zum Strand hin sich öffnenden Felsvorsprung des Höhleneingangs folgte ihr Sehnen dem milden Himmelsglanz der Abendröte, die sich in Myriaden schimmernder Mosaike auf den Wellenzügen spiegelte. Dem monotonen Brandungsrauschen überwölbte sich die Sternenpracht des Nachthimmels, der wie durch einen Schleier flüchtiger Helle hindurch erstrahlte und mit erhabener Andacht das Firmament erfüllte. Das ferne Sternenlicht dehnte sanft den Übergang in die Bewußtlosigkeit des traumlosen Tiefschlafes - unserer beiden Kinder des Weltalls.
Von ihrer Geburt aus Sternenstaub träumten sie am nächsten Morgen; dabei hatte nur der auffrischende Wind feinen Sand in die Höhle geweht. Sie rieben ihre Augen, kratzten sich die Köpfe, schüttelten den Schlafsack aus - und stürzten sich in die erquickende Brandung. Hellwach und schlaff vom Tollen im kühlen Naß sanken sie nieder und machten sich über die Proviantreste her. Suzis Blick schweifte über die helle Weite des Horizonts in Richtung Hawai. ,,Gerade hat Amerika sein Pearl Harbor des 21. Jahrhunderts erlebt und wir schwelgen hier im Paradies``, meldete sich ihr schlechtes Gewissen zu Wort.
,,Weder am Überfall auf Pearl Habor noch am Anschlag auf das WTC waren die USA nicht ganz unschuldig``, merkte Tom nüchtern an, ohne die Schöne an seiner Seite anzusehen. Auch er ließ die Gedanken seiner Sicht über das Meer in luftige Höhen schweifen. Sie befanden sich etwa in der Mitte zwischen dem Kriegshafen im pazifischen Westen und Ground Zero an der Ostküste. 60 Jahre trennten die beiden Schreckens-Ereignisse. Aber entsprach der Eintritt der USA in den 2. Weltkrieg dem gegenwärtig beginnenden WAR AGAINST TERROR? ,,Warum hatten die Amerikaner nicht auf die abgefangenen Funksprüche der angreifenden Japaner auf Pearl Harbor reagiert? Und warum konnten die US-Geheimdienste den Anschlag auf das WTC nicht verhindern, obwohl sie doch offensichtlich den Terroristen dicht auf den Fersen gewesen sein müssen?`` Mit diesen Fragen kam Tom auf den Ausgang seiner Zweifel zurück und wandte seine Aufmerksamkeit wieder ganz der leiblichen Präsenz Suzis zu, indem er sie forschend in den Blick nahm.

Suzanne nippte gedankenversunken am Weinglas. ,,Ich halte die ins Kraut schießenden ,,Verschwörungstheorien`` schlichtweg für Unsinn``, hob sie bestimmt an. ,,Auch die Geheimdienste sind Großunternehmen, in denen Schlamperei, Hierarchiedenken, Kompetenzstreitigkeiten sowie falsch gesetzte Prioritäten ebenso zur Tagesordnung gehören wie in allen Bürokratien. Ich vermute, die Amerikaner fühlten sich einfach so sicher in Pearl Harbor, daß sie die Funksprüche nicht ernst nahmen. Auch Stalin war über Hitlers Angriff vorinformiert worden, geglaubt hat er seinen Agenten aber nicht. Aus den vielen Meldungen der Geheimdienste stets die richtige als wichtig auszuwählen, ist die eigentliche Schwierigkeit der Analysten und Sicherheitsberater. Immerhin ist ja vor einigen Wochen ein leitender FBI-Mitarbeiter als Sicherheitschef ins WTC gegangen. Vielleicht hat der CIA dem FBI wichtige Informationen vorenthalten. Wer weiß?``

,,Weil CIA und FBI um Einfluß und Macht im Staate buhlen und kein gemeinsames Sicherheitsziel verfolgen?`` Tom und Suzi schauten sich zweifelnd an. Eine nüchterne Betrachtung der Ereignisse war nicht gerade einfach.

,,Wieso standen zumindest einige der Terroristen nicht auf den Fahndungslisten, obwohl sie doch bereits enttarnt worden waren?`` fuhr Suzanne fort und ergänzte empört: ,,19 Kämpfer und Piloten konnten ungehindert einchecken, einfach unglaublich!``

,,Die meisten Terroristen kamen aus Saudi-Arabien, ein Land, das mit seinen Öleinnahmen weltweit den Islamismus unterstützt. Und drei der Piloten kamen auch noch aus Deutschland, ein Land, auf das dein Bürokratismus-Vorwurf wohl am ehesten zutrifft. Zudem zeitigt unsere Vergangenheit noch immer eine übertriebene Toleranz gegenüber Religionen und ihren Gläubigen. Eine konsequente Trennung von Staat und Kirche hat es bei uns doch nie gegeben. Und Linke wurden schon in der Weimarer Republik sehr viel intensiver verfolgt als Rechte. So ist es heute noch!``

Suzi nahm Toms Gedanken auf: ,,Befangen im Anti-Kommunismus haben wohl auch die Amerikaner bisher falsche Prioritäten gesetzt und Islamo-Faschisten sogar noch unterstützt, wenn es nur gegen den Sowjet-Kommunismus ging. Jetzt ernten sie die Rückschläge ihrer verfehlten Außenpolitik. Neben dem Anti-Kommunismus ist es die Ölfixierung der USA, die sie in fataler Abhängigkeit von den islamischen Dynastien und Diktaturen des nahen Ostens hält. Vielleicht schafft die Anti-Terror-Allianz die Möglichkeit einer Umorientierung auf den Weg in die Wasserstoff-Gesellschaft des Sonnenzeitalters``, schloß Suzanne leicht beschwingt und heiter ihre Rede.

,,Auf die Sonne!`` erwiderte Tom lächelnd und erfreut darüber, daß seine Angebetete den Bogen in hellere Gefilde gespannt hatte. Klingend stießen sie an und küßten sich genußvoll auf die weinfeuchten Lippen.

,,Der Ausblick auf das Sonnenzeitalter könnte durch neue Kultformen eine Bewußtseinserweiterung nach sich ziehen, die mit zur Überwindung des islamistischen Religionswahns beitragen könnte. Der Islamismus steckt ja immer noch im Mittelalter; er hat nie eine Aufklärung erlebt. Sollte allerdings seine Religionskritik nicht rational möglich werden, drohte uns ein erneuter 30jähriger Krieg, der seinerzeit halb Europa verwüstete. In Afrika bestimmen schon seit Jahrzehnten marodierende Banden rivalisierender Stammesfürsten das Geschehen. Über Nordafrika und den Balkan ziehen sich die Konflikte bereits bis nach Indonesien hin. Allesamt sind sie als das Erbe unvollendeter Kolonisation anzusehen. Die westlichen Imperialisten haben sich zu voreilig aus der Verantwortung gestohlen. Das wird immer wieder deutlich an den Auseinandersetzungen zwischen Israel und Palästina, Indien und Pakistan. Die UN werden zukünftig verstärkt die Versäumnisse der Kolonialmächte auszubügeln haben. So wie auf dem Balkan die ethnischen und religiösen Konflikte nur durch die UN-Präsenz in Schach gehalten werden können, wird es auch in Afghanistan nach dem Niedergang der Taliban und ebenso nach dem Sturz Saddam Husseins im Irak sein. Palästinensische Terroristen und israelische Militärs müßten gleichfalls entwaffnet und die Region unter UN-Kontrolle gebracht werden, ganz zu schweigen von den vielen Stammesfehden und Stellvertreter-Kriegen in Afrika ... ``

,,Redest du einer Weltregierung im Gewande der UN das Wort?`` unterbrach Tom Suzis Ausführungen. ,,Das halte ich für eine utopische Perspektive, da die USA das nie dulden werden. Andererseits haben die Terroranschläge auf das WTC und das Pentagon gezeigt, daß die weltweiten Migrationsbewegungen im Zuge der Globalisierung längst zu einer globalen Vernetzung der al-Qaida und anderer Terrorbanden geführt haben. Die Anschläge sind gleichsam von innen heraus erfolgt. Islamistischer Religionswahn gepaart mit technischer Intelligenz ... ``

,,... eine unheimliche Allianz, in der Tat!`` pflichtete Suzanne ihrem Schüler bei. ,,Arische Heilserwartung wurde schon einmal mit deutscher Gründlichkeit zum Germano-Faschismus hochgejubelt. Und das aus dem Inneren einer Kulturnation heraus, die damit das wahre Gesicht ihrer unzivilisierten Barbarei zeigte. Darüber hatten sich schon Albert Einstein und Thomas Mann ihre Gedanken gemacht. Mir scheint es jedenfalls kein Zufall zu sein, daß drei der Anführer und Piloten der islamistischen Terroristen aus Deutschland kamen. Sie hatten ja in Hamburg technische Studiengänge belegt, unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit an der TU-Harburg eine Islam-AG gegründet und sich im Schutz Hamburger Moscheen zu konspirativen Versammlungen zusammengefunden. Der Verfassungsschutz hat jahrelang zugeschaut,- wahrscheinlich weil er sich in der linken Szene der Hausbesetzer, Sozialökologisten und Autonomen verzettelte. Ganz so wie schon in der Weimarer Republik. Es ist deprimierend! Wann wird endlich mal entschieden gegen die Religionen vorgegangen, die nicht nur die Leute verblöden, sondern immer wieder zur Brutstätte für Fundamentalisten werden?`` Suzanne hielt inne und schaute in das verblüffte Gesicht Toms. Sie hatte sich so richtig in Rage geredet.

,,Du wirst die Welt nicht ändern, kannst aber Anteil an der Gestaltung Utopias nehmen, oder?`` fragte der Jüngling versöhnlich. Er hatte eine zweite Flasche Rotwein entkorkt und schenkte nach.

,,Auf Utopia!`` pflichtete Suzi ihm bei, aber noch mit gemischten Gefühlen. ,,Was für Utopien hat es nicht schon gegeben! Und was ist aus ihnen geworden? Die Hippies haben sich aufs Land verkrümelt, sind auf dem Esoterik-Trip oder in die innere Emigration gegangen. Aus den 68ern wurden Moralisten, Karrieristen und Polit-Aktivisten bis hin zur selbsternannten Stadt-Guerilla der RAF . Im Vergleich mit den religionsverrückten Islamo-Faschisten waren die politisch orientierten RAF-Terroristen allerdings Waisenkinder ... `` Suzanne unterbrach sich und schaute in die Weite des offenen Meereshorizonts. Das Gleichmaß in den fortwährend heranrauschenden Brandungswellen stimmte sie wieder auf den Einklang mit der erhabenen Natur ein. Wenn doch nur mehr Menschen Bescheidenheit und Ehrfurcht angesichts des allgegenwärtigen Naturschauspiels erlangten ... Sie brach vom Brot und genoß ein Stück Käse. Sein Wohlgeschmack und die Umarmung Toms beschwichtigten sie weiter. Lange saßen die beiden zusammengekuschelt am Strand und blickten in die Weite des Pazifiks wie in ein Aquarium. Möwen wiegten sich im Wind. Gelegentlich schlenderte ein Paar vorbei; in altersweiser Gelassenheit oder im jugendlichen Überschwang. Von all dem Elend in der Welt und dem Wahnsinn in den Köpfen der nachwachsenden Islamisten war hier nichts zu spüren. Aber wie lange noch? Suzanne dachte an Marianne, die mit Paul ihr junges Leben genoß. Aber wie lange noch? ,,Ist es vielleicht jetzt aus mit der Spaßgesellschaft?`` dachte sie laut und nahm einen kräftigen Schluck Wein. ,,Wird der Islamo-Terrorismus eine neue Politisierung der Jugend bewirken?``
,,Hoffentlich keine Renaissance der Religionen heraufbeschwören``, gab Tom brummend zu bedenken. Sein Baß schwang lang in beiden Körpern nach.

,,Ist der Islamismus womöglich die neue Jugendbewegung?`` fragte sich Suzanne noch zweifelnd und dachte an die weltweite Bevölkerungsentwicklung . ,,Nirgendwo sonst ist der Anteil Jugendlicher an der Einwohnerzahl höher als in islamischen Ländern. Und nirgendwo sonst wird das pubertäre Machogehabe der Jungen stärker gefördert als im Islam. Dabei birgt gerade die Konfrontation von subjektiver Selbstüberschätzung und objektiver Ohnmacht die stete Gefahr von Gewaltausbrüchen. Zerstörung ist die Rache, die das ungelebte Leben an sich selbst nimmt``, zitierte Suzanne mißmutig Erich Fromm. Sie war aber zu berauscht, um darüber in Resignation zu verfallen. Vielmehr genoß sie die Strandatmosphäre Kaliforniens mit ihrem Lustknaben, der bereitwillig seinen Handyman mit ihr teilte und sie ins Hotel California bettete.
Am Nachmittag machten sich die beiden Hand in Hand auf den Weg nach Utopia. Tom durfte zwar nicht mit hinein; dafür konnte er aber Suzi zum love-in mit auf seine dorm-flat nehmen. Nur von ihrem schwarzen Kostüm umhüllt, wirkte die Schöne recht schick neben ihrem langhaarigen und bärtigen Jungen in Badeshorts und mit dem Rucksack beladen. Auf halber Höhe des serpentienartigen Aufstiegs am Küstenhang kam ihnen hinter einer von dichten Büschen und Sträuchern umwachsenen Kehre überraschend Al mit zwei süßen blonden Mädels entgegen, die sich als eineiige Zwillinge entpuppten.

,,Das sind Itha und Roswitha, zwei Schülerinnen, denen ich Nachhilfe in Mathe und Physik gebe``, stellte er sie vor.

Tom kannte die reizenden Blondinen flüchtig aus dem Wohnheim; sie waren ihm aber noch zu jung. Ihre langen, blonden Haare umrahmten mittelgescheitelt ihre noch kindlich weich-rundlichen Gesichter mit zarten Nasen und großen, tiefblauen Augen, die von Lebensfreude nur so sprühten. Ihre kessen Mundpartien deuteten die Ausbildung einer heiter-ironischen Lebenshaltung an. Kein wunder, daß Al ihnen Nachhilfe gab! Sie trugen kleine weiße Shorts, die früher hot pants genannt wurden. Vor ihren strammen Jungmädchen-Brüsten zierten die Konterfeis Einsteins und Schrödingers ihre sonst weißen T-Shirts, die den Blick auf ihre herzigen Bauchnabel frei ließen. Die Idee konnte nur von Al stammen, dachte Suzanne lächelnd. Das machte sie wenigstens unterscheidbar. Al wirkte zwischen ihnen wie ein altersweiser Großvater mit seinen zerfurchten Gesichtzügen und dem ungestümen Weißhaarschopf. Was Suzi aber beim ersten Hinsehen gar nicht bemerkt hatte, war das Bild auf seinem T-Shirt! Für einen Moment verschlug es ihr die Sprache, während Al und Tom ein Augurenlächeln tauschten und die blond twins ob der Überraschung in Suzis Gesichtsausdruck amüsiert kicherten.

,,Aber das kann doch nicht wahr sein!?`` entfuhr es ihr in unglaublicher Verwunderung. Al's Brust bedeckte eine ansprechende Überlagerung von Standbildern aus dem zu humaner Ästhetik stilisierten earth fuck unserer Erdmutter am Strand. ,,Was hast du getan?`` wandte sich Suzi an Tom, der sie besänftigend in den Arm nahm.

,,Eine derart schöne weibliche Leibesformung im Einklang mit den Elementen der Natur, kann man doch niemandem vorenthalten``, versuchte er ihre in Empörung umschlagende Verblüffung zu beschwichtigen. Und Al pflichtete ihm natürlich bei.

,,Männer?!`` entfuhr es ihr kopfschüttelnd und die Anspannung lösend.

,,Wart' doch mal ab, was daraus wird``, sagte Al beruhigend nüchtern interessiert. ,,Vielleicht wirst du zur Ikone des anbrechenden Sonnenzeitalters. Leonardos Männerproportionen zur Stilisierung des Menschenkreises im Kosmos hast du durch deinen lustvollen earth fuck im Sonnenkreis von Licht, Sand und Meer weit in den Schatten gestellt. Machen wir uns auf den Weg zu einer Erneuerung der Zivilisation aus der Synthese von Erotik und Wissenschaft!`` Noch ehe Suzi etwas erwidern konnte, trollte Al sich mit seinen beiden Schülerinnen von dannen und verschwand an der nächsten Biegung aus dem Blickfeld.

,,Über diese Rede des Kandidaten Jobses, allgemeines Schütteln des Kopfes, hätte Einstein die Angelegenheit mit Humor kommentiert``, dachte Suzanne laut und nahm Thomas bei der Hand zum weiteren Aufstieg. Der grinste verschmitzt in sich hinein und freute sich diebisch über seine Präsentation des Themas in Suzannes Seminar.

Die beiden dachten beim Weitergehen eine Weile über Al's Bemerkung nach und ließen sie auf sich einwirken. Wenngleich Wissenserotiker in der Physik höchst selten sind, schien Al sich in der Tradition Schrödingers zu verstehen, der vielfach kreative Inspiration durch erotische Transpiration suchte. Warum auch nicht? fragte sich Suzanne lächelnd und hielt einen Moment lang inne. Die Kultivierung von Wissenslust und Sinnenfreude schuf Wahrheit und Schönheit; ganz so wie die Natur, die sich den beiden vom Hang herab in ihrer herrlichen Weite des offenen Meeres darbot. Frischer Duft, hell strahlendes, gelb-blaues Licht und beruhigendes, vom ewigen An- und Abschwellen moduliertes, fern-klatschendes Rauschen verschmolzen zu einem wohlig-warmen Bewußtseinsstrom, der Adam und Eva gleichermaßen einstimmte auf das geheime Wirken der Natur. ,,Susan Sonntag forderte schon Anfang der 1960er Jahre in den Geisteswissenschaften Erotik statt Hermeneutik, um statt der Interpretationswut den Sinneserfahrungen wieder mehr Raum zu geben``, erinnerte Suzanne und ließ sich im weichen Grasgestrüpp nieder.

,,Die Erotisierung der Wissenschaften war auch das Anliegen der Hippies``, entgegnete Thomas zustimmend und setzte sich zu ihr, indem er sich hinter ihr nieder ließ und zugleich mit Armen und Beinen umschloß. Den Rucksack abstreifend legte er seinen Kopf auf Suzis rechte Schulter und nahm ihre Hände in die seinen. Aneinander geschmiegt wiegten sie sich leicht hin und her; so als ob sie dem fortwährenden An- und Abbranden des Meeres und den Schwingbewegungen der Sträucher und Büsche im Wind folgten. Adams Geknabbere an Evas Ohr spitzte ihr die Zitzen und feuchtete ihre Höhle.

,,Wir sind auf dem Weg der ewigen Wiederkehr des Gleichen in der Reproduktion des Lebens wie der biologischen Erkenntnis``, meldete Suzi sich nüchtern zu Wort, während Eva langsam die Beine anzog und ihre Finger dem Reizpunkt näherte, der sich ihnen begierig entgegen streckte. Das Fingerspiel überlagerte harmonisch ihre Körperschwingungen und indem Eva die ihren in Adams Schritt schob, nahmen die seinen ihren Rhythmus auf.

,,Meinst du``, setzte Tom Suzis Gedanken fort, ,,im Gegensatz zum unbegrenzten Wissensfortschritt bleibt die große Freude stets auf ihr physiologisches Maß beschränkt?``

Auf dieses Maß hin beschleunigten sich ihre Fingerreizungen - und fanden ihren Ruhepunkt im feuchten Glück lustvoller Muskelzuckungen. Dem Endorphinstrom ausgesetzt, verschlug es den beiden die Sprache. Stöhnend verklammerten sie sich zu einer Wonnekugel.

,,Lebewesen sind Fleisch gewordene Erkenntnis, die sie lustvoll reproduzieren``, hob Suzi an, nachdem die Wellen des Glücksgefühls verflacht waren.

,,Da haben wir ja den Zusammenhang mit der Wissenserotik``, stimmte Tom ihr freudig zu. ,,Erkenntnisfreude ist die unbegrenzte Fortsetzung der beschränkten Fleischeslust.``

,,Leider nur scheinbar``, relativierte Suzanne seinen unbedachten Überschwang, ,,denn auch die Freude am jeweiligen Erkenntnisforschritt basiert auf dem gleichen physischen Belohnungssystem wie die Fleischeslust. Der beschränkten Empfindungsdynamik unserer Sinnesreaktionen entkommen wir nicht. Ein Bewußtsein ohne Sinne gibt es nicht; denn das Nervensystem ist ja den Sinneszellen, die Großhirnrinde den Sinnesorganen nachgewachsen.``

Thomas befriedigten diese Ausführungen nicht. Und auch Suzanne wußte natürlich, daß das Hirngewebe ebenso wie der Hormonstoffwechsel durch Erweiterung des Genoms ebenfalls ausgedehnt werden konnte. Aber dann handelte es sich nicht mehr um Menschen, sondern eher um Androiden, denen z.B. die Radioaktivität, das Erdmagnetfeld oder die Luftelektrizität in analoger Weise bewußt sein konnten wie den Menschen Licht und Schall. Das wären sogar ganz neue Sinnesqualitäten und nicht nur quantitative Erweiterungen des Sehens und Hörens in Bereiche größerer oder kleinerer Frequenzen elektromagnetischer oder mechanischer Schwingungen. Gedankenversunken erreichten die beiden wie von selbst das Wohnheim.

Tom lebte mit seiner Theater-AG zusammen in einer Fünfer-WG. Die Wohnung war reichhaltig mit Hippie-Utensilien gespickt. An den Wänden Poster gegen den Krieg und für die freie Liebe, gegen die Prohibition und für den Konsumverzicht. Hinzu kamen in den Farben des Regenbogens variantenreich gestaltete Tücher, die an den Wänden und um die Fenster drapiert waren. Über Holzkommoden, Tischen und weichen Sofas lagen bunte Kissen und Decken verteilt. Erwärmte aromatische Öle verströmten angenehm milden Fliederduft. Insgesamt jedoch fand Suzanne das Ganze viel zu sehr inszeniert und nicht wirklich gelebt. Gleichwohl war sie beeindruckt von dem Engagement der Teens, die das Musical zu einem ihrer Lebensspiele erweitert hatten. Neben einem langen Flur, kleiner Küche und einem großen Gemeinschaftsraum, hatte jeder ein eigenes Zimmer. Diese Behausungen waren weiteren Rollen gemäß ausgestattet. Die Räume der Zwillinge lagen sich an dem einen Ende des Flures gegenüber und waren nach Motiven der Literatur-AG gestaltet. Bilder Thomas Manns, seiner Familie und verschiedener Lebensstationen zierten die Wände. Hinzu kamen Poster von den Einbänden der Erstausgaben seiner Hauptwerke. Im Gegensatz zum Hippie-Look der Gemeinschaftsräume hatten die Zwillinge ihre Zimmer bürgerlich im Stil des ausgehenden 19. Jahrhunderts eingerichtet. Zu hochgeknöpft, taillenbetonender Bluse trugen die beiden lange weite Röcke, die bis zum Boden reichten. Sie gaben sich sehr geziert und unnahbar und bildeteten einen erheiternden Kontrast zu Heikes natürlichem Gehabe in buntem Hippie-Gewand, unter dem sie natürlich keinen BH trug, während die Zwillinge damenhaft in eng verschnürten Korsetts steckten. Auch Hansens leptosome Gestalt im klassischen Zweireiher kontrastierte scharf mit Toms athletischem Naturburschen-Outfit. Da sich Hans aber vollständig glatt rasiert hatte und seine langen Haare eng anliegend nach hinten gekämmt und zusammengebunden waren, kam er Klaus näher als Thomas Mann.

Suzi lümmelte sich aufs Sofa und betrachtete interessiert das ihr gegenüber an der Wand prangende Abendmahl, in dessen Zentrum Marilyn Monroe reizte. Am nächsten waren ihr die Jünger Charlie Chaplin und James Dean alias Johannes und Thomas. Eigentlich sehr passend, dachte Suzanne ... und John Wayne, der reaktionäre Chauvinist, als Judas. Die Jünger Jesus' als Hollywoodstars, eine mit Bedacht gewählte Metapher für den Starkult der Popkultur. Während sie den Kopf zur Seite wandte, um einen Keks zu nehmen, den Heike ihr mit hintersinnigem Lächeln anbot, gewahrte Suzi überrascht das Wechselbild im Poster. Obwohl sie den magic cookie noch gar nicht verzehrt hatte, sah sie sich unvermittelt selbst im Zentrum einer Szenerie, die Charlie in Albert und James in Erwin verwandelt hatte. Die Überblendungen der Figuren versetzten unsere Aphrodite unversehens in ein New Yorker Hotelzimmer des Jahres 1954. Der Paarung von Wahrheit und Schönheit beiwohnend verfolgte Suzi amüsiert wie Marilyn Albert die SRT demonstrierte. Die erotischen Posen Theresas im weißen, ärmellosen Faltenkleid kontrastierten mit Michaels ungebändigt wuseligem Haarschopf. Diese Insignificance hatten die Teens natürlich im Archiv und so verwandelte sich das Hippie-Refugium in die Bilderwelt LSD-modulierter Wissenserotik, die jedoch mit der entsetzlichen Vernichtungsdynamik von Kernwaffen-Explosionen endete.

Zum Glück verwandelte sich der Horrortrip in einen Lusttraum, aus dem Suzi behaglich zwischen Heike und Tom gebettet wie im Hotel California erwachte ...

... we are all just prisoners here, of our own device.

Leicht beunruhigt schloß sie wieder die Augen ...

We are programmend to receive,

You can checkout any time you like,

but you can never leave!

Die Menschen bleiben stets gefangen in ihrer Gefühlsspannweite zwischen Freude und Leid, Begeisterung und Schrecken, Liebe und Haß ... Suzi wälzte sich herum und umklammerte die weichen Rundungen Heikes, die erst zaghaft, dann aber entschiedener ihren Druck erwiderte ... Nur physikalische Experimente und mathematische Strukturen transzendieren die Sinnesbeschränkungen des Bewußtseins. Auch die den Hirnstoffwechsel modulierenden Drogen befreien uns nicht von our own device. Die Mathematik hat unseren Denkhorizont ins Unendliche entgrenzt und die Physik die zehn Größenordnungen unserer Sinnesdynamik auf über 60 erstreckt. Welch eine Bewußtseinserweiterung! begeisterte sich Suzanne und wollte sich über Heike hinweg aus dem Bett rollen als ein Flashback ihr wieder die Nuklearkatastrophen ins Erleben projizierte. Entsetzt dukte sie sich ab und verkroch sich im Leiberknäul unter die Bettdecke. Heike und Tom waren noch zu verschlafen, um viel von Suzis Eruptionen mitzubekommen. Ihre bloße spürbare Anwesenheit genügte aber, sie zu beruhigen. Erneut schlief sie ein ...

... Und begab sich auf eine Reise . Deutlich meinte sie die Verschiebung ihrer Innenperspektive zu spüren, die ihrem Bewußtsein gleichsam einen neuen Bezugspunkt gab: Vor dem Trip liegt die Drift, das Bewußtsein, daß das ganze Leben an einen Punkt gelangt ist, wo das Ich eine andre Qualität erhält und zur Überprüfung all dessen drängt, was seit der Geburt geschehen ist. Aus der Tiefe ihres Kinderbettes heraus erschien ihr wie durch Nebel verschleiert das vertraute, aber besorgte Gesicht ihrer Mutter. Es verschärfte sich wie beim Autofokus einer Kamera. Selbst spürte sie sich nicht. Ihr wurde nur gewahr, daß sie angehoben und auf dem harten Küchentisch zu sitzen kam. Mit baumelnden Beinen und aufgestützten Armen sah sie verschwommen einen Kopf vor sich, aus dem zu beiden Seiten Kabel den Ohren entsprangen, die sich zu einem Kontakt auf ihrer Brust vereinigten. Was war das für eine Verbindung? Noch wunderlicher waren aber die kabellosen Zusammenhänge zwischen den Menschen. Als sie wieder selber laufen konnte, fand sie sich an der Hand ihrer Mutter in einem Wald knickender Stämme wieder. Vielfältige Straßengeräusche im Ohr, vernahm sie über sich ein verwirrendes Stimmengewirr aus schallenden Tönen. In reichhaltig modulierten Klangfarben überlagerten einander hohe und tiefe, klare und dumpfe, laute und leise Stimmen. Dieses fortwährend an- und abschwellende Sprachkonzert ähnelte dem Zwitschern, Gurren, Schnattern, Muhen, Wiehern, Bellen und Grunzen der Tiere auf dem Bauernhof ihrer Vorfahren. Plötzlich wurde es eiskalt und still. Geweckt vom Sonnenlicht, das ihr Kinderzimmer auf dem Lande in eine kühle Helle tauchte, fand sie sich staunend vor dem mit Eisblumen überwachsenen Scheiben der Glastür zur Veranda wieder. Zitternd und fasziniert betrachtete sie die filigranen Eisgewächse, die sich rahmenfüllend über das ganze Glas erstreckten. Das Licht der aufgehenden Sonne durchschien sie mit myriadenfachem Glitzern und Leuchten. Wie bei einer Eisfee fokussierte sich ihr Blick auf ein Kristallzentrum, durch das hindurch sie mit dem Lichtspiel zu entschweben schien. Gleich einer fein verzweigten Modulation der Lichtstrahlen verteilte sie sich mit den sich selbstähnlich symmetrisch verkleinernden, zierlich-zackig ausstrahlenden Kristallmustern im Lichtfeld ihres Zimmers. Ihre sehnend bange Erwartung auf Entgrenzung ihres Körpergefühls über den Raum und die Erde in die kosmische Weite hinaus ging unter im Fließen des schmelzenden Eises. Indem die schauerliche Kühle in wohlige Wärme überging, verflüssigten sich die Kristallränder und liefen Tränen gleich über ihrem Gesicht von der Scheibe, das sich in ihr spiegelte. Der Zauber des Glitzerspiels war dahin! Der Atem ihres Staunens trampelte wie ein Elefant durch den Porzellanladen. Tränenüberströmt schreckte sie hoch und rief entsetzt: Mitleid ist ein Verbrechen. Der Mensch hat ein Recht auf Wahrheit. Aus welcher Bewußtseinsfalle hatte sie sich befreit? Untermalt von der Stimme Janis' : Freedom is just another word for nothing left to loose, empörte sich Bernward über die Verurteilung seiner Freundin Gudrun : Schafft zwei, drei, viele Kaufhausbrände ... Mit der krachenden Feuerlohe eines im WTC explodierenden Flugzeuges schreckte Suzanne erneut hoch. Auf welcher Bewußtseinsebene befand sie sich? In den Armen Heikes und Toms fühlte sie sich geborgen und sicher aufgehoben. Während er ihr die heißen Tränen vom Gesicht küßte, nahm Heike Suzis Hände in die ihren. War das die Wirklichkeit? Oder gab es eine Welt am Draht ? Was verband die Brandstiftungen in Frankfurter Kaufhäusern in der Nacht vom 2. auf den 3. April 1968 mit den Anschlägen auf das WTC in New York am 11. Sept. 2001? War es wiederum ein Rückfall in die Barbarei aus der Dialektik der Aufklärung?
,,Seit je hat Auflklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils. Das schrieben Adorno und Horkheimer unter dem Eindruck der Unmenschlichkeit im Germano-Faschismus``, erlangte Suzanne leise murmelnd ihre Sprache wieder. Gefaßt schaute sie abwechselnd die beiden Teens neben sich an. Die begegneten ihren Blicken mit altkluger Nachsicht.
,,Ähnelt der politische Extremismus im Deutschland der Weimarer Republik dem islamischen Fundamentalismus in den arabischen Ländern der Gegenwart?`` fragte Heike sich in ihrer noch frischen Erinnerung an den Unterricht in deutscher Geschichte.
,,Hoffentlich schütten die Amerikaner das Kind nicht mit dem Bade aus, indem sie weiter die Konflikte schüren, um sie dann bekämpfen zu können ... ``, ergänzte Tom und wurde von Heike unterstützt, indem sie ahnungsvoll wissen wollte:

,,Wer hatte denn den Reichstag angezündet?``

,,Schon wegen der Sicherung einer erdumspannenden Rüstungskontrolle ist eine Abgrenzung der westlichen Zivilisation von den islamischen Kulturen nicht möglich. Zudem hat die Globalisierung bereits zu einer weltweiten Durchmischung der Kulturen geführt. Auch für die arabischen Länder sehe ich nur die Möglichkeit der Zivilisierung ihrer Kulturen, um den global operierenden Islamisten die gesicherten Rückzugsbasen zu nehmen. Darin besteht die politische Herausforderung des 21. Jahrhunderts!`` beendete Suzanne aufgeräumt und bestimmt ihren Exkurs.

Am nächsten Tag hatte Suzi sich mit Olga verabredet, um in der Bibliothek Utopias ihre Vorüberlegungen zum Seminar zu einem roten Faden zu spinnen. Ihre mit Marianne in New York angefangenen Arbeiten erschienen nunmehr in einem neuen Licht:

Gemessen an der kleinen deutschen Kulturrevolution zwischen 1967 und 1977, die noch im Zeichen der Aufklärung stand, drohte der Rückfall ins Mittelalter. In den 1970ern hatte Suzi ihre Pubertät durchlebt und den Rausch genossen aus der Übereinstimmung von Persönlichkeitsbildung und Gesellschaftsveränderung. Mehrmals war sie in Bernwards Romanessay auf Reisen gegangen. Und heute? Heute lasen junge Leute den Alltagsschwachsinn aus Klatsch und Tratsch der Schlager- und Fußballstars. Welch ein Wandel! Gehen Trivialkultur und Religionswahn vielleicht Hand in Hand? Die Aufklärer hatten die intellektuelle Dekandenz in den Mythen, den Religionen, der Romantik sowie vom Positivismus bis in die Postmoderne hinein überwinden wollen. Die Islamisten dagegen geißelten die moralische Dekandenz der westlichen Zivilisation ebenso wie seinerzeit die Faschisten gegen die entartete Kultur der Weimarer Republik vorgingen. Moral ist aber immer beliebig und Ausdruck von Willkür: wie die primitiven Gefühle des gesunden Volksempfindens. Islamo- und Germano-Faschisten entlehnten ihr Weltbild den Stammesriten von Kameltreibern und wundergläubigen Bauern. Welch ein Rückfall in die Barbarei! Nur nicht ins Moralisieren abgleiten, rief Suzanne sich zur Raison. Nichts ist praktischer als eine gute Theorie. Und das Merkwürdigste auf der Erde? - Der Mensch! dachte sie schmunzelnd. Waren die Religionen als semantische Umweltverschmutzung genauso unvermeidbar wie die Abgase als physische Umweltverschmutzung? Ein Preis der Zivilisation? Die Dialektiker sahen das so. Zur Vermeidung von Religionen gab es die analytische Philosophie, zur Vermeidung giftiger Abgase die Wasserstoff-Technologie. Könnte der materiellen Basis des Sonnenzeitalters nicht ein neuer religiöser Überbau erwachsen, der so rational wäre wie die Lebensverhältnisse, aus denen er hervorginge? Unversehens schien die Ikone des Frauenzeitalters in ihr auf. Lächelnd wandte Suzi sich den Büchern zu, die sie zielbewußt und gedankenversunken aus der Abteilung Utopien des 20. Jahrhunderts genommen hatte: Die Reise und Das rote Jahrzehnt.

Alberts Formel von der Trägheit der Energie: E = m c2 schien Bernward fasziniert zu haben. Seine Übertragung auf die revolutionäre Praxis zeugte allerdings von physikalischem Unwissen: Energie = Erfahrung * Hass2. Einsteins Gleichung folgte aus einer Invarianzforderung, ebenso die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit. Sie ist nicht metaphorisch gemeint. Ihre erschreckende Gültigkeit zeigt sich im Massenverlust, aus dem die Kernwaffen ihre Energie speisen. Welche Invarianten könnten dem gesellschaftlichen Wandel zugrunde liegen? Die menschliche Natur? Die Macht der Gefühle jedenfalls ist seit Jahrhunderttausenden gleich geblieben. Ich fühle, also bin ich, erinnerte Suzanne den Buchtitel aus Pauls Klo. Und wie verallgemeinerbar war die Maxime der Utopisten? Erstrebe das soziale Optimum zwischen dem Erhalt der natürlichen Lebensbedingungen und der Ausgestaltung der persönlichen Lebensmöglichkeiten der Menschen. Die rationale Optimierung des menschlichen Zusammenslebens. Darum ging es. Aber fielen neben den Religionsverrückten nicht auch die spießbürgerlichen Sauberkeitsfanatiker aus dem Geltungsbereich der utopischen Maxime heraus? Die Leute, die ständig was zu mähen und zu waschen, zu polieren und zu fegen haben. Kleinkarierte Spießer eben, die Fromm als nekrophil enttarnt hatte. Ganz zu schweigen von den sich ausbreitenden Allergien bei den zu reinlich gehaltenen Kindern. Suzi kamen Bilder aus dem Schweinestall und Szenen aus dem Heu in Erinnerung. Ihrer Mutter ebenso wie ihrer Oma hatten die Spiele der Kleinen nichts ausgemacht, im Gegenteil! Aber im Kapitalismus, der den Konsum zum Selbstzweck gemacht hat, kann gar nicht genug verschwendet werden. Hauptsache der private Profit stimmt! Dabei sind Geld und Macht nicht die einzigen sozialen Regulationsmittel, auch Energie und Entropie gilt es zu optimieren. Wäre das nicht die Aufgabe für eine neue Werttheorie?

Unbemerkt näherten sich Al und Olga der ihren Gedanken anhängenden Suzanne. Beide machten einen überaus beglückten Eindruck; fast so wie ein frisch vermähltes Brautpaar. Ein natürlich abwegiger Vergleich! Hielten doch beide die Ehe für ein Gefängnis. Sie mögen sich wohl eher wie Albert nach dem Fassen seines glücklichsten Gedankens des Lebens gefühlt haben. Der Vergleich war schon besser. Denn was den beiden zusammen mit den Forschern aus dem biologischen und physikalischen Labor Utopias gelungen war, glich einer Sensation, die alles bisherige weit in den Schatten stellte. Al und Olga drohten zu platzen vor Ungeduld; denn es war ihnen nichts geringeres als die Teleportation komlexer Anlagen und - höherer Säugetiere gelungen. Zudem hatten sich einige verwegene Schüler und Studierende teleportieren lassen. Der Vorgang selbst blieb ihnen unbemerkt und sie schilderten ihn wie das Einschlafen und Wiedererwachen an einem anderen Ort; ganz so wie beim täglichen Eintritt und Verlassen Utopias. War damit das Geheimnis der Zugangkontrolle Utopias gelüftet? Was aber noch hinzu kam und das Glücksgefühl der beiden ins Astronomische katapulierte, war die seltene Koinzidenz zweier Ereignisse, die nur zusammen eine kühne Vision Wirklichkeit werden ließen: in der Milchstraße waren einige Planeten entdeckt worden, die der Erde hinsichtlich ihrer Lebensbedingungen sehr nahe kamen.

Leise hatten sich Al und Olga Suzi gegenüber an den Tisch gesetzt und eine Sternenkarte mit den eingezeichneten Koordinaten der erdähnlichen Planeten vor sich ausgebreitet, die sie langsam vorschoben ... bis sie ins Blickfeld Suzannes gelangte. Die reagierte natürlich nicht sogleich. Aber Al und Olgas Glücksüberschwang muß so groß gewesen sein, daß Suzi aufmerkte und - in zwei vor Erwartung berstende Gesichter schaute.

,,Na, welche Droge habt ihr denn gerade ausprobiert? Oder habt ihr mal wieder einige multiple Lustschauer dem Orgasmothron entlockt?`` scherzte Suzi nichtsahnend.

,,Viel schöner``, platzte es aus Olga heraus, indem sie schöner in einen langgezogenen Schrei ausstieß, der alle Mitleser aufschreckte und neugierig machte. Dicht gedrängt umstanden sie nach kurzer Zeit den Tisch.

,,Alle diejenigen``, die sich bisher eh' nur in Utopia aufgehalten haben, weil der Planet hier sie zu langweilen begann ob der bizarren Auswüchse von Religionswahn und sonstigem Schwachsinn in den Trivialkulturen der höchst merkwürdigen Menschen hier ... alle diejenigen``, hob Al erneut mit eifernd ironischem Unterton an, ,,können sich in userer Heimatgalaxie einen neuen Planeten aussuchen.``

Nach einem Moment regloser Stille unglaublichen Staunens setzte geschäftiges Treiben ein. Es galt einiges vorzubereiten und zu berücksichtigen. Niemand sollte bei der Teleportation ganz Utopias zu schaden kommen und auch kein Outsider von dem Vorhaben etwas mitkriegen. Suzanne war leicht ungehalten darüber, daß die Forschungen zur Teleportation in Utopia offensichtlich sehr viel weiter voran geschritten waren als Al ihr mitgeteilt hatte. Und auch Olga war eingeweiht gewesen, ohne etwas durchblicken lassen zu haben. Wie gerne hätte Suzanne zumindest Marianne dabei gehabt;- aber hatte die ihr Leben nicht längst selbst in die Hand genommen? Als Katastrophenszenario einigte man sich auf ein Erdbeben, das rechtzeitig angekündigt wurde und zur Evakuierung der gesamten umliegenden Region von Big Sur führte.

Zum Jahresende 2001 hatte Marianne von ihrer Mutter eine, auch nach mehrfachem Lesen noch höchst seltsame Mail empfangen, in der sie ihr in geradezu pathetischen Worten einen glücklichen weiteren Lebensweg wünschte. Paul hatte gleich mehrere Mails ähnlichen Inhalts erhalten ... und er verstand! Marianne gegenüber ließ er sich jedoch nichts anmerken, versuchte sie zu beschwichtigen und durch einen Kinobesuch abzulenken. Die exzellent restaurierte Version der Space Odyssey 2001 stand auf dem Programm. In Mittelposition vor der Breitwandleinwand überfiel Marianne das Gefühl grenzenloser Verlorenheit in der endlosen Weite des Alls. Der Beam des Monolithen nach seiner Entdeckung auf dem Mond verfolgte sie bis in den Traum hinein, den ihr Hirn am nächsten Morgen gleichsam als Fortsetzung inszenierte: von Big Sur aus schoß ein heller Strahl ins All und verschwand in der Weite der Milchstraße.

Marianne schreckte hoch. Verwirrt schaute sie um sich. Die vertraute Umgebung an der Seite Pauls und der Kaffeeduft des Frühstücks im Bett, beruhigten sie aber wieder. Entspannt reckte und streckte sie sich und - schaute in das ernst-besorgte Gesicht ihres Lovers. Sein starrer Blick wies sie auf die Schlagzeile der Zeitung, die er vor sich in Händen hielt: Earthquake in California! Big Sur totally destroyed! Darunter war das Bild eines riesigen Kraters, der sich in dunkler Tiefe verlor, wo einstmals der schönste Platz der Welt war ... ,,Nein!`` schrie Marianne empört und entsetzt, traurig und verlassen zugleich. Paul nahm sie in den Arm, wo sie sich lange ausweinen konnte.


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Ingo Tessmann
11/2/2003