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Nachtflug

Von New York nach San Francisco hatte Suzanne einen Nachtflug gewählt. Ausgeschlafen und erwartungsvoll bestieg sie gegen 23 Uhr die Boeing . Die Sponsoren der Konferenz hatten sich nicht lumpen lassen und den Teilnehmern first class tickets finanziert. Durch die Zeitverschiebung würde sie nicht lange nach Mitternacht an der Westküste sein. Sie hatte es sich bequem gemacht und schaute ins tiefe Schwarz des Nachthimmels. Neben sich gewahrte sie die ruhigen Atemzüge ihres Sitznachbarn. Kurz nach dem Start hatte er die Liegeposition eingenommen und war sogleich eingeschlafen. Suzanne drehte sich um und sah ihn an. Sein zur Seite geneigtes Gesicht war ihr zugewandt. Die Unschuld des schlafenden rührte sie. Lächelnd forschte sie in seinem Antlitz. Er wirkte vollkommen entspannt. Seine dunklen Haare waren kurzgeschnitten, die Rasur ließ keinen Bart erkennen. Der Schlaf rundete seine leicht kantigen Gesichtszüge. Er trug einen hellgrauen Anzug. Sein Jacket hatte er abgelegt, das dunkelblaue Hemd oben aufgeknöpft und die Ärmel umgekrempelt. Seine schwarzbehaarten Arme gingen in ungewöhnlich feingliedrige Hände über. Suzanne schaltete die Leselampe an und kramte ihre Reiselektüre heraus. Diesmal hatte sie nicht nur ihr Bordgepäck dabei, sondern auch noch einen Koffer mit der neuen Garderobe aufgeben müssen. Sie griff zu Tonis Nachtflug. Andre Gide hob im Vorwort hervor, daß alles, was Saint-Exupery erzähle, den Stempel des Selbsterlebten trage. Die Erzählung sei zugleich Literatur und Dokumentation. Gerade diese Verbindung interessierte Suzanne. Leider war das Zusammenspiel von Fachkompetenz und Prosa sehr selten. Sie blätterte um. Der Pilot steuerte in den nahenden Abend wie in die Gewässer eines Hafens. Stille weithin, kaum gefurcht von ein paar leichten, regungslosen Wolken. Glückliche Geborgenheit einer riesigen Reede. In der Weite des Firmaments war es egal, ob man in einer fliegenden Kiste oder in einem Riesenvogel saß. Vor Suzannes innerem Auge schien das faszinierende Panorame des Sternenhimmels über dem Nordmehr auf, in dem als winziger Leuchtpunkt die Titanic versank.

Der Motor weckte in der Materie einen ganz sanften Strom, der ihre Eishärte in samtweiches Fleisch verwandelte. So war es immer. Weder Schwindel noch Rausch empfand man im Flug, sondern nur das geheimnisvolle Arbeiten eines lebendigen Organismus. Saint-Ex empfand sein Flugzeug wie ein Lebewesen. Dann, als nichts schwankte, nichts vibrierte, nichts zitterte und sein künzlicher Horizont, sein Höhenmesser und der Tourenzähler ganz ruhig blieben, streckte er sich ein wenig, lehnte seinen Nacken gegen das Leder des Sitzes und begann sich der tiefen Beschaulichkeit des Flugs hinzugeben, die einen wohlig mit einer unerklärlichen Hoffnung erfüllt. Der war also auch zu dieser innigen Konzentration fähig und bereit, sich ihr hinzugeben, dachte Suzanne. Auch die Technik birgt ein Geheimnis und ihr Erleben weckt Hoffnung, die unerklärt bleibt. Der Pilot folgt einer dunklen Macht, wenn er sich aus der Behaglichkeit des trauten Heims in die Lüfte hinaufschwingt wie von einem Meeresgrund. Die Frau bleibt nicht nur auf der Erde zurück, sinnierte Suzanne beim Weiterlesen, sondern in der Tiefe des Meeresgrundes. Den Mann zieht es in seinem Drang nach Licht weiter und weiter hinauf: Er erkannte wohl, daß das eine Falle war: man sieht drei Sterne in einem Loch, man steigt zu ihnen hinauf, dann kann man nicht wieder hinunter und mag da oben bleiben und Sterne beißen ... Aber sein Hunger nach Licht war so stark, daß er stieg ... Welch eine aristokratische Verklärung des einsamen Helden, dachte sie und schaute in das Lächeln ihres Nebenmannes.

Er war sanft erwacht und hatte eine Weile mitgelesen: ,,Guten Morgen``, sagte er leise und hob langsam den Kopf. Suzanne nickte ihm freundlich zu und versank in seinen tiefblauen Augen bis auf den Meeresgrund. Die Bilder des Gelesenen verblaßten und sie gewahrte, wie sich ihr Sitznachbar vorstellte: ,,Ich heiße Werner Braun. Entschuldigen sie bitte mein Mitlesen; aber als Ingenieur interessieren mich Betrachtungen über die Fliegerei ... und da ihr Buch geradewegs in mein Blickfeld fiel ... Um welches Buch handelt es sich eigentlich?`` fragte er mit einer Nervösität, die sie nur allzu gut kannte.

Suzanne klärte ihren Nebenmann auf und stellte sich ihrerseits vor: ,,Ich heiße Suzanne Lorenzen und bin auf dem Weg zu einer Konferenz über Quantengravitation.``

,,Quantengravitation ... ``, wiederholte Werner gedehnt erfurchtsvoll, setzte sich aufrecht, schaute auf seine Digitaluhr und winkte die Stewardess heran. ,,A coffee, please.``

,,And for you?`` wandte sich die Flugbegleiterin an Suzanne. ,,An orange juice, please``, erwiderte sie mechanisch; denn eigentlich hatte sie überhaupt keinen Durst.

Werner entschuldigte sich und verschwand mit einem Handkoffer auf der Toilette. Als er frisch duftend und umgezogen zurückkam, hatte die Stewardess serviert und etwas Gebäck dazu gelegt. Suzanne verfolgte aufmerksam Werners Treiben. Ihr fiel dabei ein Satz Tonis ein: Sich bewußt werden heißt, einen Stil erwerben, sagte sie laut und nicht ohne einen Anflug von Ironie. Er hatte einen schwarzen Anzug zu hellrotem Hemd und dunkelroter Krawatte gewählt. Vielleicht konnte er seine schöne Sitznachbarin später in die Hotelbar ausführen. Mit ihrem Hinweis auf den Stil hatte sie ihm sogar eine Brücke gebaut. Mal sehen, wir tragfähig sie war. Ihr ironischer Unterton und die Beziehung zwischen Stil und Bewußtsein blieben ihm allerdings unverständlich. So versuchte er, Zeit zu gewinnen, nahm einen Schluck Kaffee und aß einen Keks. Dabei entging ihm nicht ihr verschmitztes Lächeln. Als Ingenieur hielt sie ihn wahrscheinlich für ungebildet und machte sich über ihn lustig. Aber was soll's? Bei einer so schönen Frau konnte man nur gewinnen, auch wenn man verlor. ,,War das ein Satz des Nachtfliegers?`` fragte er betont beiläufig.

,,Er deutet sehr schön Saint-Exuperys aristokratische Haltung an. Solche Leute werden sich ihrer selbst bewußt durch den Stil.`` Suzanne sah ihn listig an und forschte in seinem Minenspiel.

Unser Ingenieur wollte sich nicht aufs Glatteis führen lassen und antwortete ausweichend: ,,Ich kenne Saint-Exupery nur als Autoren des kleinen Prinzen. Meine Frau las das Buch unseren Kindern vor ... ``

,,Während sie in der Welt herumreisten?``

,,Ich bin in der Tat häufig unterwegs und komme selten zum Lesen. Ich arbeite für DaimlerChrysler an der Verbindung von Autoverkehr und Internet.`` Mal sehen, ob sie sich für Technik interessiert, dachte er und trank einen weiteren Schluck Kaffee.

,,Sie wollen aus dem Auto einen mobilen Arbeitsplatz machen? Nach Freisprechanlage und Navigationssystem soll der Fahrer mit dem Datennetz interagieren können?`` fragte Suzanne gespielt erstaunt; denn davon hatte sie natürlich schon gehört. Ihr paßte allerdings die ganze Richtung nicht ...

,,Genau``, entgegnete Werner erfreut darüber, das Gespräch in kontrollierte Bahnen gelenkt zu haben. ,,Woran wir gerade arbeiten, ist die Verbesserung der maschinellen Spracherkennung. Der Fahrer soll sich ja nach wie vor auf das Fahren konzentrieren können, obwohl auch das zunehmend technisch erleichtert wird, z.B. durch eine Abstandsautomatik oder die automatische Verzögerung beim zu schnellen Fahren in Kurven. Wie bei der Freisprechanlage zur menschlichen Kommunikation, soll das Auto in den verbalsprachlichen Zusammenhang des Fahrers einbezogen werden. Die technischen Eigenschaften des Autos selbst sowie Navigationssystem und Internet sollen zu einem umfassenden Informationssystem verschmolzen werden, mit dem in für Menschen üblicher Weise verbalsprachlich umgegangen werden kann. Fahrgeräusche und die Unterhaltungen von Mitfahrern z.B. machen uns momentan noch zu schaffen bei der Spracherkennung. Wird das Auto auf seinen Fahrer und seine eigenen Geräusche in möglichst vielen Alltagssituationen hinreichend gut trainiert, funktioniert das System bereits zufriedenstellend. In Kalifornien haben wir einige Testfahrzeuge im Einsatz. Eins davon steht für mich am Flughafen bereit. Wenn sie nicht schon abgeholt werden sollten, könnte ich sie mitnehmen.`` Er sah sie freudig und erwartungsvoll an.

Schmunzelnd erwiderte sie seinen Blick. Da er verheiratet war, konnte sie sein Angebot als Höflichkeit durchgehen lassen. Statt eines Taxis könnte sie ebenso gut sein sprechendes Superauto nutzen. Ihre Konferenz begann erst übermorgen. Da sie noch im City Lights Bookshop stöbern wollte, hatte sie in der Nähe ein Hotelzimmer reserviert. Während Suzanne noch zögerte, hatte Eva sich längst entschieden: ,,Vielen Dank. Ihr Superauto würde ich mir gerne mal ansehen. Ich habe vor der Konferenz noch etwas Zeit und mich im Holiday Inn, Columbus Ave., einquartiert.``

Für einen Moment blieb Werner sprachlos. Und so ergriff Adam das Wort: ,,Fein, dann lassen wir uns ins Holiday Inn navigieren.``

Adam und Eva waren sich schnell einig geworden. Suzanne und Werner trennten allerdings Welten. Während sie nach der Weltformel fahndete und ein selbständiges Leben in Utopia anstrebte, war er im Auftrag eines Weltkonzerns mit der Lösung technischer Detailprobleme zur Verbesserung von Autos beschäftigt. Für sie war die Ehe eine Gefängnis, für ihn die Heirat selbstverständlich. Suzanne machte Urlaub, um ungestört mit sich allein sein zu können. Dazu bedurfte es keiner Ortswechsel. Er dagegen fuhr regelmäßig mit der Familie in den sonnigen Süden, sogar nach Mallorca. Denn zuhause ging man sich schnell auf die Nerven.

Um das Einverständnis nicht überzubetonen, hob Suzanne zur Kritik an der Autogesellschaft an: ,,Ich sehe das Potential des Internets eher darin, die Autogesellschaft auf dem Weg in die Informationsgesellschaft zu überwinden.``

,,Ein Grund mehr für die Autokonzerne, in die Informationstechnik zu investieren``, entgegnete Werner nüchtern. ,,Die Integration von Verkehrs- und Informationstechnik wird auch der Robotik zu gute kommen.``

,,Verkehrsleitsysteme, die dem Fahrer die Kontrolle über sein Gefährt nähmen, wären aber nicht verkaufbar``, begann Suzanne zuzuspitzen: ,,Männer wollen rasen und protzen! Ihnen geht es nicht nur darum, bloß einen Ortswechsel vorzunehmen.`` Sie trank ihren O-Saft und präsentierte gleich noch eine Lösung des männlichen Größenwahns: ,,Sollten aus den selbstgefahrenen Autos tatsächlich autonome Roboter werden, also Automobile im eigentlichen Sinne, müßten die Ausführungen für Männer mit virtuellen Umgebungen zum Rasen und Protzen ausgestattet werden.``

Leicht verblüfft nahm Werner Suzannes Engagement zur Kenntnis. ,,Das Rasen scheint mir eher ein Syndrom deutscher Fahrer als der Männer schlechthin zu sein. Die Schaffung virtueller Realitäten ist natürlich in vollem Gange, z.B. zur Verbesserung der Fahrsicherheit, zur Entwicklung von Verkehrsleitsystemen ... ``

,,Wozu überhaupt noch Verkehr, wenn sich Ortswechsel hinreichend virtualisieren lassen sollten?`` ereiferte sich Suzanne.

Nun wurde es Werner zu bunt. Sie lockte ihn aus der Reserve. ,,Wozu denn überhaupt noch Leben, wenn es sich hinreichend virtualisieren lassen sollte? Schwebt ihnen vielleicht eine MATRIX vor?``

,,Hinsichtlich seiner religiösen Erlösungsperspektive fand ich den Film zum Kotzen``, begann Suzanne erregt, ,,aber zur Lösung der Umweltprobleme, zur Erhaltung der Biosphäre hier auf der Erde, bot er eine beachtenswerte Perspektive. Denn die Scheinwelten, in denen die meisten Menschen leben, sind bereits in hohem Maße virtuell. Wem z.B. künstlicher Wein besser schmeckt als echter oder wer im Urlaub bloß auf schönes Wetter, Sex und Alk aus ist, dem werden zukünftig Simulationen geboten, die er gar nicht mehr als solche erkennen dürfte.``

Werner hatte den Eindruck, einen anderen Film gesehen zu haben. ,,Für mich hatte das Problem der Selbstbezüglichkeit im Vordergrund gestanden: Woran merkt ein Gehirn im Tank, daß es sich im Tank befindet, wenn es in Nährlösung schwimmt und mit seinen Sinneseingängen und Motorikausgängen an einen Supercomputer angeschlossen ist, der eine natürliche Umwelt zu simulieren erlaubt?``

,,Die Frage hatte ihr Urheber Putnam doch selbst schon beantwortet``, entgegnete Suzanne. ,,Ein Hirn, das sich zu fragen vermag, womöglich bloß ein Hirn im Tank zu sein, kann sich nicht im Tank befinden. D.h. Sprache ist ein intersubjektives Phänomen zwischen vielen Gehirnen.``

,,Sie meinen, einige Gehirne müßten prinzipiell außerhalb bleiben? Dem widerspricht aber nicht, wenn man z.B. einen sprachkompetenten Menschen im Schlaf entsprechend präparieren würde ... ``

,,Ihm sein Hirn entfernte, es an einen Nährstoffkreislauf anschlösse und mit einem Supercomputer verbände?``

,,Genau! Würde er beim Wiedererwachen etwas bemerken können?``

,,Von der top down Perspektive ausgehend, könnte es sogar eine Hierarchie von verschachtelten Hirn-zu-Hirn Repräsentationen geben. Ebenso wie Computer-in-Computer Hierarchien möglich sind.``

,,Und wenn wir bereits auf der obersten Stufe annähmen, daß die Hirnpräparateure das cerebrale Gewebe Zelle für Zelle einschließlich all ihrer jeweiligen Verbindungen funktionsinvariant elektronisch ersetzen würden, wären die Bewußtseine von Anbeginn im Supercomputer integrierbar und könnten später sogar weitgehend in Software transformiert werden.``

,,Und während der Umbauphasen hätten die Menschen lediglich den Eindruck, geschlafen zu haben``, sagte Suzanne lachend und sah Werner verschmitzt an. ,,Beunruhigt sie das gar nicht?``

,,Warum sollte es? Ich könnte es ja prinzipiell nicht in Erfahrung bringen.`` Leicht verwundert schaute er sie an.

Suzanne kam ein Shakespeare -Zitat in den Sinn: ,,Wir sind der Stoff aus dem die Träume sind, und unser kleines Leben ist vom Schlaf umringt.`` Es entstand ein Moment intensiver Stille, in der die beiden einander zu erforschen suchten. Wenn der Dichter spricht, dachte sie, und mußte irgendetwas in ihm berührt haben. Er war schwer beeindruckt. Wie sie science fiction mit Poesie zu verbinden wußte! Da er sich mit Literatur nicht auskannte, staunte er sie nur mit Kinderaugen an. Lächelnd und heiter begann Suzanne mit ihrer Interpretation der Zeilen: ,,Wach- und Traumbewußtsein sind aus gleichem Stoff. Verändert ist nur die Perspektive. Im Wachbewußtsein haben wir den Eindruck, autonom zu agieren. Im Traum dagegen sind wir eher erlebender Zuschauer. Der Traum könnte gleichsam den Weg zu einer Virtualisierung des Bewußtseins weisen. Denn er speist sich kaum aus den Sinnen selbst, sondern vornehmlich aus den Repräsentationen ihrer Projektionszentren. Darunterliegend ließe sich das Leben selbst als Traum der Natur deuten. Das Sterben wäre dann nichts weiter als ein Einschlafen im Schoß von Mutter Erde, und die Geburt ein Erwachen auf einer höheren Bewußtseinsstufe.``
Werner hatte interessiert ihren Worten gelauscht, den Gedanken aber nicht ganz folgen können. Er sah sie ungläubig an. Sie schien ihm unversehens in esoterische Gefilde abgedriftet zu sein. Sein Unbehagen entging ihr nicht. Als Ingenieur konzentrierte er sich auf ein Teil aus dem Ganzen: ,,Das Traumbewußtsein scheint mir noch am ehesten mit einem Erlebnisprogramm im Rechner vergleichbar zu sein.``

Sie griff seinen Hinweis auf: ,,Traum- und Wachbewußtsein haben das Gefühl der Selbst-Identität gemeinsam. Und da sich das materielle Substrat dieses Gefühls von Selbst-Identität auch im Schlaf erhält, könnte es womöglich in eine viel einfachere Umgebung als die des Gehirns transferiert werden.``

,,Im Rechner würden wir dann wie im Traum wiedererwachen und zunächst nichts bemerken, da die Träume `eh meist' wenig mit dem wachen Erleben zu tun haben``, sponn er den Gedanken begeistert weiter.

Suzanne dämpfte seinen Überschwang: ,,Aber was, wenn es sich um einen Alptraum handelt? Ich denke, sie kennen das Gefühl grenzenloser Erleichterung beim Erwachen aus einem Alptraum. Man sieht sich um, horcht hinein in die gewohnte Welt und stellt beruhigt fest: alles nur geträumt!``

,,Nicht nur das Erwachen, sondern auch das Einschlafen befreit von Träumen. Andererseits wäre das Erwachen in einer neuen, weniger alptraumhaften Umgebung möglich. Wesentlich scheint mir in der Tat nur die Übertragung dessen, was sie Selbst-Identität genannt haben.``

,,Die bestehen bleibt, auch wenn man sich selbst nicht fühlt, sondern tief schläft``, fuhr Suzanne fort. ,,Was aber, wenn es sich nicht um einen eng umgrenzten Zellverband handelt, sondern gleichsam um eine nichtlokale Erregung im gesamten Gehirn? Der Mathematiker Penrose z.B. spekuliert über quantenmechanische Verschränkungen in den Zuständen der Mikrotubuli des Zytoskeletts. Narkosemittel, wie die Isoflurane beispielsweise, wirken nicht nur auf Menschen, sondern auch auf Einzeller!``

,,Interessant!`` warf Werner ein.

,,Der Mediziner Damasio andererseits weist darauf hin, daß das sogenannte Kern-Selbst in der Tat nur über einige eng umgrenzte Hirnareale verteilt seine dürfte. In einem Stufenkonzept sind natürlich beide Ansätze vereinbar. Aber nur quantenmechanische Verschränkungen würden die Einzigartigkeit des Selbst gewährleisten. Denn Quantenzustände sind prinzipiell nicht klonierbar; nur teleportierbar.``

,,Sagenhaft!`` entfuhr es Werner im ironischen Tonfall Loriots.

Suzannes intellektueller Höhenflug zerstob in Heiterkeit, der eine nachdenkliche Ruhe folgte. Werner versank in Allmachtsphantasien und weidete sich an der Vorstellung, mit den simulierten Erlebniswelten im Rechner zu spielen, indem er ihre virtuellen Realitäten manipulierte. Vielleicht konnte man mit ihnen Kontakt aufnehmen, ihnen gleichsam im Traum erscheinen.

Suzanne war sich nicht sicher, ob Werner sie noch ernst genommen hatte. Seine Unkenntnis der Qauntenmechanik hatte er durch Ironie zu überspielen versucht. Jedenfalls war MATRIX kein seriöser science fiction Film, sondern missionarische Hollywood-Unterhaltung. Der spielerische Ansatz in Cronenbergs eXistenZ war sehr viel subtiler, da er die Spielebenen in der Schwebe hielt. Man war sich nicht sicher, in welchem Computerspiel man sich gerade befand. Spiele, die via Bioport am Rückenmark angeschlossen wurden, nahmen so vollständig von einem Besitz wie die MATRIX. Durch häufiges Spielen verloren die Teilnehmer allerdings den Realitätsbezug und spielten noch mit Ballerspielen, obwohl sie womöglich wieder in der Wirklichkeit waren. Am besten gefiel ihr nach wie vor Faßbinders Welt am Draht. Schon damals konnten sich die Programmierer der virtuellen Realität selbst in ihre Simulation versetzen lassen; wobei ihnen aufging, daß auch sie selbst nur virtuell waren. Und mit wie viel Feingefühl Fassbinder die Szenerien in der Schwebe hielt zwischen Wirklichkeitsauffassung und Simulation. Das Gefühl der Fremdheit und Unwirklichkeit unterminierte mehr und mehr den Fortgang der Handlung ...

Ein Fallschreck fuhr Suzanne in den Magen und riß sie aus ihren Gedanken. Sie sah sich um und bemerkte die Leuchtschrift: Fasten your seat belts!

Äußerlich wirkte Werners Superauto wie ein Coupe der E-Klasse. Nachdem die beiden ihr Gepäck verstaut und gesichert Platz genommen hatten, meldete sich unaufgefordert eine wohlklingende Damenstimme zu Wort: ,,Hallo Werner, ich freue mich, `mal wieder bewegt zu werden. Wo soll es denn hingehen?`` Während der Wagen selbsttätig seinen Motor startete, antwortete Werner: ,,Columbus Ave., Holiday Inn.`` Suzanne bemerkte verblüfft, wie sich das Gefährt in Bewegung setzte, ausparkte und den Weg in Richtung Bayshore Freeway einschlug. Werner blickte sie nicht ohne Stolz an: ,,Wenn es ihnen nicht geheuer ist, kann ich auch selbst fahren. Mein Auto findet sein Ziel wie ein Marschflugkörper; hält sich in der Regel an den Straßenverlauf, achtet auf Verkehrszeichen und nimmt auf Hindernisse Rücksicht.``

,,Das will ich hoffen``, erwiderte Suzanne mit gespieltem Gleichmut. ,,Ihr Auto muß ja vollgestopft mit Elektronik sein. Allerdings sehr diskret, wie mir scheint.`` Sie sah forschend umher und konnte auf Anhieb nichts Verdächtiges ausmachen.

,,In der Tat!`` pflichtete er ihr bei. ,,Auf unseren Teststrecken lassen wir die Autos gänzlich selbst fahren. Im Alltagsverkehr einer Großstadt haben wir das aber noch nicht gewagt.``

Der Wagen bog in den weiten Bogen zum Freeway ein. Suzanne erwartete gespannt, wie er sich wohl in den Verkehr einfädelte. Eine leichte Unruhe ergriff sie. Das gemächliche Dahinfließen des spärlichen Nachtverkehrs machte dem Gefährt allerdings keinerlei Probleme. Die Amerikaner fahren halt viel gelassener als die Deutschen. ,,Haben sie ihr Auto schon `mal in Deutschland fahren lassen?``

,,Das dürfte ungleich schwieriger sein; denn die Deutschen fahren viel zu hektisch. Und außerdem wollen sie unbedingt selber fahren nach dem Motto: freie Fahrt für freie Menschen!`` erläuterte Werner ironisch herablassend.

,,Ja, die Krauts sind schon ein sonderbarer Volksstamm. Sie fühlen sich schon frei, wenn sie ohne Geschwindigkeitsbegrenzung über die Autobahn heizen können.`` Trotz des gemächlich dahinfließenden Verkehrs, beobachtete Suzanne nach wie vor argwöhnisch das selbstfahrende Vehikel und versicherte sich ihres Gurtes. Vom Motor war kaum etwas zu hören. Die Nacht war sternenklar und milde, der Innenraum angenehm klimatisiert. Das schwache Rauschen des Fahrtwindes wirkte beruhigend. Sie räkelte sich und merkte, wie sich der Sitz sanft ihren Bewegungen anpaßte. Langsam fühlte sie sich behaglicher. Werner wirkte hinterm Steuer völlig entspannt, obwohl er es überhaupt nicht kontrollierte. Er mußte eine langjährige Erfahrung mit seinem Fahrzeug haben. Womöglich sehnte er sich danach, einstmals mit seinem Kern-Selbst in ein Auto transferiert zu werden ...

Da er sich beobachtet fühlte, schaute er sie an und fragte lächelnd: ,,Woran haben sie denn gerade gedacht?``

,,Ich stellte mir vor, wie es wohl wäre, wenn man mit seinem Kern-Selbst in einem Auto erwachte ... ``

,,Das ging mir auch schon öfter durch den Kopf. Es fragt sich allerdings, ob unser Wissen von der Funktionsweise der Auto-Elektronik mit transferiert werden könnte. Andernfalls müßten wir es aus der Innenperspektive heraus wieder mühsam erlernen ... ``

,,Die Deutschen ließen sich dann sicher mehrheitlich in Autos verwandeln``, warf Suzanne lachend ein.

Die beiden sahen sich an und dachten dasselbe; nämlich bei aller Faszination für die Möglichkeiten technischer Bewußtseinsübertragung nicht auf den eigenen Körper verzichten zu wollen. Wenn er allerdings hinfällig würde, sähe die Sache schon anders aus ...

Sie näherten sich dem Stadtgebiet San Franciscos. Zur rechten glitzerte das stille Wasser der Bay im Licht der Uferleuchten. Kurze Zeit später befanden sie sich bereits auf dem James-Lick-Freeway und passierten die verschlungenen Kreuzungspfade mit dem Southern-Freeway. Vor dem Einbiegen in die Bryant Str. übernahm Werner das Steuer. Unter der Bay Bridge hindurch fuhren sie auf dem Embarcadero gemächlich an den Liegeplätzen der Bay entlang. Hinter dem Telegraph Hill bog er in die Bay Str. ein und erreichte den Parkplatz unter dem Holiday Inn. Unaufdringlich meldete sich das Auto wieder: ,,Wir sind da, Werner. Ich habe uns Stellplatz 42 reserviert.`` Wie schön, ein mitdenkendes Auto zu haben, dachte Suzanne. Ein Hotelboy stand bereit und nahm ihr Gepäck entgegen.

,,Wenn sie noch Lust auf einen Drink haben, warte ich an der Bar auf sie.`` Adam stand am Wagen gelehnt und sah sie fragend an.

,,Warum nicht``, signalisierte Eva ihr Einverständnis und folgte dem Hotelboy. Suzanne gefiel Werners unaufdringliche Art. Hatte er doch nicht wie die meisten Ingenieure, die sie kannte, mit seiner Technik geprotzt und sie mit der endlosen Schilderung belangloser Details gelangweilt. In ihrem Zimmer trat sie an das große Fenster und blickte über die Straße und einige Gebäude hinweg auf die Bay hinaus. Nach dem langen Sitzen, hatte sie das Bedürfnis, sich ein wenig die Beine zu vertreten. Werner saß noch in der Lobby. Gegen einen Spaziergang hatte er nichts einzuwenden. Sie traten in die angenehm milde und nicht zu trockene Luft hinaus und wandten sich in Richtung Wasser. An Fisherman's Wharf waren noch viele Touristen unterwegs. Musiker und Artisten standen am Weg oder in Häusereingängen. Aus dem Pier 23 drang Jazz-Musik. Am Eingang des Restaurants fiel Suzanne ein Plakat auf. Jane Monheit gastierte gerade in der Music Hall.

,,Das ist ja toll``, begeisterte sie sich. Werner sah sie verständnislos an. ,,Sie hören wohl keinen Jazz. Jane Monheit ist schon mit Ella Fitzgerald verglichen worden. Darüber werde ich mir selber ein Urteil bilden können. Kommen sie doch einfach mit, oder haben sie am Abend schon `was vor? Jane singt nicht nur fabelhaft, sie ist auch eine Augenweide``, wandte sich Eva schmunzelnd an Adam. Der konnte natürlich nicht widerstehen. Und so verabredeten sich die beiden um 20 Uhr vor der Music Hall. Sie gingen auf den Anleger hinaus und lehnten sich am Ende auf das Geländer. Glucksend und schmatzend umfloß das Wasser die Duckdalben. Schemenhaft zeichnete sich Alcatraz über den ruhigen Wellenzügen ab. In der Ferne erleuchtete die Golden Gate Bridge den Ausgang ins Meer. ,,Ich stehe gerne am Wasser``, bemerkte Suzanne. ,,Sein Wellenspiel oder die Brandung wirken beruhigend, ähnlich wie beim Betrachten eines Aquariums.``

,,Als Landratte fehlt mir der Sinn dafür``, entgegnete Werner. ,,Sind sie etwa ein Fischkopp aus Hamburg?`` fragte er heiter.

,,Erraten``, pflichtete sie ihm bei. ,,Ich hielt mich gerne am Elbstrand oder an den Landungsbrücken auf. Voll Wehmut schaute ich immer den auslaufenden Schiffen nach.``

,,So geht es mir in Bahnhöfen oder auf Flugplätzen``, stimmte er mit ein. ,,Schon als kleiner Junge konnte ich stundenlang dem Wechsel der ein- und ausfahrenden Züge, der landenden und startenden Flugzeuge zusehen.``

,,Das ist die Sehnsucht, die Ausländern an den Deutschen häufig auffällt``, ergänzte Suzanne und erinnerte Juans Faszination aus der Zweiten Heimat . ,,Kennen sie den Filmroman Die Zweite Heimat von Edgar Reitz?`` Werner schüttelte verneinend den Kopf. ,,Für mich gehört das Werk zu den herausragendsten filmästhetischen Beiträgen des 20. Jahrhunderts``, begeisterte sich Suzanne im Überschwang der Erinnerung. ,,Der Filmroman enthält auch eine Charakterisierung des Ingenieurs . Reitz läßt einen Kaufmann über die Techniker sagen: Sie müssen sie mit ihrem ganzen Kram einsperren und erst wieder rauslassen, wenn sie alles einmal durchgelötet haben. Aber dann sind sie glücklich und müssen mit ihren Frauen in Urlaub fahren.``
,,Da haben sie es mir aber gegeben``, entrüstete Werner sich zum Schein. ,,Aber was wäre die Zivilisation ohne Technik und was sollten die Kaufleute verkaufen, wenn nicht die Produkte der Ingenieurskunst? Die reine Kunst ist doch demgegenüber zum belanglosen Schnickschnack verkommen! Die wahren Künstler sind heute die Ingenieure.``
,,Und die Physiker bilden die Avantgarde unter ihnen``, fiel Suzanne lachend ein.

In gelöster Stimmung machten sie sich auf den Heimweg. Werner fuhr automobil nach Palo Alto. Suzanne stand noch eine Weile gedankenversunken vor ihrem Hotelfenster und schaute auf die kleinen verstreuten Lichter am gegenüberliegenden Ufer der Bay. Wenn einmal ein Transfer des Kern-Bewußtseins möglich sein sollte, dann schon ins ganze Universum hinein. Ein Weg wie durchs Sternentor in dem Film 2001. Und die Wiedergeburt mit dem galaktischen Bewußtsein eines planetarischen Sternenkindes. Lächelnd drehte sie sich um, zog die Tagesdecke vom Bett, streifte ihren Anzug ab und hängte ihn achtsam in den Kleiderschrank. Heiter und wohlwollend betrachtete sie sich im Ganzkörperspiegel. Die luftigen Seidenspitzen drapierten reizvoll ihren zugleich elfenhaft-grazilen und weiblich-üppigen Leib. Schmunzelnd kam ihr ein Spruch Woody Allens in den Sinn: Human Beings are divided into mind and body. The mind embraces all the nobler aspirations, like poetry and philosophy, but the body has all the fun. Belustigt ging sie pinkeln, putzte flüchtig die Zähne, umwolkte sich mit Moschusduft, löschte das Licht und trat ans Bett: bereit, sich ihrem Körper zu überlassen. Als das Höschen herunterglitt, schimmerte buschig ihr Pelz. Beim Heraufziehen des Dessous schloß sie tiefatmend die Augen und genoß das seidige Streicheln. Ihre Erregung spitzte die Zitzen und feuchtete die Höhle. Der Hauch eines Schauders lief ihr über die Haut. Zitternd und leicht schwankend beschlich sie das Gefühl, betrachtet zu werden. Behutsam und erwartungsvoll wandte sie sich um ... und stand fasziniert vor dem hochaufragenden Spiegel, der kaum mehr ihr Bild zurückwarf. Sie schien mit der eintönigen Schwärze eines Monolithen zu verschmelzen. Äußerlich bertrachtet fiel sie einfach hinterrücks aufs Bett. Selbst hatte sie den Eindruck, durchs Wurmloch des Monolithen hindurch in ihren Brunnen einzutauchen. So begab sie sich auf die Suche nach der goldenen Kugel. Der Frosch tauchte unter und nahm sie ins Maul. Ihr war, als ob sie mit den Fingern leckte. Die fötale Lust am Lutschen ihrer selbst füllte in zuckenden, wellenden Schüben und Schaudern von den Reizpunkten ihren ganzen Körper aus. Dem Freudentaumel folgte die schwebende Entspannung. Im Hochgefühl der Endorphine war Eva gleichsam in sich selbst eingedrungen und hatte im aufsteigenden retikulären Aktivierungssystem ihr Bewußtsein gesprengt. Dem Kitzel folgend schoss sie durchs Rückenmark und zündete in den Stammhirnkernen die ersten Explosionen. Thalamanische Hirnregionen veranlaßten weitere Körperbeben und die sensomotorischen Schaltwerke des cingulären Cortex endlich verschmolzen Evas Fühlen zum regenden Erleben. Ihr Körperbeben wurde grenzenlos und erstreckte sich gleich einer Quantenfluktuation aus der winzigen Planckzelle heraus über den gesamten Kosmos: Dasselbe nämlich ist Wissen und Sein, hallte es endlos in ihr wider.

Beim Erwachen fühlte sie sich ermattet wie nach einem langen, heißen Vollbad. Ihr ozeanisches Gefühl umfassenden Erlebens und entgrenzter Beweglichkeit floß wie im Strudel eines Abflusses wieder in sie hinein. Der Satz Parmenides' verfehlte seine Wirkung nicht. Quantenkosmologen gingen noch darüber hinaus. Sie postulierten eine Entstehung aus dem Nichts. Ihr Traum hatte auf wundersame Weise Seinsdrang und Wissenslust zusammengebracht. Allmählich gewahrte sie wieder das Rauschen der Großstadt. Sie sah zum Fenster hinaus. Die Sonne schien diffus durch neblige Schleier. Auf dem Nachtschrank stand ein Radiowecker. Es war bereits mittag. Suzanne reckte sich, gähnte gedehnt und ging duschen. Locker umhüllt vom Morgenmantel ließ sie das Frühstück kommen und kramte ein paar Preprints aus ihrem Gepäck, die sie sich zur Vorbereitung der Tagung eingesteckt hatte. A Simple Quantum Cosmology vom T.R. Mongan aus Sausalito weckte ihre Aufmerksamkeit. Vielleicht rührten ja die Lichter der Nacht von ihm her ... Ein Satz aus der Kurzfassung fiel ihr sofort ins Auge: The universe has zero total energy and is created from nothing. Suzanne blätterte weiter. Die Rechnungen werden schon stimmen, dachte sie und sah auf als gerade zwischen Nebelfetzen der Dunst verflog und den Blick in die blaue Weite frei gab. Was sollte das naturphilosophisch bedeuten? Im Grundzustand des Quantenvakuums sind alle Quantenzahlen null. Ihre Streuung aber beginnt im Bereich der Plancklänge und explodiert sogleich inflationär mit den elf Dimensionen einer Sphäre, von der schließlich nur drei Raumdimensionen erhalten bleiben. Die Inflationsenergie wird dabei den gleichsam überzähligen Dimensionen entnommen. Die positive Energie der Explosion wird kompensiert durch die negative Energie der Implosion. Aber ist das nicht nur ein Trick? Wird hier nicht einfach die Energie in den Raumkrümmungen versteckt? Müssen Raum, Zeit, Materie nicht gleichermaßen energiebasiert gedacht werden? Im Alltag vergleichen wir Längen mit Maßstäben, Dauern mit Uhren und Massen mit der Balkenwaage. Du gleichst dem Geist, den du begreifst, muß Faust sich vom Erdgeist sagen lassen. Der in der Biosphäre des Sonnenplaneten am Rande der Milchstraße den Menschenhirnen erwachsende Geist vermag schwerlich den Kosmos zu erfassen. Ins Universum können wir nur mittels Mathematik und Technik extrapolieren. Das gilt gleichermaßen für den Mikrokosmos der Elementarteilchen wie für den Makrokosmos der Galaxiencluster. Ein hochenergetischer Zustand vereinigter ,,Raumzeitmaterie`` ist zwar nicht erlebbar, kann aber näherunsweise berechnet und indirekt gemessen werden. Die Innenperspektive des Bewußtseins in unserem Gehirn können wir sprach- und tathandelnd mit den Perspektiven unserer Mitmenschen abgleichen. Dem Kosmos gegenüber haben wir keine Außenperspektive. Zum Verständnis seiner Selbstorganisation sind wir prinzipiell auf Selbstkonsistenzverfahren angewiesen. Den materiellen Stabilitätsbedingungen entsprechen formale Konvergenzkriterien. Im Modell eines kosmischen Quantencomputers fielen Naturgeschichte und Algorithmus zusammen. Die Rechnungen selbst wären die Evolution: Dasselbe nämlich ist Wissen und Sein.

Ist unser Universum nur eine Quantenfluktuation, eine statistische Streuung von Energiequanten um den Mittelwert null? Die Geometrisierung der Gravitation begann mit der ART. D.h. die Raumzeit selbst wird als physisch wirksam gedacht. Ihre Krümmung bestimmt die Materieverteilung so wie umgekehrt die Materieverteilung die Raumzeit zu krümmen vermag. Wie weit reicht dieser kosmologische Ansatz? Auch im Alltag werden Raum, Zeit, Materie nur zusammen erfahren. Wie sollte sich auch ,,nichts`` ausdehnen bzw. ,,etwas`` ohne Ausdehnung sein können? Die Dinge wirken nur in direktem Kontakt aufeinander ein. Ihre Wechselwirkung wird durch die endliche Lichtgeschwindigkeit begrenzt. Dieses Lokalitätsprinzip wird allerdings schon auf dem Größenniveau der Atome durchbrochen. Die Quantentheorie sagt nämlich instantane Korrelationen zwischen Quantenzuständen voraus, die in verblüffender Übereinstimmung mit den Experimenten stehen. Wie läßt sich die mikroskopische Nichtlokalität mit der makroskopischen Lokalität vereinbaren? Einstein hatte bereits 1935 mit seinen Kollegen Podolsky und Rosen in einer berühmt gewordenen Paradoxie darauf aufmerksam gemacht, daß die Quantentheorie nicht vollständig sein könne, wenn sie realistisch und lokal sein solle. Um den Realismus und die Vollständigkeit der Theorie zu retten, hatte Bohm 1952 eine nichtlokale Quantentheorie vorgeschlagen, die wie schon die Newtonsche Mechanik eine instantane Fernwirkung enthielt. Diese Bohmsche Mechanik prognostiziert nicht nur korrekt die nichtlokalen Quantenkorrelationen. Darüber hinaus werden neben der Berechnung von Ortsmessungen sogar die einzelnen Teilchenbahnen aus der instantanen Wirkung eines Quantenpotentials bestimmbar. Im Gegensatz zur Mechanik Bohms wird in der Quantenmechanik Heisenbergs das atomare Naturgeschehen nur insoweit untersucht, wie es sich zeigt, wenn es mit realisierbaren Meßgeräten erfaßt wird. Die Existenz nichtmeßbarer Teilchenbahnen wird als metaphysische Annahme abgelehnt. Auf Kosten des Realitätsprinzips sind aus der Heisenbergschen Mechanik äußerst erfolgreiche Theorien auch für die subatomaren Größenverhältnisse der quarks entwickelt worden. Extrapolationen bis hinunter zur Plancklänge von $10^{-35}\, m$ stehen jedoch noch aus. In den gegenwärtigen Theorien der Quantengravitation, die bis hinab zur Plancklänge gültig sein sollten, ist der Streit zwischen Realisten und Positivisten erneut entflammt. Auf das ganze Universum ausgedehnt, kann man natürlich keinen äußeren Beobachter annehmen, wie ihn die Positivisten voraussetzen müssen.

Suzanne sah mit Freuden den Diskussionen entgegen, die einen Großteil der Tagung ausmachen würden. Wenden wir uns wieder den Gedanken zu, die ihr erotischer Traum hervorgerufen hatte. Auch das Gehirn ist bei seinem Nachwachsen der Sinne einem Lokalitätsprinzip gefolgt. Alle Signale werden auf den Nervenbahnen in gleicher Weise frequenzmoduliert. Dennoch sind die Sinneseindrücke unterscheidbar, je machdem aus welcher Körperregion die Reize ins Hirn gelangen. Die Netzhäute der Augen z.B. sind mit den visuellen Projektionszentren und die Tastsinne der Haut mit den taktilen Pojektionszentren verbunden. Jedenfalls normalerweise ... Suzanne hielt in ihrem Gedanken inne. Im Traum oder unter dem Einfluß geeigneter Drogen mußte es dem Hirnstoffwechsel möglich sein, die Projektionen der einzelnen Sinne neu zu strukturieren. Normalerweise werden uns Objekte erst nach Rückprojektion auf den Reizauslöser bewußt. Passen Schlüsselreiz und Schloßprojektion nicht zueinander, tritt uns kein Objekt ins Bewußtsein. Nun hatte ihr aber der Traum das Gefühl vermittelt, mit Zunge und Lippen ihre Lustperle zu reizen, obwohl sie das doch nur mit den Fingerkuppen gemacht haben konnte. Nicht genug damit, war sie sogar mit den Nervenbahnen vom Kitzler aus ins Rückenmark aufgestiegen ... bis es wohl zu einer Art stack overflow in der rekursiven Verschachtelung vieler Projektionsebenen gekommen war. Beim Projizieren scheint das Bewußtsein so nichtlokal wie ein Quantenpotential sein zu können. Warum auch nicht? fragte sich Suzanne lächelnd. Interferenzen wie beim Licht oder instantane Korrelationen wie bei Phasenübergängen sollten auch in neuronalen Netzen möglich sein. Ganz so wie in der statistischen Mechanik das thermische Gleichgewicht der Gibbs-Ensembles im Phasenraum der Boltzmann-Verteilung folgt, wird in der Bohmschen Mechanik das Quantengleichgewicht im Konfigurationsraum durch die Schrödinger-Verteilung bestimmt. Unwillkürlich schrieb Suzanne die beiden statistischen Gewichte auf einen Schmierzettel:

\begin{displaymath}
\rho_B \propto e^{-{\beta H}}, \, \, \, \rho_S \propto \psi^{\star} \psi \end{displaymath}

Im Gegensatz zur einfachen Exponentialfunktion der Boltzmann-Verteilung $\rho_B $ folgt die Schrödinger-Verteilung $\rho_S $ jedoch einer komplexen zeitlichen Entwicklung, die durch den Energieoperator H bestimmt wird:

\begin{displaymath}
i \hbar {{\partial \psi } \over {\partial t }} = H \psi \end{displaymath}

Für die Orte Q der Teilchen bildet die Wellenfunktion $\psi $ der Schrödinger-Verteilung gleichsam die Führungswelle im Konfigurationsraum:

\begin{displaymath}
{dQ \over dt} = {\hbar \over m} \Im {{\nabla \psi } \over \psi }\end{displaymath}

Die unterliegende Struktur verborgener Parameter ist schlicht in den Teilchenorten Q zu sehen. Was entspräche ihnen in der Hirnphysiologie? Die Aktionspotentiale? Suzanne griff zum frischgepressten Orangensaft und trank mit Behagen das ganze Glas aus. Sie lehnte sich zurück und schaute in die wabernden Nebelschwaden über der Bay. Wenn man die Nichtlokalität des atomaren Naturgeschehens gelten ließ, konnte die Quantenmechanik genauso realistisch interpretiert werden wie die klassische Mechanik. Das Wirkungsquantum h als Ausdruck einer prinzipiellen statistischen Unbestimmtheit hatte nicht nur die Konsistenz der statistischen Mechanik zur Folge, sondern galt ganz so wie die Boltzmann-Konstante k als Skalierungsparameter zwischen Mikro- und Makroniveau. Man sollte verwackelte Aufnahmen von Wolken von scharfen Nebelbildern unterscheiden können, forderte der Realist Schrödinger im Streit mit dem Positivisten Heisenberg; der allerdings, wie fast alle Theoretiker, zugleich Strukturrealist war. Konnte die Nichtlokalität instantaner Fernwirkung tatsächlich fundamental sein? Oder handelte es sich eher um so etwas wie Emergenz, d.h. das Hervorgehen nichtlokaler Korrelationen aus lokalen Vielteilchen-Wechselwirkungen? Beispiele dafür waren die Makroeigenschaften von Gasen, Flüssigkeiten und Festkörpern wie Druck, Temperatur, Volumen, Viskosität, Festigkeit ... Mit Quantencomputern würden die Makroeigenschaften allerdings aus den Mikrowechselwirkungen der Elementarteilchen berechnet werden können. Der Zauber der Emergenz wäre verflogen bzw. verlagert. Denn Quantencomputer rechnen bereits nichtlokal aufgrund der Verschränkung ihrer Zustände. Ist vielleicht das gesamte Universum aus seiner Entwicklung heraus noch immer ein nichtlokal verschränkter Quantenzustand? Was haben aber die Zusammenhänge in dem hochdimensionalen Konfigurationsraum der statistischen Mechanik mit unserem Anschauungsraum zu tun?

Aus einer statistischen Theorie der Fluktuation im ,,Quantenschaum`` der ,,Raumzeitmaterie`` auf dem Planckniveau läßt sich im Grenzfall kleiner Energien bzw. großer Wellenlängen die ART gleichsam als Geometro-Hydrodynamik herleiten. Die Lokalität der Einstein-Invarianz könnte sich so als Näherung einer Teiltheorie im Ganzen erweisen. Die zeitliche Entwicklung der Schrödinger-Verteilung kann ebenfalls als Teiltheorie aus dem stationären Quantenzustand des ganzen Universums gefolgert werden. Andererseits läßt sich die Einstein-Invarianz der ART auch mit der Bohmschen Mechanik vereinbaren, wenn man die vierdimensionale Raumzeit der ART in eine zeitliche Schichtung dreidimensionaler Hyperflächen zerlegt. Da es am Beginn unserer kosmischen Entwicklung aus dem Urblitz noch gar keine Raumzeit gab, wäre das gesamte Standardmodell der relativistisch-invarianten QFT und der ART eine mehr oder minder vergröberte Näherung. Die Nichtlokalität der Quantenmechanik zeigt dann womöglich die Herkunft der Quantenkorrelationen aus der Ursprungsfluktuation an. Die Lorentz- und Einstein-Invarianzen der Relativitätstheorien könnten gleichsam als gebrochen angesehen werden. Das Naturgeschehen ist wesentlich nichtlokal, wie unser Hintergrund-Bewußtsein. Lokalität entsteht erst durch isolierende Vergröberung, ist eine Folge der Objektivierung ... Suzanne kam ein Satz Goethes in den Sinn: Die Natur ist weder Kern noch Schale. Alles ist mit einem Male.

Nachdenklich griff sie nach einem Paper des Bohmianers Sheldon Goldstein: Ontological clarity and the conceptual foundations of Quantum Gravity. Eine naheliegende Verallgemeinerung der Bohmschen Mechanik zur Quantengravitation folgt ironischerweise gerade aus den in der Heisenbergschen Mechanik ignorierten Teilchenorten. In der allgemein-relativistischen Theorie gilt ein formal ganz ähnlicher Zusammenhang für die Metrik gij:

\begin{displaymath}
{dg_{ij} \over d\tau } (x^a) = G_{ijab} \Im \left({1 \over \...
 ...{{\delta \Psi (g)} \over {\delta g_{ab} (x^a)}} \right) N(x^a) \end{displaymath}

Die zeitlose Wheeler-DeWitt-Gleichung bestimmt $\Psi (g)$ und übernimmt in der Quantengravitation die Rolle der Schrödinger-Gleichung. Gijab steht für die Supermetrik, die eine Funktion der Metrik ist. Und N(xa) bezeichnet die sogenannte Lückenfunktion, die von der Wahl der Hyperflächen-Schichtung abhängt. Ihre Eindeutigkeit ist noch ein offenes Problem. Die Kontinuitätsgleichung sichert den Erhalt der Wahrscheinlichkeitsdichte im Konfigurationsraum:

\begin{displaymath}
{{\partial \rho} \over {\partial t}} + div(\rho v^{\psi}) = 0 \end{displaymath}

Für das Geschwindigkeitsfeld $v^{\psi}$ gilt jeweils

\begin{displaymath}
v^{\psi} = {\hbar \over m} \Im {{\nabla \psi } \over \psi } ...
 ...i (g)} {{\delta \Psi (g)} \over {\delta g_{ab} (x^a)}} \right) \end{displaymath}

Die ontologische Basis der Bohmschen Mechanik sind die Teilchenorte Q bzw. die Metrik gij, deren Dynamik jeweils durch das Geschwindigkeitsfeld $v^{\psi}$ bestimmt wird. Bohm interpretierte $\psi $ bzw. $\Psi$ als Führungsfeld, für Heisenberg war es bloß Ausdruck unseres Wissens, also so etwas wie Information. Und Einstein wertete es schlichtweg als Gespensterfeld.

Why should the universe be governed by laws so apparently peculiar as those of quantum mechanics? fragt sich Goldstein. Gemessen an der Schönheit der ART sind die Quantentheorien, von der Quantenmechanik über die QFT bis hin zur Superstring-Theorie in der Tat ziemliches Stückwerk. Die logische und ontologische Geschlossenheit der ART kann mit Einstein als vollkommen angesehen werden. Kein Wunder also, daß alle Versuche einer Quantisierung bisher gescheitert sind. An den Ereignishorizonten schwarzer Löcher allerdings endet die Gültigkeit der ART. Singularitäten der ,,Raumzeitmaterie`` sind dabei nicht nur als galaktische Gravitationszentren, sondern auch als kleinste Elementarteilchen deutbar. So wie in der Streutheorie die Teilchen als Pole analytischer Funktionen darstellbar sind, könnten sie im Grenzbereich der ART als Singularitäten behandelt werden. Ein schwarzes Loch der Planckmasse mp von rund 10-8 kg hätte eine Compton-Wellenlänge in der Größenordnung seines Schwarzschild-Radius' von lp etwa 10-35 m:

\begin{displaymath}
l_p = {{G m_p} \over {c^2}} \approx {{\hbar } \over {m_p c}} \approx 10^{-35} m \end{displaymath}

Im Bereich der Planckmasse ist die Energiedichte eines Quantum Mechanical Black Holes (QMBH) so groß, daß sich Gravitationskollaps und Strahlungsdruck die Waage halten. Ein zur Nukleonengröße von etwa 10-15 m expandiertes schwarzes Loch hätte bereits die Masse eines ganzen Berges von rund 1012 kg. Und seine Dichte wäre auf ca. 1056 kg/m3 abgefallen. Damit dominiert die Gravitation das Universum nicht nur im Großen, sondern auch im Kleinen.

Einstein verwahrte sich seinerzeit vor einer derartigen Interpretation. Suzanne hatte neben Bells Collected Papers on Quantum Philosophy und Heisenbergs Prinzipien der Quantentheorie stets Einsteins Vier Vorlesungen über Relativitätstheorie zur Hand. Darin schreibt er: Meine Meinung ist, daß man Singularitäten ausschließen muß. Es scheint mir nicht vernünftig, in einer Kontinuumstheorie Punkte (bzw. Linien etc.) einzuführen, in denen die Feldgleichungen nicht gelten. Außerdem ist deren Einführung gleichwertig mit der Festsetzung von im Hinblick auf die Feldgleichungen willkürlichen Grenzbedingungen auf geschlossenen ,,Flächen``, welche die Singularität fest umschließen. Auch wenn sich Quantenmechanik und Quantengravitation im Rahmen einer statistischen Mechanik darstellen lassen sollten, bleibt der ontologische Status des Gespensterfeldes $\psi $ problematisch; denn es bestimmt rückwirkungsfrei den Teilchenort bzw. via Metrik die Gravitation. Bohms Realismus und Heisenbergs Idealismus überschnitten sich gleichwohl in der Annahme, daß das Führungsfeld eher Ausdruck des physikalischen Gesetzes als der durch das Gesetz beschriebenen Realität wäre ...

Im Rahmen der gegenwärtigen Renaissance der klassischen Physik folgt die Kosmologie einem stochastischen Holismus. Wird das Universum als statistisches Ensemble von N Teilchen aufgefaßt, bleibt es lediglich bis zu einer endlichen Länge l bestimmbar, wenn R die Ausdehnung des betrachteten Systems bezeichnet: $l = R / \sqrt{N}$. Da die Teilchenfluktuationen aus dem Quantenvakuum eine Massen- bzw. Energiefluktuation zur Folge haben, läßt sich aus den makroskopischen Größen des Weltalls via ${{G \sqrt{N} m^2} / {c^2 R}}$ sowie R = c T das Wirkungsquantum abschätzen zu:

\begin{displaymath}
\hbar \approx (\Delta m c^2) T = {{G \sqrt{N} m^2 T} \over R} = {{G \sqrt{N} m^2} \over c} \end{displaymath}

Suzanne kramte das Deckblatt der Arbeit hervor, die gerade vor ihr lag: B.G. Sidharth, Planck Scale to Hubble Scale. Auch dieser Autor bezog sich auf die Bohmsche Mechanik und bediente sich einer stochastischen Interpretation, die Nelson bereits 1962 vorgelegt hatte. Auf Teilsysteme bezogen, machte die Ensemble-Betrachtung natürlich Sinn, aber in bezug auf das ganze Universum war eine Statistik schon gelinde gesagt ungewöhnlich. Womöglich dachten die Forscher an die Einbettung in ein Wärmebad höherer Dimension. Wie dem auch sei. Was mit der statistischen Interpretation des radioaktiven Zerfallsgesetzes vor über 100 Jahren begann und Einstein 1905 mit der Untersuchung der Brownschen Molekularbewegung fortsetzte, hatte über Bohm und Nelson zur gegenwärtigen Realismusdebatte geführt. Danach war die gesamte sogenannte Moderne Physik vielleicht nur ein Zwischenspiel des 20. Jahrhunderts gewesen. Was blieb war aber die Einsicht Feynmans: It is necessary and true that all of the things we say in science, all of the conclusions, are uncertain, because they are only conclusions. They are guesses as to what is going to happen, and you cannot know what will happen, because you have not made the most complete experiments.

Vor dem Konzert wollte Suzanne noch in die Buchhandlung . Sie hatte nur einige Minuten Fußweg zurückzulegen. Die Plakate Jack Kerouacs und Jean Sebergs erinnerten an die Zeit, als man noch außer Atem on the road war. Erwartungsvoll betrat sie den City Light Book Store. Hier duftete es nach altem Holz, das unter ihren Füßen knarrte als sie die schmale Treppe zur Literatur-Abteilung betrat. Ihr schickes Äußeres kontrastierte mit den schlichten T-Shirts und den verschlissenen Jeans des zumeist jungen Publikums. Ahnungsvoll streifte sie die Regale entlang. Einige Bücher von Rebecca Goldstein fielen ihr auf. Das ist ja toll! hätte sie beinahe erfreut aufgeschrien. Statt dessen griff sie sich schmunzelnd The Mind-Body Problem und The Properties of Light heraus. Seitdem ihr der Physiker Sheldon Goldstein einmal auf einer Konferenz im CERN von den Aktivitäten seiner Frau erzählt hatte, wollte sie die Bücher zwar immer mal wieder erwerben, war aber bisher nicht dazu gekommen. Wie schön, sie jetzt in Händen halten zu können, dachte sie und setzte sich in einen Korbstuhl, der an einem kleinen Ecktisch stand. A novel of love, betrayel, and quantum physics las sie auf dem Umschlag über dem nackten Rücken einer Frau. Den Auftakt bildete ein Zitat von William Blake: Then tell me, what is the material world, and is it dead? Handelte es sich um Versuche über Physik und Poesie? Neugierig blätterte sie ein wenig herum und schmökerte hier und dort. Rebecca hatte sogar die Bohmsche Führungsgleichung drucken lassen. Daneben las sie die Umkehrung eines Shakespeare-Zitats aus dem Sturm: I have been thinking that perhaps the Bard ought to be paraphrased to read: We are such dreams as stuff is made of. You see, Professor Childs, then we could assert that stuff comes from the collapse of the dream. So wie die Wahrscheinlichkeitsverteilung aller möglichen Zustände eines Systems im Quantengleichgewicht zur Realität kollabiert, ergeht es auch den Träumen? Suzanne blickte auf und sah geradewegs in das Gesicht eines jungen Mannes, der sie wohl schon eine Zeitlang gemustert hatte und nun wie ertappt verlegen lächelte. Er mußte sich unbemerkt an ihren Tisch gesetzt haben.
,,Are we such dreams as stuff is made of?`` ließ Eva sich vernehmen.

Das Erstaunen über diese Frage machte unseren Adam für einen Moment lang sprachlos. Amüsiert behielt Eva ihn im Blick. Er schaute auf ihr Buch und entgegnete leicht verwirrt und mit holländischem Akzent: ,,I remember Shakespeare with the phrase: We are such stuff as dreams are made on.`` Er griff nach ihrem Buch. ,,Darf ich?``

Sie nickte leicht und betrachtete eingehend ihr Gegenüber. Er hatte ungewöhnlich weiche Gesichtszüge. Seine großen, tiefbraunen Augen forschten interessiert in Rebeccas Properties of Light. Evas Blick wanderte unterdessen über das bartlose Kinn hinab und blieb an der Aufschrift seines T-Shirts der University of California, Berkeley, hängen: Let there be light. ,,Sind die Materiewellen vielleicht Lichtwellen und unsere Träume ebenso wie die Massen elektromagnetischen Ursprungs?`` begann sie zu spekulieren.

,,Darüber habe ich auch schon nachgedacht``, entgegnete der junge Mann, ,,allerdings nicht mit Blick auf das Träumen, sondern um Reisen durch den Weltraum zu ermöglichen.`` Die beiden sahen sich an und wußten, daß sie gerade an das Gleiche dachten, indem sie die Bilder der Space Odyssey heraufbeschworen.

,,Studierst du in Berkeley und nimmst womöglich an der Tagung zur Quantengravitation teil?`` wollte Suzanne wissen.

,,Das erste nicht, das zweite ja``, erwiderte der Holländer. ,,Ich arbeite bei Lockheed in Palo Alto an der Entwicklung neuer Technologien mit. Es geht um das Breakthrough Propulsion Physics Project, das der NASA Möglichkeiten interstellarer Reisen aufzeigen soll.`` Er sah Suzanne offen an und freute sich bereits darauf, sie auf der Tagung wiederzusehen. ,,Ich heiße Antoon, bin Ingenieur und komme aus Amsterdam``, fügte er hinzu und weidete sich unverhohlen an ihrer Schönheit.

Wie die Natur mal wieder so arbeitet, dachte Suzanne und erwog einen Exkurs zum stochastischen Holismus. Sie entschied sich jedoch, weniger hochtrabend zu antworten: ,,Ich heiße Suzanne und bin in Hamburg geboren.`` Eva schaute Adam listig an: ,,Ingenieure, die sich mit Grundlagenfragen beschäftigen, sind eher die Ausnahme.``

Antoon liebte es, intellektuell zu flirten. ,,Ich bin über die science fiction zur Grundlagenforschung gekommen. Dort wurde häufig über elektrodynamische Antriebe spekuliert. Während meines Studiums hörte ich dann von dem NASA-Projekt und absolvierte bereits meinen Master Degree bei Lockheed. Gegenwärtig bereiten wir Experimente vor mit quantum cavities, um den Einfluß des Nullpunktfeldes auf die Masse zu untersuchen. Stell dir mal vor, wir könnten die Masse null werden lassen und eine quasi supraleitende Bewegung im All ermöglichen.``

Antoons Augen sprühten vor Begeisterung und verfehlten ihre Wirkung nicht. Suzanne kannte dieses erregende Prickeln im Leib, kurz vor einer großen Entdeckung zu stehen. Während er interessiert in ihrem Antlitz forschte, erinnerte sie die Arbeiten Ruedas zur stochastischen Elektrodynamik. Die hatte sie bisher allerdings nicht ernst genommen, da sie die Gravitation für fundamentaler hielt als den Elektromagnetismus. Schlagartig wurde ihr klar, daß es dafür eigentlich keinen zwingenden Grund gab. ,,Aber was wird aus der Schönheit der ART?`` äußerte sie sichtlich verstört.

Mit der Hellsichtigkeit seiner weltoffenen Begeisterung spürte er den Sonnenwind ihrer cerebralen Corona, den ihr metaphysischer Schauer auslöste und ihn in den Traum versetzte, aus dem die Stoffe sind. Den Grund ihrer Erregung ahnte er nicht. Als Ingenieur interessierte ihn eher der technische Nutzen als die kosmologische Einsicht. Schon oft hatte er davon geträumt, mit dem Nullpunktsfeld trägheitsfrei durchs All zu gleiten. Welch eine Perspektive! Vom Nachweis eines Mikroeffektes bis hin zur großtechnischen Anwendung war es allerdings ein weiter Weg. Transistor und Laser zeigten aber auch, daß er innerhalb eines Menschenlebens beschritten werden konnte. Suzanne versuchte sich abzulenken und blätterte unterdessen in Rebeccas Mind-Body Problem: A clever, very funny novel ... Turns everything, from orgasms to logical positivism, into the stuff of comedy. Ein Satz in deutsch ließ sie inne halten: In den schönen Regionen, wo die reinen Formen wohnen. Dort leben die Mathematiker. Physiker erschauen den Kosmos und Ingenieure basteln mit Baukästen.

Erheitert las sie eine Strophe des Marital Blues:

My husband don't please me
Takes all but don't give me
In-out and he's done
And I never come.

I don't say that he beats me
But the way that he treats me
Makes me feel old and done
And I never come.

Then the Love Affair, and the music changes ... to Rachmaninoff, climax after climax.

Then he came
And I came ... and I came ... and I came ...

Unwillkürlich hatte sie fröhlich zu singen begonnen. Er schaute ihr eindringlich in die Augen und sagte ernst: ,,Die Ehe ist der Tod der Liebe.``

Sie erwiderte seinen Blick und löste ihn in ein Lächeln auf: ,,So sehen das die Romantiker. Für Freigeister ist die Ehe ein Gefängnis.``

,,Eine Affaire wäre dann wie ein Freigang``, warf er ein.

,,Konservative halten die Ehe für die Keimzelle des Staates und ihre Abschaffung folglich für staatsgefährdent ... ``

,,Ja, ich will, ist Ausdruck einer Geistesfreiheit, die bloß das Begehren des Leibes verschleiert.``

,,Wo ist der Übergang, gibt es eine Grenze zwischen Geist und Körper?``

,,Gibt es überhaupt einen autonomen Geist? Ist er nicht vielmehr das Produkt unseres Denkorgans?``

,,Alles ist Materie, in mehr oder minder gebundener oder verdichteter Form.``

,,Beginnen wir mit dem Nullpunktsfeld (ZPF) . Seine Fluktuationen in der Frequenzverteilung haben eine Zitterbewegung zur Folge, deren Lorentz-Invarianz das Wirkungsquantum bestimmt.``
,,Aus dem thermischen Gleichgewicht mit dieser Hintergrundstrahlung folgt dann das Plancksche Gesetz der Hohlraumstrahlung.``

,,Dem entspräche das thermische Gleichgewicht aller Ladungen im Universum mit dem ZPF.``

,,Das thermische Energieoptimum folgt der Boltzmann-Verteilung und das Quantengleichgewicht der Schrödinger-Verteilung. Folgt das soziale Handlungsoptimum einer Darwin-Verteilung?``

Diesen Sprung von der Hintergrundstrahlung zum Hintergrundbewußtsein vermochte Antoon nicht nachzuvollziehen. Fragend schaute er sie an.

Suzanne sah auf seine Uhr. ,,Es wird Zeit für mich.``

Er reichte ihr die Properties of Light und lächelte sie strahlend an: ,,Ich freue mich auf ein Wiedersehen.``

Nach dem Konzert war sie wie verwandelt. Beschwingt sang sie einige Lieder nach, die Jane mit viel Einfühlung und nuancenreicher Stimme vorgetragen hatte: You are my first affair, please be kind ... . Werner war hingerissen. Übermütig nahm sie ihn bei der Hand und bugsierte ihn in eine Bar. Die Musik hatte ihre metaphysische Krise zu überdecken vermocht. Ihre Hochstimmung ließ sie sogar über sein klägliches Tanzvermögen hinwegsehen. Ansonsten blieb die Heiterkeit der Nacht ungetrübt, da sie es tunlichst vermied, die schillernde Oberfläche des Vergnügens durch kulturelle oder wissenschaftliche Betrachtungen zu untergraben. Am frühen Morgen fiel sie beschwippst und ermattet ins Bett.

Auf der Tagung zur Quantengravitation ließ sie sich im Hochgefühl der Gemeinsamkeit von den Wellen der scientific community tragen. Die Heimat der Wissenschafter war die Internationale der Weltbürger, with the same impersonal attitude toward ideas, whether their own or others'. It's the validity that matters, not the person incidentally attached, schrieb Rebacca mit der Verwunderung einer Philosophin. Unvermutet anregend waren die Diskussionen mit den Ur-Theoretikern Holger und Thomas verlaufen. Vielleicht weil sie mit ihrer QFT der Ure noch über das Nullpunktsfeld der QED hinausgingen. Als Suzanne auf dem Campus in Berkeley von einer kleinen Anhöhe aus geradewegs über die Bay bis hin zum fernen goldenen Tor blicken konnte, hatte sie eine Vision. Ihr war, als entrolle sie mit dem Lichtpfeil eines Urs aus dem Urblitz die imaginäre Zeitdimension des Raumes: s = ct. Der unitären Transformation einer ersten binären Unterscheidung auf dieser Achse nach früher oder später, entsprach dann eine orthogonale Transformation im dreidimensionalen Anschauungsraum. Damit wäre der Kosmos ein gigantischer Informationsraum. Die Quanteninformation nach Quantisierung der binären Altenative wäre gleichsam zum anschaulichen Ortsraum kondensiert. Obwohl jedes der rund 10120 Ure durch einen Energiebeitrag von etwa 10-32 eV basiert wird, beharrten die Ur-Theoretiker auf einer idealistischen Interpretation bloßer Möglichkeiten. Mit den Bohmianern, die eine realistische Deutung von Teilchenorten vertraten, konnten sie keine Einigung erzielen. In ihrem Vereinheitlichungsbestreben hatte Suzanne vergeblich zu vermitteln versucht. Aber vielleicht lag die Lösung in Utopia.

Am nächsten Tag traf sie im Foyer des Hörsaals, in dem ein Vortrag zur stochastischen Elektrodynamik (SED) stattfinden sollte, der Blick Antoons. Sie wollte sich gerade dem Vortragstext zuwenden, als Eva bereits den Weg zu Adam eingeschlagen hatte. Antoon stellte ihr seine Doktorväter vor, Bernard Haisch und Alfonso Rueda. Gerüchten zufolge, sollte es tatsächlich gelungen sein, experimentell die Ruhemasse des Elektrons zu manipulieren. Die drei ließen sich aber nichts anmerken. Vielmehr hatten sie sich beiläufig über die Möglichkeit überlichtschneller Reisen im Rahmen der ART unterhalten. Durch Verwerfungen der Raumzeit waren mittels warp drive im Prinzip beliebig große Geschwindigkeiten denkbar; denn beschränkt war nur die Bewegung in, aber nicht mit der Raumzeit. Um derartige Raumzeit-Verzerrungen hervorbringen zu können, bedurfte es allerdings eines astronomischen Energiereservoirs. Vor dem Raumschiff mußte die Raumzeit stark komprimiert und hinter ihm entsprechend gedehnt werden. Da kämen nur ähnlich exotische Materieverteilungen infrage, wie sie auch mit Wurmlöchern verbunden wären. Nur höhere Dimensionen böten wohl einen Ausweg aus der Misere ... ,,oder vielleicht das Anzapfen des ZPF?`` merkte Suzanne überleitend an.

,,Leider ist noch völlig unklar, ob das ZPF überhaupt zur Gravitation beiträgt``, entgegnete Bernard. ,,Im Rahmen der ART ist zwar jede Energieform gravitativ wirksam. Ob das aber auch für die Struktur des ZPF' gilt, wissen wir nicht.``

,,Wir nehmen an, daß lediglich die Störungen des ZPF' zur Gravitation beitragen``, erhob Alfonso das Wort. ,,Andernfalls würde die kosmologische Konstante so groß werden, daß sie eine viel zu starke Raumzeit-Krümmung zur Folge hätte. Dann hätten wir das gleiche Problem wie in der QFT.``

Neben dem Problem der kosmologischen Konstanten, deren Abschätzung um sagenhafte 120 Größenordnungen daneben lag, gab es in der SED noch eine Willkühr in der Zuordnung zwischen Streufrequenz des Elektrons am ZPF und seiner Ruhemasse, erinnerte Suzanne. ,,Zudem wäre es doch natürlich, die Planckfrequenz $\omega_P$ als Obergrenze im Spektrum der Energiedichte zu nehmen``, warf sie ein.

,,Dann müßte aufgrund des Zusammenhangs mit der Masse das Universum von Teilchen mit mP dominiert werden, was nicht der Fall ist``, gab Bernard zu bedenken.

,,Das ist der Grund, weshalb wir für die Resonanzstreuung der Ladungen am ZPF statt der Planck-Frequenz die Compton-Frequenz $\omega_C$ angesetzt haben``, wandte sich Alfonso wieder an Suzanne. Die vergegenwärtigte sich, daß aus der Compton-Frequenz die de`Broglie-Frequenz durch Doppler-Verschiebung folgt.

,,Nun wird es aber Zeit``, drängte Antoon zum Aufbruch und ergänzte heiter: ,,Sonst verpaßt ihr noch meinen Vortrag.``

Im Hörsaal machte Suzanne sich zunächst den Zusammenhang zwischen der Ruhemasse mo und der Resonanzfrequenz $\omega$ bei der Streuung am ZPF klar:

\begin{displaymath}
m_o = {\Gamma \over {2 \pi}} {\hbar {\omega}^2 \over {c^2}} \end{displaymath}

$\Gamma$ bedeutete die Lorentzsche Dämpfungskonstante, für $\omega$ konnte man $\omega_P$ oder $\omega_C$ einsetzen.

Antoon begann unterdessen mit der Beschreibung seines Experiments. Wie hatte er ihr das nur verheimlichen können? So eine Entdeckung! Bei den Details des Versuchsaufbaus schweiften ihre Gedanken ab. Sollte sich nicht ein Zusammenhang herstellen lassen zwischen den QMBH und dem ZPF? Und wäre mit dem elektrodynamischen Ursprung der Masse nicht auch das Gespensterfeld realistisch gedeutet? Relativistische Invarianz verschiebt dann die stehende Welle mit Compton-Frequenz zur fortschreitenden Welle mit de`Broglie-Frequenz. Aufgrund der Allgegenwart des ZPF wäre auch die Annahme der statistischen Unabhängigkeit der Teilchen vor einer Messung zweifelhaft. Schon während des Versuchsaufbaus könnte sich ein Strahlungsgleichgewicht mit dem ZPF herstellen ...

Es wurde zunehmend unruhiger im Saal. Antoon hatte betont sachlich seine Ergebnisse präsentiert. Aus der Beziehung zwischen der ZPF-Dichte

\begin{displaymath}
\rho_{ZP} (\omega) = {{\hbar \omega^3} \over {2 \pi c^3}} \end{displaymath}

und der Masse m eines Objekts mit dem Eigenvolumen Vo folgte eine Manipulationsmöglichkeit der Masse über den Parameter $\eta (\omega)$ der Streuungs-Effizienz:

\begin{displaymath}
m = {V_o \over c^2} \int \eta (\omega) \rho_{ZP} (\omega) d \omega \end{displaymath}

Die Streuungs-Effizienz war für die verschiedenen Elementarteilchen sehr genau ausgemessen worden. Präzise Bestimmungen des jeweiligen Eigenvolumens hatten es Antoon nunmehr ermöglicht, die Streuungs-Effizienz zu modulieren und damit die Masse zu variieren. Seine Resonanzexperimente waren sehr genau und häufig wiederholt worden. Die Modulation der Elektronenmasse lag allerdings nur im Promille-Bereich. Da der relative Fehler um drei Größenordnungen darunter lag, konnte es kaum Zweifel geben. Die Interpretation der Messungen erhitzte die Gemüter. Waren die Modulationen wirklich echt oder nur Schein, wurde gefragt. In die gleiche Richtung zielte der Einwand, ob es sich vielleicht nur um eine neue effektive Masse handelte. Aus der Mehrheit der bloßen Skeptiker schälten sich rasch die Extremisten der leidenschaftlichen Befürworter und der ebenso engagierten Ablehner heraus. So war es immer, dachte Suzanne amüsiert. Planck geriet seinerzeit über die Entdeckung seiner eigenen Quantentheorie in eine persönliche Krise. Bohr dagegen griff sie leidenschaftlich auf, da sie gut zu seiner Komplementaritäts-Philosophie passte. Schlimmer noch erging es Einstein anfangs mit seiner Relativitätstheorie, für die er noch nicht einmal den Nobelpreis erhielt. Und auch die EPR-Korrelationen werden nach wie vor kontrovers diskutiert. Sehen die einen in ihnen die Bestätigung für einen universalen Holismus, sind es für die anderen nichts als mikrophysikalische Scheineffekte.

Es dauerte eine Weile, bis es dem Charm unserer Schönen gelang, Antoon zu einem abseitigen Sparziergang auf dem Campus zu entführen. Im Schatten großer Laubbäume schlenderten sie dahin. Antoon hatte sich in den Diskussionen wacker geschlagen; gleichwohl machte er einen leicht verwirrten Eindruck. Wissend schauten sich die beiden an. Suzanne kannte die Situation. Es war jedesmal wie in einer Prüfung. Im Falle der SED überwog zudem die Atmosphäre der Ablehnung, da es sich um eine unorthodoxe Theorie handelte, die noch nicht die Reife des Standardmodells erreicht hatte. Schweigend, doch gedankenschwer, gingen sie ihres Weges. Ihre Sinne genossen den erdig-holzigen und blüten-blättrigen Duft der Parklandschaft. In den Baumkronen spielte der Wind mit dem Licht und fächerte es in vielfältigen Grüntönen herab.

Nach einer Weile brach Suzanne die ruhige Beschaulichkeit. Sie wollte Ordnung in ihre Gedanken bringen: ,,Die schwere Masse ist die Kopplungsstärke der Gravitation. Nehmen wir mal an, daß die träge Masse der Streuung der elektrischen Ladung am ZPF erwächst. Nach dem Äquivalenzprinzip wird mit dem Verschwinden der trägen Masse zwar ebenfalls die Gravitation und der Beschleunigungswiderstand vermindert; zugleich schwindet aber auch das im Trägheitsgesetz formulierte Beharrungsvermögen. Die Beschleunigung müßte womöglich dauerhaft aufrecht erhalten werden, obwohl es eigentlich gar keinen Grund mehr dafür gäbe.``

,,Das hört sich an wie das Argument für die Reibung beim Gehen oder Fahren. Reibung ermöglicht und erschwert zugleich die Bewegung. Soll es sich ebenso mit der trägen Masse verhalten?``

,,Aufgrund der Trägheit der Energie wächst die Masse andererseits mit der Geschwindigkeit ... ``

,,Ein Effekt, der allerdings durch das ZPF kompensiert werden könnte``, warf Antoon ein.

,,Wenn wir weiterhin Energieerhaltung annehmen, werden die Energieanleihen nur vorübergehend sein können und irgendwann zurückgezahlt werden müssen``, gab Suzanne zu bekenken und wunderte sich über ihre ökonomische Ausdrucksweise. Sie ließ sich aber nichts anmerken und erweiterte das Thema ins Phantastische. ,,Was mich am ZPF viel mehr als die Möglichkeit von Weltraumreisen interessiert, wäre die Perspektive einer Nutzung als Informationsträger. Wie das ZPF selbst wären die Informationen stets überall und immer gegenwärtig.`` Sie machte eine bedeutsame Pause und fuhr dann sichtlich begeistert fort: ,,Stell dir nur mal vor, wir könnten unser Bewußtsein ins ZPF transferieren!``

,,Die Allgegenwart deiner Schönheit wäre durchaus erstrebenswert``, entgegnete Antoon mit ironischem Unterton, ,,zeugt aber auch von den Allmachtsphantasien eines kosmischen Bewußtseins.``

,,Warum denn nicht? Irgendein Ziel sollte man schon haben``, setzte Suzanne heiter einen drauf und ... hielt abrupt inne. Fasziniert standen die zwei vor einem Springbrunnen, in dessen hoch aufwehender Wasserfahne ein schöner Regenbogen aufschien. ,,Am farbigen Abglanz haben wir das Leben``, rief sie begeistert Faust erinnernd aus. Nach einer Weile inniger Andacht, sagte sie leise wie zu sich selbst: ,,So flüchtig wie das Farbenspiel der Sonne mit den Wassertröpfchen ist auch das Bewußtseinsspiel unseres Gehirns mit den Sinnen.``

Antoon nutzte in kühner Weise den Zauber der Situation, stellte sich dicht hinter sie, schloß seine Hände auf ihrem Bauch, legte seinen Kopf auf ihre rechte Schulter, koste ihr Ohrläppchen und flüsterte: ,,Was entspräche denn den Sinnen im Nullpunktsfeld?``

Seine Zärtlichkeit war ihr nicht unangenehm. Sie lehnte sich leicht an ihn und legte ihren Kopf nach hinten an seinen Hals.

,,Wäre es am absoluten Nullpunkt nicht etwas zu kalt?`` gab er betont nüchtern zu bedenken.

,,Somewhere over the rainbow, skys are blue and the dreams ... realy do come true ... blue birds fly ... birds fly over the rainbow ... `` Sanft wiegten sich die beiden im Rhythmus. In Suzanne erklang die wunderbare Stimme Janes und Antoon schloß sinnend die Augen.

,,Also, mir wird es langsam eher zu heiß``, löste sie sich lachend aus seiner Umarmung und nahm ihren Jüngling übermütig bei der Hand. Aus der farbigen Lichtung des Brunnens begaben sie sich wieder unter das grün-braune Schattenmuster des Blätterdachs. Der Lichteinfall war hier wie bei van Rijn, dachten beide.

Am Tag darauf trafen sie sich zu einem Vortrag seines Landsmanns Gerard `t Hooft . Er sprach über Quantum Gravity as a Dissipative Deterministic System. Suzanne hatte bereits eine seiner Veröffentlichungen zur Revitalisierung der klassischen Physik mit Interesse und Verwunderung gelesen: A theory is developed that will not postulate the quantum states as being its central starting point, but rather classical, deterministic degrees of freedom. Quantum states, being mere mathematical devices enabling physicists to make statistical predictions, will turn out to be derived concepts, with not strictly locally formulated definition. Damit verfolgte er die gleiche Absicht wie seinerzeit Einstein, als er in seiner Arbeit zur Brownschen Molekularbewegung die zufälligen Bewegungen der suspendierten Teilchen durch die deterministischen Newtonschen Gesetze auf dem atomaren Niveau erklären konnte. Der Quantenfeldtheoretiker Steven Weinberg hatte bereits eingeräumt, daß es sich beim Standardmodell lediglich um eine effektive Theorie handelte, deren Gültigkeit unterhalb von etwa $10^{-20} \, m$ nicht mehr gewährleistet war. Auf dem Planckniveau von $10^{-35}\, m$ konnten die Verhältnisse grundlegend anders sein. Ebenso verhielt es sich mit den Unterschieden zwischen dem menschlichen Maß im Meterbereich und dem subatomaren Bereich unterhalb von $10^{-10} \, m$. Unsere beiden Zuhörer verfolgten den Vortrag Gerards mit wachem Interesse. Die typischen Quanteneffekte, wie Nichtlokalität, Zustandsverschränkung und Teleportation, hielt er für eng umgrenzte Phänomene, die nur unter extremer Isolierung von der Umgebung und auch nur sehr kurzzeitig möglich waren. Die klassischen Bedingungen auf dem Planckniveau könnten so nie übertroffen werden. Bei folgendem Statement merkte Suzanne auf: Black holes absorb negative amounts of curvature energy, allowing positive energy to escape to infinity. So war es! Was sollte demgegenüber die Redeweise von der Erzeugung aus dem Nichts? Gerards abschließende Bemerkungen sollten Suzanne lange im Gedächtnis bleiben: It may still be possible that the quantum mechanical nature of the phenomenological laws of nature at the atomic scale can be attributed to an underlying law that is deterministic at the Planck scale but with chaotic effects at all larger scales. Wenn es sich mit den Quantenfluktuationen so wie bei den Temperaturschwankungen verhielte, müßten sie auf dem Planckniveau null werden, dachte Suzanne. Dann gäbe es auch keine durch Quantenfluktuationen ,,aufgeschäumte`` Raumzeit mehr. Eine Quantisierung der Raumzeit wäre gleichwohl durch trans-Planckian particles möglich, wie Gerard unter Rückgriff auf sein holographisches Prinzip berechnet hatte. Quantenzustände auf der Horizontfläche eines schwarzen Loches beschrieben danach auch die Dynamik des gesamten Universums in flacher Raumzeit. Mit R als Periode der kompaktifizierten dritten Raumdimension folgt für den Zeitparameter der holographischen Feldoperatoren die Quantisierungseinheit tQ zu:

\begin{displaymath}
t_Q = {{8 \pi G \hbar} \over {c^5 R}} = t_P {{8 \pi } \over R} \end{displaymath}

Während im Saal eine hitzige Diskussion entflammte, starrte Suzanne gedankenversunken auf ihre Notizen. Physiker liebten das mathematische Spiel mit den Dimensionen. Im niederdimensionalen Raum erschien die höhere Dimension dann z.B. als elektrisches Potential. Ähnlich verhielt es sich mit dem Higgs-Potential, das aus der Verbindung von links- und rechtshändigem Raum erwuchs und wie die zwei Seiten einer Fläche durch eine kleine Ausdehnung in der höheren Raumdimension verstanden werden konnte. Unwillkürlich griff sie nach ihrem Blatt Papier und fuhr sachte mit dem Zeigefinger die Kante entlang, so als wollte sich ihr Körper den Gedanken einverleiben. Dabei entfuhr ein Dylan-Song ihren Lippen The geometry of innocense flesh on the bone, causes Galileo's math book to get thrown. Antoon erheiterte Suzannes weggetretener Zustand. Er war gerade im Gespräch mit zwei Physikern aus der Wissenschaftler-Kolonie Utopia in Big Sur. Als er Suzannes leeren Blick gewahrte, zögerte er einen Moment, sie vorzustellen. Doch die Möglichkeit, sich auf den Weg nach Utopia zu machen, ließ sie aufmerken. Die drei verabredeten sich für den nächsten Tag und würden sie im Hotel abholen.

Suzannes Nachtflug durch das Labyrinth der Sinne endete im Morgengrauen. Ihr junger Liebhaber gab sich bereitwillig hin. Seine Bewegungen folgten ihrem Führungsfeld, das dem Gleichgewicht der Lust in der Dynamik ihrer Körper entsprang. In der seeligen Ermattung nach den Verschlingungen ihrer Leiber dämmerten sie in den Tag hinein.


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Ingo Tessmann
3/2/2002