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Jeder Möglichkeit wohnt eine Propensität inne

Wie ist das Optimum im Raum der Möglichkeiten zu finden? Wer in Alternativen denkt, hat sie zu bewerten, um die beste auszuwählen. Naturvorgänge folgen schlicht den wahrscheinlichsten Entwicklungspfaden, die in der Regel durch ein Minimum an Energieaufwand realisiert werden. D.h. die Wahrscheinlichkeitsgewichtung im Raum der Möglichkeiten folgt der Energieverteilung. Der energieärmere Zustand ist der wahrscheinlichere. An eine derart objektivierbare Wahrscheinlichkeitsauffassung versucht Popper anzuknüpfen. Mit Propensität meint er dabei so etwas wie eine Verwirklichungstendenz. Wenn einem Philosophen nichts einfällt, erfindet er eine neue Wortverwendung. Es ist die Propensität, die Möglichkeiten verwirklichen soll. Aristoteles erfand das Potential, das sich aktualisiert. Plato das Ideal, das sich realisiert. Ähnlich verhält es sich mit dem Abstrakten, das sich angeblich konkretisiert oder dem Geist, der sich materialisieren können soll. Das alles sind bloß Wortspiele.

Popper betrachtet zur Erläuterung seiner Worteinführung das Beispiel eines Würfelspiels. Obwohl niemand die jeweilige Augenzahl wiederholter Einzelwürfe vorherzusagen vermag, schreibt der Philosoph der Gesamtsituation aller in Betracht kommenden Einflußfaktoren eine Propensität zu, die den möglichen Augenzahlen ein Wahrscheinlichkeitsgewicht verleihen soll. Nicht die zufälligen Umstände, sondern die objektive Situation soll das Würfeln bestimmen. Messen kann man natürlich immer nur die Häufigkeitsverteilungen von geworfenen Augenzahlen. Aber Wahrscheinlichkeit schlicht als erwartete relative Häufigkeit aufzufassen, ist Popper zu subjektiv. Deshalb will er die Wahrscheinlichkeit durch eine objektive Propensität bestimmt wissen.

Hier haben wir ein weiteres Gegensatzpaar, über das Philosophen gerne streiten. Popper zählt zu den Objektivisten. Die Dialektiker hält er für Subjektivisten. Wenngleich niemand Propensitäten zu messen vermag, erhebt Popper gleichwohl den Anspruch, einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis von Entwicklung geleistet zu haben. Er schrieb: ,,Aristoteles legte die Propensitäten als Potentialitäten in die Dinge. Die Newton'sche Theorie war die erste relationale Theorie physischer Dispositionen, und die Gravitationstheorie führte fast unvermeidlich zu einer Theorie von Feldern und Kräften. Ich glaube, daß die Propensitätsinterpretation der Wahrscheinlichkeit diese Entwicklung einen Schritt weiterbringen kann.`` Über diesen Anspruch sind die kritischen Rationalisten allerdings bisher nicht hinausgekommen. Die Naturwissenschaftler werden darüber mehr Aufschluß geben.


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Ingo Tessmann
1/31/2000