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Die Bisexualität und der Bruderzwist

Das heitere Naturkind Einstein erschien der Öffentlichkeit als weltfremder, aber liebenswürdiger Professor, dem zumeist mit Ehrfurcht und Bewunderung begegnet wurde. Er konnte sich nicht nur einen offen spielerischen Umgang mit den Damen erlauben, die ihm nachstellten, sondern verhehlte auch nicht seine politische Haltung, indem er sich als Gefühlssozialist outete. Zu den Doppelnaturen, die das zarte Reich ihres Gefühlslebens durch Weltflucht oder Konvention schützen müssen, gehörte auch Thomas Mann. Da er allerdings als Repräsentant der ,,deutschen Kultur`` zu gelten trachtete, konnte er sich nicht die Unbotmäßigkeiten des weltweisen Gelehrten erlauben. Zudem war die Persönlichkeit des Künstlers nicht von der souveränen Unabhängigkeit und dem stabilen Selbstbewußtsein des Physikers geprägt. Der Dichter lebte stets im Wechselbad zwischen narzißtischer Grandiosität und neurotischem Minderwertigkeitsgefühl. Die ,,Seelenruhe`` Albert Einsteins war ihm nicht vergönnt; denn zwei Grundprobleme durchziehen die Biographie Thomas Manns: die Bisexualität und der Bruderzwist. Von früh an stand Thomas im Schatten seines vier Jahre älteren Bruders Heinrich. Auch er hatte vorzeitig die Schule verlassen und lebte nach einem Zwischenspiel beim Fischer-Verlag als Publizist und Schriftsteller auf freiem Fuß. Während er mit einer unglaublichen Prokuktivität Buch auf Buch veröffentlichte, geriet Thomas nach dem grandiosen Erfolg der Buddenbrooks in eine Schaffenskrise, die es ihm aussichtslos erscheinen ließ, weiterhin überhaupt noch Romane schreiben zu können, ohne das bereits in einem Geniestreich erreichte Niveau zu unterbieten. Nicht die abweichenden politischen Ansichten zwischen dem liberalen Zivilisationsliteraten Heinrich und dem gefühlskonservativen Kulturdichter Thomas bestimmten den Bruderzwist, sondern übersteigerte Eitelkeit und grenzenloser Ehrgeiz prägten ihren Umgang. Denn eigentlich waren sie beide gleichermaßen unpolitisch, wie Fest in seinen Essays über die unwissenden Magier hervorhebt: Sie dachten und empfanden in einer bürgerlichen Tradition, die ganz an privaten Begriffen, Zwecken, Tugenden orientiert war. Bücher und Träume bildeten ihr eigentliches Element, für das keine Wirklichkeit einen Ausgleich bot.

Im Dezember 1903 schreibt Thomas seinem Bruder einen bemerkenswerten Brief. Ganz entgegen seiner Gewohnheit platzt ihm der Kragen, fällt ihm die Höflichkeitsmaske herunter: Daß ich mit Deiner litterarischen Entwicklung nicht einverstanden bin,- muß einmal ausgesprochen werden. Heinrichs Roman Die Jagd nach Liebe betitelt er danach als Die Jagd nach Wirkung; denn statt erlesener litterarischer Äußerungen enthalte es diese verrenkten Scherze, diese wüsten, grellen, hektischen, krampfigen Lästerungen der Wahrheit und Menschlichkeit, diese unwürdigen Grimassen und Purzelbäume, diese verzweifelten Attacken auf des Lesers Interesse! ... Alles ist verzerrt, schreiend, übertrieben, ,,Blasebalg``, ,,buffo``, romantisch also im üblen Sinne, die falschen Gesten der Repräsentanten des Christenthums aus den ,,Göttinnen`` sind wieder da und die dazu gehörige dick aufgetragene Colportage-Psychologie. Auch am Stil findet Thomas einiges auszusetzen; er nennt ihn wahhlos, schillernd, international. Und: Alles, was wirken kann, ist herangezogen, ohne Rücksicht auf Angemessenheit. Thomas sieht in seinem Bruder nur noch den auf Applaus und Wirkung bedachten Komödianten: Ehrgeiz, Naivetät, Skrupellosigkeit - das sind ja wohl Eigenschaften des ,,Künstlers``, des ,,reinen Künstlers``, dessen Rolle Du übernommen hast. Ein neues Genre von Unterhaltungs- oder Zeitvertreib-Lektüre geschaffen zu haben, wirft er dem Bruder weiter vor und schließt endlich mit dem Fazit: Da aber in ,,Die Jagd nach Liebe`` von der Schönheit nicht viel, vom Historischen garnichts übrig ist,- was bleibt? Es bleibt die Erotik, will sagen: das Sexuelle. Denn Sexualismus ist nicht Erotik. Erotik ist Poesie, ist das, was aus der Tiefe redet, ist das Ungenannte, was Allem seinen Schauer, seinen süßen Reiz und sein Geheimnis giebt. Danach hat sich Thomas nie mehr inhaltlich-anteilnehmend über die Werke seines Bruders geäußert und sich nur noch in Höflichkeitsfloskeln, scheinheiliger Bewunderung oder höhnisch-ironischer Umschreibung ausgelassen. Auf den Kunstanspruch Thomas Manns werde ich noch anhand einschlägiger Essays und ausgewählter Werke zu sprechen kommen.

Neben der Feinsinnigkeit des Dichters und dem Selbstverständnis des anspruchsvollen Künstlers war es aber auch das Ringen um eine stabile Geschlechtsidentität, die in den Bruderzwist hineinspielte. Während homoerotische Eskapaden pubertärer Neugier normalerweise mit dem Erfolg beim anderen Geschlecht verschwinden, blieb die Neigung zu Knaben in Thomas Mann lebenslang lebendig. Die Bildung einer Geschlechtsidentität scheint ihm nicht gelungen zu sein. Auch der Entscheidung für die Ehe war eine homoerotische Krise vorangegangen; das Zerwürfnis mit dem Freund Paul Ehrenberg. Dazu kam dann noch die Schaffenskrise; denn mit Buddenbrooks hatte er ein kaum wiederholbares künstlerisches Niveau erreicht. Und nachdem seine Erzählung Wälsungenblut einen antisemitischen Skandal heraufbeschworen hatte, zumal seine Frau Katharina Pringsheim dem jüdischen Großbürgertum entstammte, schreibt er im Januar 1906 an Heinrich: Ein Gefühl von Unfreiheit, dass in hypochondrischen Stunden sehr drückend wird, werde ich freilich seither nicht mehr los, und Du nennst mich gewiß einen feigen Bürger. Aber Du hast leicht reden. Du bist absolut. Ich dagegen habe geruht, mir eine Verfassung zu geben. Schlimm ist hauptsächlich, daß ich, der ich ohnehin so wenig fertig bringe, auch noch die skrupulöse Arbeit langer Wochen aus Rücksichten unterdrücken muß. Durch die Heirat Katjas hatte er sich also eine Verfassung gegeben. Im Gegensatz zu Heinrichs ,,absoluter`` Geschlechtsidentität, haderte Thomas lebenslang mit seiner Bisexualität. Sein ganzes Werk ist durchzogen von Homoerotik, sogar wenn er heterosexuelle Liebschaften schildert. Für Reich-Ranicki ist Manns Schaffen schlechterdings das Werk eines Erotikers. Mit der großbürgerlichen Haushaltsführung verband er die Hoffnung, sein Triebleben unter Kontrolle bringen zu können. Ein Repräsentant ,,deutscher Kultur`` hatte seinen Mann zu stehen! An Heinrich schreibt er im Februar 1905: Ich habe, trotz der Versicherungen von allen seiten über die hygienische Förderlichkeit der Ehe, nicht immer einen guten Magen und darum auch nicht immer ein gutes Gewissen bei diesem Schlaraffenleben und sehne mich nicht selten nach ein bischen Klosterfrieden und ... Geistigkeit. Neidisch kommentiert er die Produktivität des Bruders: Es scheint zu strömen bei Dir ... Du weißt, ich glaube, daß Du Dich ins andere Extrem verloren hast, indem Du nachgerade nichts weiter mehr, als nur Künstler bist,- während der Dichter, Gott helfe mir, mehr zu sein hat, als bloß ein Künstler. Auf den Gegensatz zwischen naiv-komödiantischem Künstler und geistig-formstrengem Dichter ist Thomas Mann immer wieder zurückgekommen. Hatte ihm bereits der Ehetrubel seinen geistigen Klosterfrieden verleidet, so war er auch noch enttäuscht, als ihm seine junge Frau eine Tochter gebar. In einem Brief an Heinrich heißt es im November 1905: Es ist also ein Mädchen: eine Enttäuschung für mich. Eine positive Seite vermag die Geburt Erikas ihm gleichwohl zu entlocken: Vielleicht bringt mich die Tochter innerlich in ein näheres Verhältnis zum ,,anderen`` Geschlecht, von dem ich eigentlich, obgleich nun Ehemann, noch immer nichts weiß.

Seine homoerotischen Neigungen hat Thomas Mann wohl nie mit Partnern praktisch-körperlich zu befriedigen versucht; jedenfalls sind bisher keine Belege darüber aufgetaucht. Hand legte er lediglich an sich selbst; denn das sexuelle Leitmotiv seiner Tagebücher ist die Masturbation, wie Reich-Ranicki in Thomas Mann und die Seinen hervorhebt. Eine so weitgehende Befreiung vom ,,Nur-Persönlichen`` wie bei Einstein war nicht sein Lebensziel. Gleichwohl ist aber auch bei Thomas Mann der Hang zur Selbstgenügsamkeit und die Scheu vor wärmender Liebe stark ausgeprägt. Lediglich sein Geltungsdrang und seine Ruhmsucht treiben ihn immer wieder aus seinem großbürgelichen Refugium hinaus, um mit vor Stolz schwellender Brust Ehrungen und Auszeichnungen zu empfangen oder sich bei Lesungen und Vorträgen zu inszenieren und feiern zu lassen. Was für Einstein stets lästige Unterbrechung seiner Forschungen bedeutete, genoß Mann in vollen Zügen. Wie Harpprecht, Hermann und Kurzke zu berichten wissen, empfing er 1935 gemeinsam mit Einstein die Ehrendoktorwürde der Harvard University und erwartete ungeduldig die private Einladung des amerikanischen Präsidenten Roosevelt ins Weiße Haus; eine Ehre, die zuvor schon Einstein zuteil wurde. Am 28. Januar 1939 überreichte der Physiker dem Schriftsteller die Einstein-Medaille for humanitarian services. In seiner Dankrede rühmt der Dichter den Physiker als den weltberühmten Repräsentanten der modernen Physik und setzt hinzu: Ich bin fähig, wenigstens zu ahnen, daß in der modernen Physik ... Dinge vor sich gehen, phantastischer als alles, was Dichtung ersinnen könnte, und wichtiger, verändernder für den Menschen und sein Weltbild als alles, was Literatur zu leisten vermag. Das waren geradezu prophetische Worte, worauf Hermann in Thomas Mann und die Wissenschaften hinweist; denn gerade hatten Hahn, Meitner und Strassmann in Berlin die Kernspaltung entdeckt.

Ähnlich wie Thomas Mann hatte auch Albert Einstein seine ersten Werke gleichsam nebenbei in der Freizeit oder während der Berufsarbeit hervorgebracht. Zwischen 1902 und 1908 war der Physiker Beamter im Berner Patentamt. Die Gutachtertätigkeit ließ ihm genügend Spielraum, an seinen grundlegenden physikalischen Untersuchungen zu arbeiten und sich in der Gelehrtenwelt der Physiker einen Namen zu machen. Wie ich im folgenden Kapitel ausführen werde, durchliefen beide Geistesheroen bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges eine Entwicklung zur Klassik, wie ich es umschreiben möchte. Der Dichter überwindet in seiner bereits angedeuteten Schaffenskrise den ,,nihilistischen Ästhetizismus`` des freien Künstlertums und schafft mit der Novelle Der Tod in Venedig 1912 ein formvollendetes Kunstwerk, dessen ,,mythopoetische Struktur`` auch alle nachfolgenden Werke prägen wird. Und der Physiker überwindet mit dem Bedenken der Konsequenzen des allgemeinen Relativitätsprinzips in der Gravitationstheorie den Mach'schen Positivismus und gelangt zu seinem Maßstab der Vollkommenheit : Es ist klar, daß man im allgemeinen eine Theorie als umso vollkommener beurteilen wird, eine je einfachere Struktur sie zugrunde legt und je weiter die Gruppe ist, bezüglich welcher die Feldgleichungen invariant sind. Schicken wir uns an, den beiden Genies auf ihren Pfaden in die innere und äußere Natur ein Stück weit zu folgen. Die Beschränkungen, die eine Logik des strengen Satzes für die Kompositionskunst Manns bedeutete, könnte sich als ein Analogon zur Mathematik der Invarianten in der Physik Einsteins erweisen.


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Ingo Tessmann
2/16/2003