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Bloomsbury

In Verbindung mit dem Ableben der Mutter und dem frühen Tod der vertrauten Halbschwester hatte Virginia ihren ersten Nervenzusammenbruch und das Sterben des Vaters löste ihren ersten Selbsttötungsversuch aus. So wie man aber von Krankheiten mit Gewinn wieder genesen kann, vermag es auch die Bewältigung von Lebenskrisen, dem Dasein mehr Reichhaltigkeit oder eine neue Perspektive zu erschließen. Seit 1895 schrieb Virginia Tagebuch, was keine unerhebliche entlastende Wirkung auf ihre wiederkehrenden Verstimmungen gehabt haben dürfte. Im September 1897 trägt sie ein: This diary is lengthening indeed, but death would be shorter & less painful. Mit 15 suchte Virginia Antworten auf die Schicksalsschläge des Lebens und Vanessa gab ihr den Rat, ihr Schicksal nur in sich selbst zu suchen. Gordon kommentiert: She resolved to follow ``the scar to the end'' and then to fling the diary into a corner to the obliterated by ``dust & mice & moths & all creeping crawling eating destroying creatures. Nach sieben unglücklichen Jahren, wie sich Virginia später erinnern sollte, konnten die Stephens im Herbst 1904 das Vaterhaus verlassen und nach Bloomsbury ins Haus am Gordon Square 46 umziehen. Die neuen Wohnräume waren nicht nur größer, sondern auch heller und vor allem: sie konnten ganz nach ihren eigenen Vorstellungen eingerichtet und gestaltet werden. Die Freiheit schien grenzenlos und was der Intellekt und die Kreativität der vielen Schriftsteller und Publizisten, Künstler und Wissenschaftler seit nunmehr schon über drei Generationen aus dem produktiven Zusammenleben in Bloomsbury gemacht haben, ist von Christine Frick-Gerke aus den Erinnerungen der Beteiligten zusammengestellt worden in dem Buch: Inspiration Bloomsbury. Pamela Todd hat mit der bibliophilen Ausgabe: Die Welt von Bloomsbury auch einige der Zeichnungen, Illustrationen, Porträts und Gemälde der Künstler Bloomsbury's mit veröffentlicht. In ihrer außerordentlichen Bedeutung für England kann Die Welt von Bloomsbury in Deutschland wohl nur mit: Die Familie Mann verglichen werden, deren dritte Generation ebenfalls noch schriftstellerisch tätig ist. Auch innerfamiliäre Übereinstimmungen lassen sich feststellen: Dem eher spröden, trocken humorvollen und ironischen Intellekt Thomas Manns einschließlich seiner homoerotischen Neigungen entsprechen die Persönlichkeit Virginia Stephens und das mehr sinnlich heitere und sexuell ausschweifende Naturell ihrer Schwester Vanessa dem des Bruders Heinrich Mann. In der zweiten Generation ließen sich Erika und Klaus Mann mit Angelica und Quentin Bell vergleichen, wobei die Parallelen aber schon wesentlich unbedeutender ausfallen, um sich in der dritten Generation z.B. mit Frido Mann und Julian Bell vollends zu verflüchtigen.

Die Keimzelle des Bloomsbury-Kreises bildeten die von Thoby und Vanessa 1905 ins Leben gerufenen wöchentlichen Diskussionsrunden am Donnerstag und Clubabende am Freitag. Während die Brüder in Cambridge studierten, war den Schwestern das Studium nicht ermöglicht worden, wobei Vanessa wenigstens an der nahegelegenen Slade School of Art ihre Talente ausbilden konnte. Für Virginia bildeteten die Besuche und der Umgang mit den intellektuellen und kunstsinnigen Studenten eine höchst stimulierende und befreiende Atmosphäre. Die aufgekärten Humanisten und experimentierfreudigen Freidenker sollten aus den regelmäßigen Zusammenkünften und Veranstaltungen eine Bewegung werden lassen, die nachhaltig die hinterweltliche viktorianische Gesellschaft zu überwinden vermochte: Bloomsbury became synonymous with avant-garde art, formalist aesthetics, libertine sexuality, radical thinking, rational philosophy, progressive anti-imperialist and feminist politics, conscientious objection during Great War, and antifascism in the 1930s. Das intellektuell snobistische Milieu der elitären society of Cambridge Apostles, in denen die Brüder Stephens verkehrten, stand wesenlich unter dem Einfluss der beiden herausragenden Gelehrten und Intellektuellen G.E. Moore und Bertrand Russell, wie Goldman hervorhebt und fortfährt: The Bloomsbury Group included Lytton Strachy the critic and iconoclastic biographer of Eminent Victorians (1918) and Queen Victoria (1921); the art critics Clive Bell and Roger Fry, who introduced modern art to Britain in 1910 with their Post-Impressionist exhibition and who developed highly influential formalist theories of art; the influential radical economist John Maynard Keynes; and Leonard Woolf, left-wing political theorist and publisher. Also in the circle were the drama critic Desmond MacCarthy, the novelist E.M. Forster, the painters Duncan Grant and Vanasse, and Adrian Stephen, Virginia's brother, an ardent pacifist who also dedicated himself to the advance of psychoanalysis. Umschwärmt von so vielen attraktiven Männern, kamen die Schwestern Stephen nicht umhin zu heiraten. Das Ehegefängnis entsprach zwar nicht ihren politischen und erotischen Ansprüchen, war aber im noch immer christlich-konservativen Umfeld unvermeidlich.

Mit Lytton Strachy Virginia enjoyed an intimate and flirtatious intellectual friendship. Und obwohl er schwul war, machte er ihr den ersten Heiratsantrag. Lytton war ein unterhaltsamer Gesellschafter und virtuoser Selbstdarsteller. Ihm war vor allem die zugleich intellektuell anspruchsvolle und heiter entspannte Atmosphäre während der Zusammenkünfte zu verdanken. Er vermochte es, dass ein Wort wie Arschficker ganz selbstverständlich gebraucht werden konnte und sich Vanessa auch nicht zu schämen bräuchte, wenn sie auf ihrem Kleid einmal Samenflecken haben sollte. Als erster machte Clive bei Vanessa das Rennen: sie heirateten 1907 und 1908 bzw. 1909 kamen die beiden Söhne Julian und Quentin zur Welt. Der Lebemann Clive hatte einige Affären während der Ehe, zum Verdruss Vanessas auch eine mit Virginia. Nachdem Vanessa eine Liebschaft mit Roger genossen hatte, lebte sie in einer erotischen Dreierfreundschaft mit dem Maler Duncan Grant und dem Romancier David Garnett zusammen, die ihrerseits einen homoerotischen Umgang pflegten. Der Schönling Duncan war auch der Liebhaber Adrians, Lyttons und Maynards. Mit Duncan bekam Vanessa 1918 die Tochter Angelica, die wiederum vier Töchter bekommen sollte mit - David, der sie schon bei ihrer Geburt bewundert hatte. Eine eher intuitive als leidenschaftliche Ehe ging Virginia 1912 mit dem Schriftsteller und Publizisten Leonard Woolf ein. 1922 lernte Virginia die dem englischen Hochadel entstammende Bestseller-Autorin Vita Sackvill-West kennen und - lieben. Die beiden wurden ein legendäres Paar und mit Orlando sollte Virginia ihrer schönen jungen Freundin ein literarisches Denkmal setzen. Die Frauen waren im engeren Kreis der Bloomsbury-Group unterrepräsentiert und so gesellten sich immer wieder verschiedene Musen und Studentinnen hinzu. Da war zunächst die auf großem Fuße lebende und kaum eine Affäre auslassende Lady Ottoline Morrell, dann die drei ,,Bubiköpfe`` von der Slade School of Art: Dora Carrington, Barbara Hiles und Dorothy Brett sowie last but not least Hellen Anrep. Hellen kam aus den USA, hatte in Italien die Musik und in Frankreich die Malerei für sich entdeckt. Nachdem sie sich von dem Mosaikkünstler Boris Anrep getrennt hatte, schloss sie sich Roger Fry an. Die Malerin Dora Carrington lebte in einer erotischen Dreierfreundschaft mit Lytton Strachy und dem Ex-Major Ralph Patridge. Auch in dieser ménage à trois unterhielten die Männer eine Liebschaft. Der Tod Lyttons 1932 bedeutete nicht nur das Aus für das Dreiecksverhältnis, sondern auch für Dora: sie erschoss sich, da sie meinte, ohne Lytton nicht mehr leben zu können.

Jahrzehnte vor den Beats und Hippies praktizierten die Bloomsberries bereits einen Lebensstil, indem das Private immer auch politisch war und das Leben zur Kunst verfeinert werden sollte: Leben war Literatur, das hatte Virginia schon im Elternhaus durch ihren Vater erfahren. Aus dem Umgang mit den Schriftstellern, den vom Lesen ausgehenden Gesprächen und den beim Schreiben entstehenden Gedanken gingen vielfältige Lebensäußerungen hervor. In dem für Virginia und Bloomsbury wichtigen Jahr 1910 waren das drei die britische Gesellschaft unterminierende Aktionen: the suffrage movement, the Dreadnought Hoax, and the Post-Impressionist exhibition. Die Unterstützung der Bewegung zur Erlangung des Wahlrechts für Frauen, war den Freidenkern natürlich selbstverständlich. Zusammen mit Marjorie Srachey beteiligte sich Virginia aktiv an der Suffragetten-Bewegung, indem sie an Diskussionen teilnahm und Texte für Flugblätter entwarf. Das allgemeine Wahlrecht erhielten die Frauen Englands erst 1928. Feministische Selbstbestimmung und künstlerische Freiheit überschnitten sich in einer Aktion, in der Vanessa und Virginia nur leicht bekleidet als Gauguin girls anlässlich der Ausstellung Manet and the Post-Impressionits auftraten. Die spärlich drapierten, schönen jungen Damen verschafften der Ausstellung genau die richtige Aufmerksamkeit; denn van Gogh, Gauguin, Cézanne und andere Avantgarde-Künstler des Kontinents waren noch nie auf der Insel gezeigt worden. Für Furore in der Öffentlichkeit sorgte auch der Scherz auf dem Kriegsschiff HMS Dreadnought. Virginia und ihre Mitstreiter hatten sich als Kaiser von Abessinien und Gefolge verkleidet und waren bei einem offiziellen Empfang auf dem Kriegsschiff nicht als Schwindler erkannt worden. Davon hätten 50 Jahre später die Polit-Clowns der Kommune I noch was lernen können.

Neben öffentlichkeitswirksamen Aktionen ging es aber auch um handfeste Arbeiten und Projekte: Omega-Werkstatt, Birrell & Garnett Buchladen und Hogarth Press. Die Omega-Werkstatt eröffnete Roger Fry im Juni 1913 am Fitzroy Square 33 - mit einer feucht-fröhlichen Party. Die Werkstatt sollte jungen Malern und Bildhauern als Produktionsstätte dienen und sie mit einem kunstinteressierten und aufgeschlossenen Publikum zusammenbringen. Was die Omega-Werkstatt für die bildende Kunst war, wurde Hogarth Press für die Literatur. Anfänglich im Hogarth House später Tavistock Square 52 diente der eigene Verlag der Woolfs der unabhängigen Produktion ausgewählter Literatur. Die erste Veröffentlichung der Hogarth Press war 1917 Virginias Erzählung The Mark on the Wall. Verkauft werden konnten die Bücher dann auch in der von Birrell & Garnett betriebenen Buchhandlung. Die von den beiden leicht desorganisierten Herren beschäftigte Buchhändlerin Frances Marshall war sogar in Bloomsbury geboren. Als Ralph Patridge einmal in dem Laden stöberte, verliebten sich die beiden ineinander und aus der Dreier- wurde eine Viererbeziehung. Frances bekam 1935 einen Sohn, der später Angelicas Tochter, Henrietta Garnett, heiratete, von der ihre Oma Vanessa ein schönes Stillleben mit ihrer Schwester Amaryllis gemalt hatte. Die jüngere Bloomsbury-Gruppe um Angelica traf sich spät abends im Atelier in der Fitzroy Street zum Feiern ihrer ausgelassenen Feste, während sich Old-Bloomsbury am Tavistock Square oberhalb der Verlagsräume bei den Woolfs versammelte. Zum Austausch der Erinnerungen an die ersten Jahre wurde 1919 von Mary MacCarthy der Memoir Club gegründet. Im exklusiven Kreis sollten vertraulich völlig ehrliche Texte vorgetragen und besprochen werden. Auch diese Gepflogenheit wurde im Zuge der Verinnerlichung während der 1970er Jahre von der Studentenbewegung wieder belebt - und hält bis heute an. Julian, der Sohn Quentins, trat 1999 mit seiner kunsttheoretischen Abhandlung: What is Painting? Representation and Modern Art, dem Vater ähnlich, in die Fußstapfen seines Großvaters Clive, der 1914 seinen viel beachteten Essay Art publiziert hatte. Wie sich Julian in Inspiration Bloomsbury an Quentin erinnert, schuf der seine Bilderwelt aus rhetorischen Denkfiguren - Appositionen und Paradoxen. Die mit den Schwestern Stephens begonnene Verbindung zwischen Malerei und Literatur hatte ihre Früchte getragen. Schon Vanessa war es immer wieder gelungen, in ihren Bildern die besondere Haltung der Gesprächspartner im Freitagsclub einzufangen. Und Virginia entwickelte von Kind an ein bildhaft-assoziatives Denken, wie sie es später in ihren Kurzgeschichten und Romanen verfeinernd auszugestalten verstand.

Das gleichermaßen künstlerisch-erotisch wie philosophisch-literarisch inspirierende Milieu in Bloomsbury ermöglichte Virginia nahezu paradiesische Arbeitsbedingungen. Davon hätte Jane Austen noch nicht einmal zu träumen vermocht. Nach den monatelangen Wahnvorstellungen und der Lebensmüdigkeit, die 1904 das Ableben ihres Vaters ausgelöst hatten, veröffentlichte Virginia Stephen auf Anregung Violet Dickensons im Guardian zum Jahresende ihre erste journalistische Arbeit, die Literaturkritik: The Son of Royal Langbrith. Die Besprechung des im Titel genannten Romans Howells beginnt Stephen mit den Worten: Mr Howell is the exponent of the novel of thought as distinct from the novel of action. Men interest him primarily as thinking, not as doing, animals. Dieser Unterscheidung zwischen den Romanen folgend, wird sich Virginia grundsätzlich für die Gedankenfülle in all ihren Geschichten entscheiden; Tathergänge werden sie nicht interessieren. Das wurde bereits in ihrem ersten Roman Die Fahrt hinaus deutlich, den sie 1913 nach jahrelanger Arbeit und mehrfachem Umschreiben endlich abschließen konnte. Wohl veranlasst durch die Leere und Erschöpfung nach getaner Arbeit, erlitt Virginia einen weiteren Nervenzusammenbruch, der sie erneut an den Rand der Selbsttötung brachte. Die Zufälligkeit ihrer Wahnvorstellungen und die mit übersteigerter Sensibilität erlebten Visionen während der manischen Schübe werden mit zu ihrer Hellsichtigkeit und Assoziationsfähigkeit beigetragen haben, die bereits ihre erste Erzählung von 1917 prägte: Das Mal an der Wand. Sie hatte ein Mal an der Wand gesehen und bemerkte, wie rasch unsere Gedanken um einen neuen Gegenstand schwärmen und was für ein Zufallsding dieses Leben mitsamt unserer Zivilisation ist. Sie möchte tiefer und tiefer sinken, fort von der Oberfläche mit ihren harten unverbundenen Fakten. Was stört in den Räumen von Licht und Dunkel schon der Staub auf dem Kaminsims? Und was für eine luftlose, seichte, kahle, vordergründige Welt wäre nur jene Hülle einer Person, die von anderen Menschen gesehen wird? Derartig wertlose Generalisierungen lassen ihr bloß das Militärische im Wort anklingen. Dann wird sie wie schon Jane Austen hinsichtlich der Vorlieben Sir Walter Elliots grundsätzlich: Was nimmt heute die Stelle dieser wirklich wichtigen Dinge ein? Männer vielleicht, sollte man eine Frau sein; der männliche Standpunkt, der unser Leben beherrscht, der die Maßstäbe setzt, der Whitakers Rangordnungsliste aufgestellt hat. Ja, was wäre Sir Walter ohne seinen Adelskalender gewesen? Nein, nein, nichts ist bewiesen, nichts ist gewusst ... Alles bewegt sich, fällt, gleitet, schwindet ... Da ist ein grenzenloser Aufruhr der Materie.- Und das Mal an der Wand? Eine Schnecke. Die kleinen Dinge des Alltags sind es, aus der eine selbstgewahrsame Schriftstellerin ihre Erzählungen komponiert. Und wie beiläufig sie darin den Militarismus und das Patriarchat in ihren alltäglichen Auswirkungen karikiert, indem sie z.B. den Sauberkeitswahn im Kontext erhaben ästhetischer Betrachtungen erwähnt. Eine wahrlich meisterhafte Kurzgeschichte, in der sie auch schon die für sie grundlegende Differenz thematisiert zwischen der bloß äußerlichen Betrachtung einer Person bzw. unverbundener Fakten und der inneren, vertieften Zusammenhänge, die sich einem nur unterhalb der Oberfläche erschließen.

In ihren Erzählungen eines gewöhnlichen Lesers greift Woolf 1925 die Differenz zwischen den Romanformen wieder auf in dem berühmt gewordenen Essay: Moderne Romankunst. Bevor ich darauf eingehe, möchte ich aber noch Virginias Verständnis vom modernen Essay andeuten; handelt es sich bei ihren Essays doch eigentlich um ,,Erzähl-Essays``: Ein Roman hat eine Geschichte, ein Gedicht den Reim, aber welches Kunstmittel kann der Essayist in diesen kurzen Prosastücken anwenden, um uns hellwach zu rütteln und dann in einen Zustand der Entrückung zu versetzen, der kein Schlaf ist, sondern eher eine Intensivierung des Lebens - ein Sich-Aalen, bei voller Wachheit aller Sinne, in der Sonne des Vergnügens. Trotz aller Gelehrtheit sollte ein Essayist also schreiben können: Denn nur wenn man weiß, wie man schreibt, kann man in der Literatur von seinem Selbst Gebrauch machen; von jenem Selbst, das, so wesentlich es für die Literatur sein mag, auch ihr gefährlichster Gegner ist: Nie man selbst zu sein und zugleich immer - das ist das Problem. Eine Lösung des Problems gelingt, wenn die Kunst des Schreibens als Rückgrat eine leidenschaftliche Hingabe an eine Idee hat. Und welcher Idee gibt sich Virginia leidenschaftlich in ihrem Essay zur modernen Romankunst hin? Der Einsicht, dass in den herkömmlichen Romanen das ,,Wesentliche`` verloren gegangen sei und wieder erlangt werden müsse. Zeitgenössische Schriftsteller, wie Wells, Bennett und Glasworthy, würden sich als ,,Materialisten`` hauptsächlich mit Äußerlichkeiten und belanglosen Fakten abgeben. Für die ,,Modernen`` dagegen liege das eigentlich Interessante, sehr wahrscheinlich in den dunklen Bereichen der Psychologie. Die Materialisten schreiben für Virginia von unwichtigen Dingen und verwenden immense Fertigkeiten und immensen Fleiß darauf, das Belanglose und Vergängliche als wahr und dauerhaft erscheinen zu lassen. Dagegen begehrt sie leidenschaftlich auf: Gleich, ob wir es Leben oder Geist, Wahrheit oder Wirklichkeit nennen, dies, das Wesentliche, hat sich auf- und davongemancht und weigert sich, länger in solch schlecht sitzende Gewänder, wie wir sie bieten, eingezwängt zu werden. Und im Gegensatz zu den Romanen der Materialisten fragt sie sich: Ist so das Leben? Müssen Romane so sein? Angesichts der Fülle der uns stets gegenwärtigen Bewusstseinsinhalte, fordert sie uns auf: Prüfe nur einen Augenblick ein gewöhnliches Bewusstsein an einem gewöhnlichen Tage. Für Virginia Woolf endet diese Prüfung mit einem Appell an die moderne Romankunst: Wir wollen die Atome aufzeichnen, und zwar in der Abfolge, wie sie ins Bewusstsein fallen, wir wollen das Muster nachzeichnen, so unverbunden und zusammenhanglos es auch erscheinen mag, das jeder Augenblick und jedes Ereignis dem Bewusstsein aufprägt. Mit ihren drei Meisterwerken: Mrs Dalloway, Zum Leuchtturm und Die Wellen ist ihr das vortrefflich gelungen.

So wie Woolfs Essays Erzähl-Essays sind, lassen sich ihre Erzählungen auch als Essay-Erzählungen lesen. Ein schönes Beispiel dafür ist die Kurzgeschichte: Augenblicke des Seins, die erstmals 1928 erschien. In ihr verwebt Virginia, ausgehend von einer alltäglichen Bemerkung, Ontologie und Epistemik, Ästhetik und Ethik, ganz so wie sie es mit ihrem Phänomenologischen Atomismus als moderner Romankunst umschrieben hatte. Julia hatte ihrer Lieblingsschülerin Fanny gerade eine Bach-Fuge vorgespielt. Mit der alltäglichen Bemerkung: Slater-Nadeln haben keine Spitzen wollte sie den Bann brechen, in den sie das Spiel versetzt hatte und der aus ihrem Blick sprach: Es ist auf den Feldern, es ist auf den Scheiben, es ist am Himmel - das Schöne; und ich kann es nicht erreichen, ich kann es nicht haben. Einen solchen langen, sehnsüchtigen Blick konnte auch ihr Bruder Julius haben: ``Serne, Sonne, Mond'', schien er zu sagen, ``Gänseblümchen im Gras, Feuerflammen, Rauhreif an der Scheibe, mein Herz schlägt euch entgegen. Aber'', schien dieser Blick immer hinzuzufügen, ``ihr zerbrecht, ihr vergeht, ihr geht fort.'' Und gleichzeitig deckte er die Intensität dieser beiden Gemütszustände zu mit einem ``ich kann euch nicht erreichen, kann nicht an euch heran'', das wehmütig, enttäuscht gesprochen wurde. Und die Sterne verblassten, ... Diese gläserne Oberfläche wollte Julia nunmehr zerbrechen. ... Einen Augenblick lang sah in Fanny's Augen alles transparent aus, als blickte sie durch Julia hindurch, sah sie die wahre Quelle ihres Seins in reinen, silbernen Tropfen hervorsprudeln. Sie sah immer weiter in die Vergangenheit hinter ihr zurück. ... Sie sah, wie Julia die Arme öffnete; sah sie glühen; sah sie in Flammen stehen. Aus der Nacht brannte sie hervor wie ein erloschener weißer Stern. Julia küsste sie.- Die Erzählung muss man natürlich ganz lesen, sie ist ein Kunstwerk. Aber ihre Schönheit sollte wenigstens erahnbar werden. Wie viel Sinnlichkeit und Sprachgefühl vermitteln diese Zeilen! Hatte sie die Transparenz, mit der Fanny Julia zu durchschauen vermochte, nicht schon als Kind beim Einschlafen hinter dem halbdurchlässigen Rouleau gespürt? Und was vermochte Virginia aus der nüchternen Philosophie ihrer Bloomsberries zu machen.

Russell hatte mit seinem Logischen Atomismus an Logik, Positivismus und Phänomenologie angeknüpft. Die flirrende, wirbelnde, wabernde Fülle von Sinneseindrücken, wie Geräuschen, Lauten, Schattierungen und Farbnuancen, setzte er mit den ,,Elementen`` der Sprache in Beziehung, so dass er aus der zufälligen Vielfalt der ,,Sinnes-Atome`` eine kausal und logisch geordnete Einheit herstellen konnte. Wie er mit seiner Principia Mathematica auszuführen gedacht hatte, sollte sich damit die ganze Mathematik auf ein logisches Fundament stellen lassen. Und nach dem Vorbild Newtons hatte Moore in seiner Principia Ethica die vermeintliche Erfahrung des ,,Guten`` durch das Sprechen darüber ersetzen wollen. Keynes, der in Cambridge auch bei Moore studiert hatte, erinnert sich 1938 an die vielen Diskussionen im Kreis der Bloomsberries: ,,Was genau ist damit gemeint``, war der Satz, der uns am häufigsten über die Lippen kam. Denn Moores Methode bestand darin, Vorstellungen, die ihrem Wesen nach unklar waren, dadurch zu klären, dass man eine präzise Sprache auf sie anwandte und exakte Fragen stellte. Russells Logik und Moores Ethik gingen beide davon aus, dass vor allem den Bewusstseinszuständen Bedeutung zukam. Und was Russell daraus nach dem Prinzip logischer Konsistenz an mathematischen Strukturen und Objekten in Zusammenhang brachte, sollte bei Moore das Prinzip organischer Einheit erreichen. Wie Maynard sich erinnert, war natürlich der Bewusstseinszustand der Verliebtheit häufigster Anwendungsfall des Prinzips. Das führte dann neben der Lustbewertung auch auf die Frage: War eine leidenschaftliche Liebesaffäre, die nur kurze Zeit dauerte, besser als eine lauwarme Beziehung, die länger anhielt? Außer des Liebeslebens waren noch die Erschaffung und Genuss ästhetischer Erfahrung und das Streben nach Wissen angemessene Gegenstände leidenschaftlicher Kontemplation und Anteilnahme. In Bloomsbury wehte eine bei weitem reinere, klarere Luft als in der Welt von Psychoanalyse plus Marxismus. Wie später auch die 68er, lehnten die Bloomsberries die gewohnte Moral, die Konventionen und die traditionelle Weisheit ab. Und sie überschätzten gleichermaßen den sprachlichen Rationalismus und unterschätzten die Macht der Gefühle. Das rief schon 1914 die Kritik des Romanciers D.H. Lawrence hervor: Dieser fade Rationalismus, der über die dünne Kruste der Zivilisation dahinhüpfte und Wirklichkeit und Wert der vulgären Leidenschaften ignorierte; verbunden mit Libertinage und umfassender Ehrfurchtslosigkeit. Wie prekär die dünne Kruste der Zivilisation ist, hatte sich schon im Ersten- und sollte sich ebenso im Zweiten Weltkrieg zeigen. Und auch heute wieder stellt sich angesichts der schrecklichen Renaissance der Religionen die Frage, ob der Zivilisation gegenüber nicht doch ein wenig Ehrfurcht und Unterstützung angebracht wären.

Bloomsbury steht seit über 100 Jahren für die ästhetisch-erkenntniskritische Lebensart im aufgeklärten Humanismus. Statt Machtpolitik, Geldgier und Religionswahn stehen Intellektuelle Redlichkeit, kreatives Kunstschaffen und erotische Freundschaft im Vordergrund. Neben Literatur und Malerei bestimmen Philosophie, Ökonomie und Mathematik das Schaffen der Bloomsberries. Der 1883 in Cambridge geborene John Maynard Keynes hatte 1905 am Kings College sein Studium der Mathematik abgeschlossen und 1907 mit einer Arbeit über Wahrscheinlichkeitstheorie promoviert. Im gleichen Jahr schloss sich der Freidenker dem Bloomsbury-Kreis an und 1908 nahm er seine Arbeit als Dozent für Ökonomie auf. Auch privat war Maynard erfolgreich, spannte er doch seinem Freund Lytton Strachey den Liebhaber Duncan Grant aus. Die noch im Entstehen begriffene Volkswirtschaftslehre gründete Keynes im Wesentlichen auf die Prinzipien Mills und Marshalls sowie auf Adam Smith und seine Wohlfahrt der Nationen, die er aber erst 1910 las. Wie Blomert hervorhebt, versuchte Keynes das ökonomische Handeln der Menschen von ihren Motiven aus zu verstehen: Ökonomische Arbeiten sind weder mathematische Abhandlungen noch juristische Texte, sie müssen an die Motivation des Lesers appellieren. Als Herausgeber des Economic Journal und aufgrund seiner Mitgliedschaft im Political Economy Club bekam er Kontakt zur Finanzwelt und dem politischen Geschäft. Sein erstes Buch widmete er der Wirtschaftspolitik in den Kolonien und publizierte 1913: Über Indische Währung und Finanzen. Als sich im Zuge des deutschen Flottenbauprogramms die Konkurrenz zwischen Deutschland und England gefährlich zuspitzte und durch den Mord in Sarajewo zum Weltkrieg führte, wurde Keynes unter Finanzminister Lloyd George 1915 ins Schatzamt berufen, wo er die Finanzierung des Krieges bewerkstelligen sollte. Keynes nüchterner Pragmatismus und seine intellektuelle Redlichkeit ließen ihn nach dem Waffenstillstand zu einem scharfen Kritiker des Versailler Vertrages werden. Er hatte selbst an den Friedensverhandlungen teilgenommen und 1919 erschien sein kenntnisreiches Buch darüber wie drängende Geldgier, archaische Rachegelüste und plumper Machterhalt den Politikern wichtiger waren als eine nüchterne ökonomische Analyse: Die wirtschaftlichen Folgen des Vertrages von Versaille machten Keynes weltberühmt, änderten aber nichts an den unerfüllbaren Forderungen der Sieger an die Verlierer. Die lange Nachkriegsdepression und die große Wirtschaftskrise nach dem Börsensturz von 1929 gaben Keynes natürlich recht. Mit Sorge verfolgte er den Weg Italiens und Deutschlands in den Faschismus und dachte wieder darüber nach, wie der Krise rational begegnet werden konnte. Sein Hauptwerk erschien 1936: Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes. Schon Anfang der 1920er Jahre hatte Keynes in unorthodoxer Weise vorgeschlagen, Geld- und Preispolitik an der Lohnhöhe zu orientieren, blieb aber ein einsamer Rufer in der Wüste. Angesichts der steigenden Arbeitslosenzahlen, ging es ihm nunmehr darum, die Gesamtwirkung der Investitionspolitik auf Konsum, Einkommen und Beschäftigung darzulegen, um der Vermehrung von Arbeitslosen in Verbindung mit der Radikalisierung der politischen Verhältnisse entgegenwirken zu können. Für Deutschland und Italien war es leider schon zu spät, die darbenden Volksmassen und kriegslüsternen Kapitalisten hatten ihre Führer bereits zu diktatorischer Macht verholfen. Aber immerhin der in Westdeutschland nach der Befreiung vom Faschismus einsetzende Wirtschaftsaufschwung basierte auf den Einsichten Keynes, denen bis zum Ende der 1970er Jahre weiter erfolgreich nachgegangen wurde.

Der neben Virginia Woolf wohl berühmteste Bloomsberry hatte neben all seinen beruflichen Verpflichtungen und erotischen Abenteurn auch noch die Zeit zum Kennen- und Liebenlernen der 1891 geborenen russischen Ballerina Lydia Lopokowa gefunden. 1925 heirateten sie in St. Pancras und die Zeitungen titelten: Berühmter Ökonom heiratet Ballerina. Virginia sorgte sich unterdessen um die Zukunft des Lebemanns im total und auf ewig geregelten Leben. Und Vanesse karikierte später den Ehetanz Johns mit Lydia in Anspielung auf den Can-Can in einem Gemälde als Keynes-Keynes. Maynards privates Ende des Laissez-Faire ging einher mit seinem wirtschaftspolitischen Denken: Am Beispiel der Bank von England wies Keynes nach, dass die These vom größten Nutzen durch den größten Egoismus unhaltbar war, was man bei Blomert nachlesen kann. Und Virginia? Der Erste Weltkrieg hatte auch sie verstört aus ihren Träumereien gerissen. Nach ihrer Fahrt hinaus in die vermeintliche Selbstbefreiung hatte sie zunächst einen eher konventionellen Roman geschrieben und 1919 ihrer Schwester Vanessa gewidmet: Night and Day. Ungewöhnlich an diesem Werk ist der Inhalt; denn die zwischen bestirntem Nachthimmel und irdischer Tageshelle tätige Heldin Katharine Hilbery träumt davon, Astronomin zu werden. Auf wen, wenn nicht auf den berühmten Mathematiker David Hilbert, dürfte ihr Name verweisen? Dabei ist der im Nachtleben gepflegte männliche Rationalismus so gar nicht weiblich!? Sollten sich etwa auch Frauen intellektuell beglücken und nicht nur amourös erfreuen können? Gleichwohl bezieht sich dieser ansonsten traditionell geschriebene Liebesroman mit seinen Landhausszenen explizit auf Jane Austen, wie Goldman anmerkt. Als Arbeitstitel hatte Virginia Dreams and Realities gewählt, noch ganz unter dem Eindruck ihrer Genesung von der letzten Krise liegend; denn den Großteil des Romans hatte sie im Bett geschrieben. Schreiben war für Woolf immer auch Therapie und so folgte einem ,,Krisenroman`` stets ein ,,Genesungswerk``.

Das Buch zur nachwirkenden Katastrophe des großen Krieges war Jacob's Room. In dem 1922 veröffentlichten Roman geht es um den visionären Raum, der im Erleben und in der Erinnerung noch vom Leben eines Menschen kündet. Der Nachname Flanders verweist darauf, dass Jacob unter Anklang des Poems In Flanders Field auf den Feldern Flanderns ums Leben gekommen war und ein nunmehr unbewohntes Zimmer hinterließ. Im Bewusstsein seiner Angehörigen wirkt die belebte Atmosphäre seines Raumes aber noch lange nach. Die aus der Innenperspektive eines fiktiven Menschen erzählte Geschichte zerlegt das Leben in unzähltige Facetten und Szenen, die kunstvoll miteinander verwoben und überlagert werden. Virginias Imagination komponierte daraus einen avantgardistischen Bildungroman, den sie als ihren Durchbruch in die moderne Romankunst ansah. Die Subjektivität und das Geschlecht des Verlassenen, Abwesenden, Schweigenden vermochte Virginia in wiederkehrenden Stimmen und elegischem Ton wohlformuliert in Sprache zu kleiden. Man muss sich vorstellen, dass Mark on the Wall, Kew Gardens & An Unwritten Novel sich an den Händen fassen & vereint zusammen tanzen, hatte sie in Anknüpfung an drei ihrer großartigen Kurzgeschichten geschrieben. Es ist das Leben, das man in den Augen der Menschen sieht, heißt es in Ein ungeschriebener Roman. Nicht das, was in der Zeitung steht oder wie es sich für Geschichten gehört, Vielfalt, Abgerundetheit, Schicksal und Tragik sind anzustreben, sondern der Schleier des Selbst ist zu erhaschen, mit dem es die Welt verlassen hat. Und in Kew Gardens geht es um die Gedanken und Gespräche von Männern und Frauen, die durch einen blumenreichen und baumbestandenen Garten spazieren. Dabei drückten sie auf sonderbare Weise ihre Gefühle aus, so wie diese kurzen bedeutungslosen Wörter auch irgendetwas ausdrückten, Wörter mit kurzen Flügeln, gemessen an ihrem schweren Bedeutungskörper, unzureichend um sie weit zu tragen, und so landeten sie täppisch auf den ganz gewöhnlichen Dingen. Das sollte bei Virginia anders werden. Mit ihrer sprachsensiblen Romankunst wollte sie auch des Lesers Selbst am Schleier in die Welt zurückholen.

In ihrem letzten Roman Between the Acts von 1941 geht es um das Innehalten im alltäglichen Tun, um die Auslassungen, Unterbrechungen, Verzögerungen. Die Gedankenfülle, das Sinnesspektrum und den Gefühlsreichtum in der Kontemplation und dem stillen Betrachten vermag Woolf immer wieder sprachlich Ausdruck zu verleihen. Das geradezu lyrisch geschriebene Roman-Drama ist ein Künstlerroman, der mit einem Tag wiederum ein ganzes Leben einfängt und im mythisch-prähistorischen Subtext politische, psychoanalytische und feministische Lesarten zulässt, wie Goldman hervorhebt. Bevor ich näher auf einige der zehn Romane Virginia Woolfs eingehe, vorab eine tabellarische Übersicht:

  1. The Voyage Out, London (Duckworth) 1915
  2. Night and Day, London (Duckworth) 1919
  3. Jacob's Room, London (Hogarth) 1922
  4. Mrs Dalloway, London (Hogarth) 1925
  5. To the Lighthouse, London (Hogarth) 1927
  6. Orlando: A Biography, London (Hogarth) 1928
  7. The Waves, London (Hogarth) 1931
  8. Flush: A Biography, London (Hogarth) 1933
  9. The Years, London (Hogarth) 1937
  10. Between the Acts, London (Hogarth) 1941

Neben der ästhetisch-literaturkritischen Reflexion in ihrem Essay: Moderne Romankunst hat sich Virginia Woolf auch zu dem zweiten großen Thema ihres Kunstschaffens, dem Feminismus, grundsätzlich geäußert. Ihr Essay: Ein Zimmer für sich allein über Frauen in der Literatur, wird meine Auszüge und Bemerkungen zur Literatur Woolfs einleiten.


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ingo 2009-06-14