Prüfe nur einen Augenblick ein gewöhnliches Bewusstsein an einem gewöhnlichen Tage, hatte
Woolf bereits 1919 für die moderne Romankunst gefordert. Im Anschluss an ihre Kurzgeschichte
Mrs Dalloway in Bond Street begann sie 1923 unter dem Arbeitstitel The Hours mit der
Arbeit. Nachdem das Ehepaar Dalloway die Fahrt hinaus auf halber Strecke verlassen
hatte, treffen wir es in London wieder. Im Zentrum steht diesmal aber Clarissa Dalloway
allein, so dass alle erlebten und erinnerten Ereignisse, Verabredungen, Unternehmungen, Besorgungen -
und Clarissas Party ihrem Bewusstsein entspringen. Ein Tag im Leben einer Frau kann im Kern das
ganze Leben eines Menschen enthalten. Das zu zeigen, hatte Virginia bewogen, den Roman zu schreiben,
der insofern als Experimentier-Roman über die Zeit verstanden werden kann. Wie man sein Leben
lebt, zeigt sich in jedem seiner Tage und am Ende in der Erinnerung, niedergeschrieben auf den Seiten
zwischen zwei Buchdeckeln, reaktivieren die Stunden beim Lesen wieder die Lebenszeit. Unser Bewusstsein
ist es, das die in der räumlich gespeicherten Erinnerung gleichsam verloren gegangene Zeit wieder aus
dem Gedächtnis oder dem Buch erzeugt. Wir machen also die Zeit; denn Buch und Gedächtnis sind nur
räumlich. Quantenkosmologisch verhält es sich ganz ähnlich im Universum: seine Gesamtausdehnung
setzt die Myriaden von Teilräumen in eine Zeitfolge, so wie unser Bewusstsein beim Lesen die Seiten
in eine Zeitfolge bringt. Wir wollen die Atome aufzeichnen, wie sie ins Bewusstsein fallen, war
Woolf fortgefahren. Sehen wir zu, was es damit auf sich hat.
Mrs Dalloway sagte, sie wolle die Blumen selber kaufen. Denn Lucy hatte genug zu bestellen. Die Türen würden aus den Angeln gehängt werden; Rumpelmayers Leute kämen. Und dann, dachte Clarissa Dalloway, was für ein Morgen - frisch, wie geschaffen für Kinder am Strand.
Was für ein Vergnügen! Was für ein Sprung! Denn so war es ihr immer vorgekommen, wenn sie, mit einem leichten Quietschen der Angeln, das sie jetzt hören konnte, die Fenstertür zum Garten aufgerissen hatte und in Bourton ins Freie gesprungen war. Wie frisch, wie ruhig, stiller natürlich als jetzt, die Luft am frühen Morgen war.
Die alte Clarisse tritt am Morgen aus dem Haus, um Blumen zu kaufen, und erfreut sich an der Frische, die wie für Kinder am Strand geschaffen scheint - und unversehens freut sich die junge Clarissa darüber wie sie in ihrem Geburtshaus ins Freie springt. Dieser Wechsel zwischen den gerade erlebten und aus dem Gedächtnis erinnerten Bewusstseinsinhalten, der von den verschiedensten Sinneseindrücken ausgelöst werden kann, bestimmt alle Akteure über das ganze Buch hindurch. Und kaum anders ist es im wirklichen Leben, wenn es eher kontemplativ als kommunikativ gelebt wird. Aber auch in Gesprächen bleibt vieles ungesagt oder es wird nicht das gesagt, was gedacht oder gemeint war. Hinzu kommen Missverständnisse, Unverstand und Vorurteile, da jeder Mensch in seiner Welt lebt und das Verständnis nur so weit reicht wie die eigene Lebenswelt.
Nachdem Clarissa - viele Eindrücke aufnehmend, Gedanken verfolgend und Erinnerungen nachhängend - weiter gegangen ist, trifft sie auf ihren alten Freund Hugh, was nach ihrem Wortwechsel wiederum Jugenderinnerungen wachruft an einen anderen Freund: Peter Walsh, der Hugh für einen ausgemachten Schwachkopf hielt. Peter war so anders als sie: Wie wunderbar der Tag auch sein mochte, und die Bäume und das Gras und das kleine Mädchen in Rosa - Peter sah nichts von all dem. Er würde seine Brille aufsetzen, wenn sie ihn dazu aufforderte; er würde hinsehen. Es war der Zustand der Welt, der ihn interessierte; Wagner, Popes Lyrik, immer und immer die Charaktere der Leute und die Mängel ihrer eigenen Seele. Wie er sie auszankte! Wie sie stritten! Sie werde einen Premierminister heiraten und ganz oben auf der Treppe stehen; die vollkommene Gastgeberin nannte er sie (sie hatte in ihrem Schlafzimmer Tränen darüber vergossen), sie habe das Zeug zur vollkommenen Gastgeberin, sagte er. Damit sind zwei Lebenswelten umrissen, die schwer vereinbar sind, auch wenn sich die beiden mögen sollten: Der Weltverbesserer und die Gastgeberin. Man wird erwarten dürfen, dass Peter mit Problemen ringt, die er sich selbst eingebrockt hat und Clarissa eine Party geben wird, für die sie Blumen kaufen will.
Da sie seit über zwanzig Jahren in Westminster lebte, gab der Big Ben den Takt vor und sie hatte stets eine Vorahnung, bevor er losschlug: Da! Voll dröhnte er. Erst eine Warnung, melodisch; dann die Stunde, unwiderruftlich. Die bleiernen Kreise lösten sich in der Luft. Was für Narren wir sind, dachte sie. Es hatte die erste Stunde geschlagen - und Clarissas Gedanken schweiften ab, als ob es schon die letzte gewesen war: Spielte es denn eine Rolle, dass sie unvermeidlich ganz und gar aufhören würde zu sein; all das musste ohne sie weitergehen; dass der Tod allem das absolute Ende setzte? Wenig später blickte sie unverhofft in ein Schaufenster: Was versuchte sie wiederzufinden? Welches Bild von weißer Morgendämmerung auf dem Lande, als sie in dem aufgeschlagenen Buch las: Fürchte nicht mehr Sonnenglut, / Noch des Winters grimmen Hohn. Dieses jüngste Zeitalter des Weltgeschehens hatte in ihnen allen, allen Männern und Frauen, einen Brunnen von Tränen erzeugt. Die alte Clarissa hatte nichts mehr zu befürchten, das Leben lag hinter ihr. Die junge Norah Jones sang kürzlich: The sun doesn't like you, you always get burned. Ob sie sich damit auch auf Shakespeare bezog? Virginia setzt das Zitat in ihrem Roman leitmotivisch nicht nur als Trost des Altwerdens ein, sondern auch zur Erinnerung daran, dass der Große Krieg vorbei war und wieder Frieden herrschte in Europa.
Da saßen sie, Stunde um Stunde, und sprachen in ihrem Schlafzimmer unter dem Dach, sprachen über das Leben, wie sie die Welt verändern würden. Sie nahmen sich vor, einen Verein zur Abschaffung des Privateigentums zu gründen. Die Ideen kamen von Sally, die wilde, die wagemutige, die romantische Sally!, dachte Clarissa, aber bald war sie ebenso begeistert - las im Bett vor dem Frühstück Plato; las Morris; las stundenlang Shelley. Von der Ehe sprachen sie immer als von einer Katastrophe, die zu dieser Ritterlichkeit, zu diesem beschützenden Gefühl führte, das viel mehr auf ihrer als auf Sallys Seite war. Hatte sie deshalb Peter nicht geheiratet? War er zu ungestüm und unbeständig? Ihm ging es um Empfindsamkeit: Ein Buch war empfindsam; eine Einstellung zum Leben war empfindsam. Warum hatte er sich nur so unsterblich in sie verliebt? Aber dieses Verlieben: Sally Seton etwa; ihre Beziehung zu Sally Seton damals. War das nicht, trotz allem, Liebe gewesen? Eines Tages hatten sie sich an einem warmen Sommerabend auf die Terrasse begeben, gingen langsam hin und her und - dann kam der köstlichste Augenblick in ihrem ganzen Leben, als sie an einer steinernen Urne voller Blumen vorbeikamen. Sally blieb stehen; pflückte eine Blume; küsste sie auf die Lippen. Die ganze Welt hätte kopfstehen können! Die andern entfernten sich; sie war allein mit Sally. Und sie fühlte, dass sie ein Geschenk empfangen hatte - einen Diamanten, etwas unendlich Kostbares. Aber dann, was geschah dann? Der liebliche Zauber der einmaligen Situation wurde brutal zerstört - als der alte Joseph und Peter ihnen gegenüberstanden: ,,Sternegucken``, sagte Peter. Es war, wie wenn man mit seinem Gesicht im Dunkeln gegen eine Granitmauer gerannt wäre! Es war verstörend; es war furchtbar! Nicht für sie. Sie fühlte nur, wie Sally schon vernichtet, misshandelt wurde; sie fühlte seine Feindseligkeit; seine Eifersucht; seine Entschlossenheit, in ihre Gemeinsamkeit einzudringen. Das alles sah sie, wie man eine Landschaft im Schein eines Blitzes sieht. Wie verletzend, wie grausam, wie einfühlungslos auch empfindsame Menschen sein können!
Auf dem Weg zum Blumenladen traf Clarissa nicht nur ihren alten Freund Hugh. Auch der traumatisierte Kriegsveteran Septimus Warren-Smith kreutze mit seiner Frau Lukrezia ihren Gang. Als der heftige Knall einer Fehlzündung alle Passanten in der Nähe eines großen Automobils aufschrecken und verharren ließ, ergriffen unversehens die Schrecken an der Front von Septimus Besitz und er hatte den Eindruck, als ob sein Kamerad Evans vor ihm in einer heftigen Detonation verschwand. Entsetzt wandte er sich ab. Sah Evans aber überall wieder auf sich zukommen. Ich werde mich umbringen, hatte er gesagt, aber seine Frau trieb ihn weiter. Sonst hatte es niemand gehört, denn alle wollten wissen, was passiert war und wer in dem luxuriösen Wagen gesessen hatte. Als der Oberflächenaufruhr des vorbeifahrenden Wagens sich legte, rührte er an etwas sehr Tiefes. Der allgemeine Schrecken und die Sensationslust waren kaum verklungen, als auch schon das nächste Ereignis die Massen zu fesslen vermochte. Ein Flugzeug schrieb in großen weißen Buchstaben eine Werbebotschaft an den strahlend blauen Himmel. Während die Leute gebannt nach oben blickten, verfiel die ganze Welt in Schweigen, und ein Möwenschwarm kreuzte den Himmel, erst eine Leitmöwe, dann eine andere, und in diesem außerordentlichen Schweigen und diesen Frieden, in dieser Durchsichtigkeit, in dieser Reinheit, schlugen elfmal Glocken, deren Klang dort oben zwischen den Möwen dahinschwand. Was bedeutete das alles? Septimus hatte den Eindruck, man signalisierte ihm und - Tränen füllten seine Augen. Wie ein Schlittschuhläufer glitt der Aeroplan über das helle Firmament. Die Töne schufen mit Vorbedacht Harmonien, die Räume zwischen ihnen so bedeutsam wie sie selbst. Ein Kind schrie. Im rechten Augenblick ertönte weit weg eine Hupe. Alles zusammen bedeutete die Geburt einer neuen Religion. Und Septimus? Der hörte die Vögel auf Griechisch zwitschern. Die Veranschaulichung des Gegensatzes von Natur und Technik, Möwenschwarm und Aeroplan, Kinderschrei und Autohupe, hatte Cameron in Titanic aufgegriffen, indem er das Riesenschiff an verspielt aus den Wellen springende Delphine vorbeirauschen ließ: die Menschen hatten ihr natürliches Maß verloren. Technikgläubigkeit war ihre neue Religion und ,,Du sollst machen, was du kannst`` ihr erstes Gebot, die Mobilität ihr Ritual und Machbarkeit ihr Gott. Und alles folgte dem zeitschlagenden Glockenklang;- nur nicht die Möwen. Die Vögel hatten ihren eigenen Takt und Flügelschlag, auch wenn Menschen im Wahn ihre Stimmen auf Griechisch hörten. Auf Septimus hatte Virginia ihr eigenes Leiden an ihrer Psychose übertragen; denn so ähnlich hatte sie es immer wieder selbst erlebt. Dabei brach sich das Griechische sicher nicht zufällig in ihren Visionen und Halluzinationen Bahn; bildete es doch nicht nur die Grundlage der europïschen Kultur, sondern auch die Basis für Virginias Bildung. Die erste Aufklärung der griechischen Naturphilosophen über die Mythen, die Erfindung der Mathematik als Wissenschaft und die aus Sprache und Logik entwickelte rationale Philosophie bildeten neben der zweiten Aufklärung im 18. Jahrhundert die Basis auch noch des Philosophierens der Bloomsberries mit Bezug auf den logischen Atomismus Russells und die ethische Sprachphilosophie Moores. Im Umfeld des religionskonformen Viktorianismus mussten die rationalen Aufklärungen natürlich als Wahn gelten, sowohl sozial wie individuell.
Peter hatte sich unterdessen im Park auf einer Bank niedergelassen und war eingeschlafen. Die Krankenschwester neben ihm erschien in ihrer grauen, schlichten Tracht wie eines dieser geisterhaften Wesen, die im Zwielicht in Wäldern aus Himmel und Zweigen aufsteigen. Wovon mag Peter geträumt haben als er erwachte und wie zu sich selbst sagte: Der Tod der Seele? Meinte er das Verschwinden der Empfindlichkeit und das Hervortreten von Stumpfsinn? Da fiel ihm der schreckliche Abend wieder ein, an dem er zum ersten Mal Clarissa und Mr Dalloway gesehen hatte: ,,Sie wird diesen Mann heiraten``, sagte er zu sich selbst. Und wie nannte sie ihren neuen Verehrer? ``Wickham''. Allen hatte sie ihn als Wickham vorgestellt. Aber der sagte bestimmt: ,,Mein Name ist Dalloway!``. Für Sally wurde dieser richtigstellende Ausspruch zum geflügelten Wort, wann immer sie heiter-ironisch von ihm sprach. Aber warum hatte Clarissa ihn Wickham genannt? Wollte sie sich unbewusst verführen lassen wie Lydia bei Austen in Pride and Prejudice? Wie Pemberley hatte sich der Regent's Park kaum verändert. Peter stand auf, um sich wieder ins Hotel zu begeben - bis zum Abend, den er wohl auf Clarissas Party verbringen würde. Aber was sah Septimus in ihm als sich ihre Wege kreuzten? Evans? An der Seite Lukrezia's dachte er an das Ende ihrer Ehe und ließ ihre Hand fallen; - in Todesangst, in Erleichterung. Das Tau war gekappt; er stieg auf; er war frei. Und wohin sollte es ihn treiben? Die Wahrheit zu hören, den Sinn zu erfahren, der nun endlich, nach all den Mühen der Kultur - Griechen, Römer, Shakespeare, Darwin und jetzt ihm selbst - vollständig mitgeteilt werden sollte. Diese schockartig hereinbrechende Sensibilität und Klarsichtigkeit überfiel auch Virginia gelegentlich. Für Septimus war es wie die Hitzewelle, die auf ein Hirn einwirkte, das durch Äonen der Evolution empfindlich geworden war. Wissenschaftlich gesprochen, war das Fleisch aus der Welt weggeschmolzen. Sein Körper war ausgelaugt, bis nur noch die Nervenfasern übrig waren. Er war ausgebreitet wie ein Schleier auf dem Felsen. Von weit unten vernahm er das Tuten einer Autohupe in der Straßenschlucht; aber hier oben donnerte sie von Fels zu Fels, geteilt, zu Klangwellen vereint, die aufstiegen in glatten Säulen (dass Musik sichtbar sein könne, war eine Entdeckung), und wurde zu einer Hymne, einer Hymne, jetzt umschlungen vom Flöten eines Hirtenknaben. Vom Park herauf schienen die Bäume ihm zu winken: Wir heißen willkommen, schien die Welt zu sagen; wir empfangen, wir erschaffen. Schönheit schien die Welt zu sagen.
Während des Viertelstundenschlags ging Peter weiter: So ist es, wenn man jung ist, dachte er. Diese Empfindlichkeit für Eindrücke war, zweifellos, sein Verderben gewesen. Zum Glück brauchte er im Alter von 53 Jahren die Leute kaum noch. Aber Clarissa? Die hatte sich diese atheistische Religion zu eigen gemacht, dass man das Gute um des Guten willen tun müsse. Das ,,Gute`` war ihm zu abstrakt; auf die Leidenschaften kam es an. Aber Frauen, dachte er und klappte sein Taschenmesser zu, wissen nicht, was Leidenschaft ist. Sie wissen nicht, was sie für Männer bedeutet. Clarissa war kalt wie ein Eiszapfen. So ähnlich hatte Jane schon Sir Edward denken lassen. Und Virginia? Hatte sie sich das womöglich von ihren Verehrern sagen lassen müssen? Geriet sie mit ihrer Geliebten mehr in Wallung als mit ihrem Ehemann? Für Clarissa verwirklichte sich ihre weltliche Moral in der Rolle der Gastgeberin. Im Kreis einer heiter-unterhaltsamen Abendgesellschaft wurde auch die Sinnlosigkeit der Welt erträglich: Fürchte nicht mehr Sonnenglut. Und Septimus? Der wollte sich umbringen, da er von der Menschennatur zum Tode verurteilt worden war. Aber sind wir das nicht alle? Schon bei der Geburt? Niemand lebe für sich allein; er habe den Sinn für Proportionen verloren, musste er sich von seinem Arzt Sir William sagen lassen. Wahnsinn oder Disproportionalität? Für Lady Bruton war ein Mann so gut wie der andere und sie hegte sogar Achtung vor dem geheimnisvollen Einklang, mit dem sie, aber keine Frau, mit den Gesetzen des Universums lebten. Gab nicht auch das Universum die Zeitrichtung vor, nach der eine Stunde auf die andere folgen musste? Der Klang von Big Ben überflutete Clarissas Salon, wo sie äußert verstimmt an ihrem Schreibtisch saß; verärgert; verstimmt. Ihre Tochter Elizabeth hatte sich mit der frommen Doris Kilman zum Gebet in ihrem Zimmer eingeschlossen. Etwas Ekelhafteres konnte sie sich nicht vorstellen. Gebete zu dieser Stunde mit dieser Frau. Und der Klang der Glocke überflutete mit seiner melancholischen Woge den Raum. Es hatte drei Uhr geschlagen. Was sie mochte, war einfach das Leben. Die Kilman dagegen war ,,erleuchtet`` worden; seitdem bedauerte sie Mrs Dalloway. Liebe und Religion, dachte Clarissa nachdem Eliza mit ihrer Lehrerin gegangen war, wie abscheulich, wie abscheulich sie sind! Denn jetzt, wo Miss Kilman ihr nicht mehr leibhaftig gegenüberstand, überwältigte sie sie - die Idee. Die grausamsten Dinge der Welt, dachte sie, und sah sie plump, eifernd, herrisch, heuchlerisch, lauschend, eifersüchtig, unendlich grausam und skupellos, in einem Regenmantel gekleidet, auf dem Treppenabsatz; Liebe und Religion. Hatte sie selber je versucht, jemanden zu bekehren? Wünschte sie nicht, dass jedermann nichts weiter sei als er selbst? Werde, der du bist, war auch das Motto der Nihilisten. Aber was, wenn da nichts war, das zu werden versprach? Dann blieb der Mensch bloß Herdentier unter frommen Schafen oder Mitläufer der wechselnden Moden. War die junge, schöne Eliza nur ein Herdentier? Da hatte sich ihre Mutter umsonst gesorgt. Während die erleuchtete Miss Kilman das Fleisch geißelte und davon faselte, dass Erkenntnis nur dem Leiden entspringe,- verabschiedete sich Miss Dalloway: Die Schönheit war gegangen; die Jugend war gegangen. Liebe und Religion waren geblieben. Elizabeth war selig, frei zu sein. Und schenkte sie der armen Miss Kilman einen einzigen Gedanken, die sie ohne Eifersucht liebte, für die sie ein Rehkitz auf freiem Feld, ein Mond über einer Lichtung gewesen war?
Während Elizabeth Dalloway mit dem Omnibus nach Westminster fuhr, lag Septimus Warren-Smith
im Wohnzimmen auf dem Sofa und sah zu, wie das wässrige Gold von Licht und Schatten mit der
erstaunlichen Feinfühligkeit eines lebendigen Wesens auf den Rosen, auf der Tapete aufglühte und
verblich. Draußen zogen die Bäume ihre Blätter wie Netze durch die Abgründe der Luft; der Klang
von Wasser war im Zimmer, und durch die Wellen kamen die Stimmen singender Vögel. Jede Macht goss
ihre Schätze über sein Haupt, und seine Hand lag da auf der Sofalehne, wie er seine Hand hatte
liegen sehen, wenn er schwamm, auf der Wellenkrone treibend, während er weit weg an der Küste
Hunde bellen und weit weg bellen hörte. Fürchte nicht mehr, sagt das Herz im Leibe; fürchte nicht
mehr.- Jäh wurde Septimus aus seiner Naturgeborgenheit geschreckt. Das Hundegebell lärmte
bereits drohend im Treppenhaus: Dr. Holmes war gekommen, um ihn abzuholen. Als einzigen Weg
in die Freiheit sah er nur noch das Fenster. Er sprang auf, setzte sich auf den Sims und - stürzte
sich aufs Vorhofsgitter. Es ist eine der Großtaten der Zivilisation, als die helle, schrille
Glocke des Krankenwagens ertönte, dachte Peter Walsh. Gegenüber dem British Museum trafen
die Dinge für einen Augenblick zusammen; dieser Krankenwagen; und Leben und Tod. Es war, als
werde er durch diesen Wirbel der Erregung hinaufgesogen auf ein sehr hohes Dach, und, was von ihm
blieb, nackt liegengelassen wie ein weißer muschelgesprenkelter Strand. Es war sein Verhängnis
gewesen - diese Empfindsamkeit. Der Weltverbesserer würde auf die Gesellschaft der Gastgeberin
gehen. Sein leichter Mantel wehte auseinander, er schritt mit unbeschreiblicher Überempfindlichkeit
einher, ein wenig vorgebeugt, trippelte, die Hände auf dem Rücken und die Augen immer ein wenig
habichtsgleich; er trippelte durch London, auf Westminster zu, und beobachtete. Und Clarissa?
Die erging sich bereits in Gastfreundschaft: ,,Entzückt, Sie zu sehen!``, sagte
sie zu allen und Peter dachte, er hätte zu Hause bleiben und lieber ein Buch lesen sollen.
Es war ein ständiges Kommen, die Leute schienen nur so hereinzuplatzen. Colonel und Mrs Garrod
... Mr Hugh Whitbread ... Mrs Hilbery ... Sir William ... Lady Rosseter ... Wer? Wer um Himmels
willen war Lady Rosseter? Aber dann ihre Stimme: ,,Clarissa!`` Diese Stimme! Es war
Sally Seton! Wenigstens ein Gast, den Peter kannte. Clarissa musste sich um ihre
Gesellschaft kümmern; Lady Bruton und - den Premierminister begrüßen. Auch Mrs Hilbery
aus Night and Day war gekommen. Hatte sich ihre Tochter unterdessen ihren Lebenstraum erfüllen können
und war Astronomin geworden? Aber da war noch ein beunruhigender Unterton, den Sir William
erhoben hatte mit seinem Gespräch über die Spätfolgen von Schützengrabenschocks. Ein
junger Mann hatte sich umgebracht. Stand nicht jeder Mensch einmal vor der Wahl, weiter zu leben
oder sich umzubringen? Clarissa hatte sich für das Leben entschieden und auch Peter
und Sally würden alt werden. Es gab etwas, worauf es ankam; etwas, von Geschwätz
überwuchert, verunstaltet, verdunkelt, in ihrem eigenen Leben, das jeden Tag in Falschheit, Lügen,
Geschwätz versank. Das hatte er bewahrt. Der Tod war Trotz. Der Tod war ein Versuch sich mitzuteilen,
wenn Menschen die Unmöglichkeit empfanden, zum Innersten vorzudringen, das sich ihnen, mystisch, entzog;
Nähe trennte, Entzücken verging; man war allein. Im Tod lag Umarmung. Die Umarmung der Natur sollte
auch Virginia wählen, indem sie sich 1941 im strömenden Wasser ertränkte. Vorerst schützte sie das
Schreiben - und die Ablenkung durch Gesellschaft? Wenn man jung sei, sagte Peter, sei man zu
unruhig, um die Menschen zu kennen. Jetzt, wo man alt sei, zweiundfünfzig, um die Wahrheit zu sagen
(Sally sei fünfundfünfzig, leiblich, sagte sie, aber ihr Herz sei wie das eines zwanzigjährigen
Mädchens); jetzt, wo man also gereift sei, sagte Peter, könne man beobachten, könne man verstehen,
und man verlöre die Fähigkeit des Gefühls nicht, sagte er. Der Tag endete, die Party klang
aus; die meisten Gäste waren bereits gegangen und auch Sally brach auf. ,,Ich komme
mit``, sagte Peter, aber er blieb noch einen Augenblick sitzen. Was ist dieses Entsetzen? was ist
diese Verzückung? dachte er bei sich. Was ist es, das mich mit so außerordentlicher Erregung erfüllt?
Es ist Clarissa, sagte er. Denn da war sie.
Nach ihrem arbeitsreichen Durchbruch in die moderne Romankunst mit Jacobs Zimmer war Virginia mit Mrs Dalloway ihr erstes Meisterwerk gelungen, das wie ein großer Befreiungsschlag auf sie gewirkt haben musste. Auf die Gastgeberin Clarissa hatte sie die normale, gesellschaftlich anerkannt funktionierende Ehefrau und auf den Kriegsveteranen Septimus ihre abweichende, asoziale Psychose projiziert. Und die untergründig verwobene Struktur der mosaikartig verschachtelten und in der Schwebe gehaltenen Szenen wird abschließend in der Partygesellschaft enthüllt, in der direkt oder mittelbar alle Akteure zusammengeführt werden. Die organische Einheit Moores und der logische Atomismus Russells sind damit zu einer sprachlich empfindsamen und kunstvoll komponierten Synthese geführt worden. Septimus' Frau Lukrezia spielt mit ihrem Namen natürlich auf Lukrez an, der mit seinem Lehrgedicht über die Natur den hedonistischen Atomismus Epikurs vor den Bücherverbrennungen der Christen gerettet hatte. Um im Denken der Bloomsberries zu bleiben, hatte Clarissa sich für die lauwarme Dauerbeziehung entschieden, während Peter die leidenschaftlichen Affären favorisierte. Aber ebenso wie Frederick Wentworth bei Austen war es auch Peter Walsh möglich, seine erste Liebe über viele Jahre hinweg zu erhalten. Und das mit einer Leidenschaft, die er - wie schon Sir Edward - keiner Frau zutraute. Aber war diese männliche Leidenschaft für die Objekte seiner Begierde nicht auch der Gegenspieler seiner Empfindsamkeit für die Schönheit der Welt? Clarissa wird nicht vergessen haben, wie er ihr den schönsten Augenblick in ihrem Leben brutal zerstört hatte. Ja, Liebe und Religion sind gleichermaßen zerstörerisch. Sie verhindern die Selbstverwirklichung und die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Den zarten Keim lesbischer Zuneigung auf dem Weg zur Androgynie hatte Peter rücksichtslos in Clarissa zum Absterben gebracht. ,,Mein Name ist Dalloway``, wie ihn Sally ironisch zu nennen pflegte, war zwar weniger leidenschaftlich und empfindsam, dafür aber tolerant genug, seiner Frau ein eigenes Leben zuzubilligen, damit sie ihre eigene Sensibilität ausbilden konnte.
Michael Cunningham hatte den offenen Ausgang Mrs Dalloway's 1998 zum Anlass genommen, im Anschluss an Woolfs Arbeitstitel seinen Roman Die Stunden zu veröffentlichen. Mit seinem Buch knüpft er an einen Tagebucheintrag Virginias von 1923 an: Ich habe keine Zeit meine Pläne darzulegen. Ich müsste eine Menge über The Hours sagen, & über meine Entdeckung; wie ich hinter meinen Figuren schöne Höhlen ausgrabe; ich glaube, dadurch kommt zum Ausdruck, was ich will; Menschlichkeit, Humor, Tiefe. Die Idee ist, dass die Höhlen sich verbinden, & jede im gegenwärtigen Augenblick ans Tageslicht kommen. Um an den von Virginia begonnenen Höhlen weiterzugraben, überträgt Michael seine Clarissa ins ausgehende 20. Jahrhundert nach New York. Dabei setzt er aber nicht nur die Jahre 1923 und 1998 in Beziehung, sondern schiebt noch das Jahr 1949 ein; das Jahr, indem eine Mrs Brown den Roman Mrs Dalloway liest und sich dabei über ihre missliche Ehesituation bewusst wird. Wie bei George Luis Borges in Der andere Tiger geht es gleichsam um die Suche eines dritten Tigers: Dieser wird, wie die anderen, ein Bild sein aus meinen Träumen, ein System aus Wörtern der Menschen, und nicht der Tiger mit Rückgrat, der jenseits der Mythologien auf der Erde lebt. Nach diesem vielversprechenden Vorspann beginnt das Buch mit einem Prolog über die Selbsttötung Virginia Woolfs 1941. Ihrem Mann Leonard hatte sie einen Abschiedsbrief hinterlassen. Einleitend schreibt sie: Liebster, ich fühle deutlich, dass ich wieder verrückt werde. Ich glaube, wir ertragen eine so schreckliche Zeit nicht noch einmal. Und diesmal werde ich nicht wieder gesund werden. Ich höre Stimmen und ich kann mich nicht konzentrieren. Der Brief endet mit: Ich glaube nicht, dass zwei Menschen glücklicher hätten sein können, als wir gewesen sind. Ähnlich wie Cassandra Austen nach dem vorzeitigen natürlichen Ableben ihrer Schwester Jane, hatte auch Leonard einen Schatz verloren. Bei Cassandra heißt es weiter: Sie war die Sonne meines Lebens, sie versüßte mir jede Freude, besänftigte jeden Kummer. Nicht einen Gedanken verbarg ich vor ihr, und mir ist, als hätte ich einen Teil meiner selbst verloren. Einen Teil seiner selbst hatte auch Leonard verloren.
Trotz des traurigen Auftakts beginnt Michaels Buch mit dem Kapitel Mrs. Dalloway so heiter wie die Vorlage: Die Blumen müssen noch besorgt werden. Clarissa gibt sich gereizt (obgleich sie solche Aufgaben liebt), lässt Sally das Badezimmer putzen, verspricht, in einer halben Stunde zurück zu sein, und stürmt hinaus. Ist Sally das Hausmädchen, die Lucy der Vorlage? Nein! Sally ist die erotische Freundin Clarissas, mit der sie zusammenlebt. In ihrer Jugend hat es offenbar keinen so rücksichtslosen Freund gegeben, so dass sie ihre lesbischen Neigungen ausleben und Virginias androgyne Visionen verwirklichen konnte; denn eine Tochter hat sie ebenfalls. Und warum führt Cunningham eine Leserin mit dem Namen Brown ein? In ihren Ausführungen zur Romankunst hatte Woolf am Beispiel einer Mrs Brown den Unterschied zwischen den Edwardians und den Georgians deutlich gemacht. Parallel zum politischen Wandel war die traditionelle zur modernen Romankunst verfeinert worden. Die Stunden des Lesens werden bei Mrs Brown eine ähnliche Veränderung ihrer Lebensperspektive erwarten lassen: sie wird dem Ehegefängnis entfliehen und sich selbst verwirklichen. Clarissa Vaughans Jugendfreund Richard - bei Virginia: ,,mein Name ist Dalloway`` - tritt bei Michael als Schriftsteller auf, der seine Freundin einstmals ,,Mrs Dalloway`` genannt hatte. Da er im fortgeschrittenen Stadium an AIDS erkrankt ist, hört er Stimmen, fühlt sich verfolgt und neigt - wie Septimus - dazu, sich umzubringen. Am Ende ist Clarissa zu sich selbst gekommen: Und hier ist sie, sie selbst, und nicht mehr Mrs. Dalloway; es gibt jetzt niemanden mehr, der sie so nennt. Hier ist sie und hat eine weitere Stunde vor sich.
In einer Stunde kann ein ganzes Jahr, in einem Tag ein langes Leben aufscheinen. Die Stunden Woolfs und Cunninghams kann man wieder und wieder lesen und das je verschiedene Muster aufzuspüren versuchen, das sie unserem Bewusstsein einprägen. Nach dem ,,Genesungswerk`` Mrs Dalloway begann Virginia 1925 wieder mit dem Schreiben zur ,,Krisenbewältigung``: Der Charakter von Vater soll darin voll dargestellt werden; & der von Mutter; & St. Ives; & die Kindheit; & alles Übliche, was ich hineinzuschreiben versuche - Leben, Tod & c. Zum Leuchtturm sollte eine Elegie auf die frühen Jahre und den Tod der Eltern werden. Für Goldman handelt es sich um einen selbstreflexiven, feministischen Künstlerroman. Leonard nannte ihn ein psychologisches Gedicht. Es lässt viele Interpretationen zu; denn nichts wird so dargestellt als ob es eindeutig wäre. Gleichwohl spielt der Titel auch auf die ,,erleuchtende`` Aufklärungsphilosophie Humes an, der bekanntlich die Konvention für wichtiger hielt als die Kausalität. Und schon zu Beginn steht wieder ganz die Intensität des Augenblicks im Vordergrund: ,,Doch bestimmt, wenn es morgen schön ist``, sagte Mrs Ramsay. ,,Dann musst du aber schon ganz früh aus den Federn``, setzte sie hinzu. Ja, wenn es schön werden würde, könnten sie zum Leuchtturm fahren. Aber die große Freude des Sohnes darüber, wurde jäh gedämpft: ,,Bloß``, sagte sein Vater, als er vor der Fenstertür des Salons stehenblieb, ,,wird es nicht schön sein``. Was war das für eine Liebe, die Liebe des Vaters? Es war Liebe, die nie ihr Objekt zu umklammern versuchte; sondern, wie die Liebe, mit der Mathematiker ihre Symbole handhaben oder Dichter ihre Sätze, dazu da war, sich über die Welt zu verbreiten. War das der Grund, weshalb Frauen nicht malen und nicht schreiben können sollten? Aber die Zeit vergeht: ,,Nun ja, wir müssen abwarten, was die Zukunft bringt``, sagte Mr Bankes, als er von der Terrasse hereinkam. Das Haus verfiel und die Mystikerin, die Visionärin hatte Vorstellungen von der seltsamsten Art - von Fleisch, das zu Atomen wurde, die vor dem Wind hertrieben, von Sternen, die in ihrem Herzen blitzten, von Klippe, Meer, Wolke und Himmel, absichtsvoll zusammengeführt, um nach außen hin die zerfallenen Teile der inneren Vision zusammenzufügen. Endlich waren sie Am Leuchtturm. Aber die Dringlichkeit des Augenblicks verfehlte stets ihr Ziel. Worte flatterten zur Seite und trafen die Gegenstände um etliche Zoll zu tief. So erging es der Schreiberin. Und was dachte die Malerin? Ja, dachte sie, als sie in äußerster Erschöpfung den Pinsel niederlegte; ich habe sie gehabt, meine Vision.
Virginia hatte ihre Vision bravourös zu Papier gebracht - und spürte das Bedürfnis nach einer Eskapade zur Befreiung. Kein ernsthaftes, poetisches, experimentelles Buch sollte es sein, dessen Form immer so genau durchdacht werden musste, sondern eine Biographie, die im Jahr 1500 beginnt & bis zum heutigen Tage führt, Orlando genannt: Vita; nur mit einer Umwandlung aus einem Geschlecht in ein anderes. Ihre mehrjährige, leidenschaftliche Liebesbeziehung zu der Aristokratin Vita Sackville wollte sie für immer festhalten. Der als Biographie getarnte, satirische Künstlerroman kann auch als langer, charmanter Liebesbrief gelesen werden. Zwischen Regenbogen und Granit, Phantasie und Wahrheit angesiedelt, kann er als Ausgleich angesehen werden an der bereits geplanten arbeitsreichen eigenen Künstlerbiographie: The Waves. Der Leuchtturm und die Wellen, die Freizeitatmosphäre an der See, mit ihrer weiten Sicht zum fernen Horizont, der frischen Brise und dem Salzduft des Meeres, erahnt bereits durch das Rauschen und Flimmern hinter dem halbdurchlässigen Rouleau, wirkte ein Leben lang in Virginia nach. In Deutschland hatte der Aristokrat Eduard von Keyserling 1911 seinen Liebesroman Wellen veröffentlicht, der an der baltischen Ostseeküste spielte und mit wohlgewählten Metaphern die emotionale Abhängigkeit der Liebenden vom Meer zum Ausdruck brachte. Inhaltlich thematisierte das Buch das Gefangensein der Frauen im vom Standesdünkel beherrschten preußischen Adelsstand, blieb formal aber der traditionellen Romankunst verhaftet.