Entweder nichtlokal oder unvollständig hallte es in Hilde nach. Warum waren die Verhältnisse bloß so verwickelt? Sofie hatte ganz recht. Schließlich kann man nicht erwarten, daß sich unsere Alltagserfahrungen auch noch im Mikro- und Makrokosmos bewähren. Sie hatte nicht viel wirklich verstanden. Aber die Ahnung eines großen Zusammenhangs, einer umfassenden Sinnstruktur gewonnen. Wie armselig waren demgegenüber die Dogmen der Religionen, wie plump die Ideologien in den Weltanschauungen. Das Gefühl der Welt als begrenztes Ganzes ist das Mystische. Hochgefühl stieg in ihr auf. Wie gern hätte sie jetzt mit Niels geschlafen. Sie bebte vor Lust ... Entspannt ließ sie von sich ab. Schweiß rann ihr vom Körper. Sie strich die Decke weg und trat ans Fenster. Ein kühler Hauch ließ sie leicht frösteln. Außer Blätterrascheln, leises Glucksen und fernes Zirpen war nichts zu hören. Umhüllt von Dunkelheit ergriff eine leichte Unruhe von ihr Besitz. Wie wenn man beobachtet wird. Saß da nicht jemand auf der Terrasse? Hilde strebte wie in Trance zur Tür, schlich durch den Flur und trat hinaus. Da saß tatsächlich jemand! Angestrengt starrte sie ins Dunkel. Ein etwa gleichaltriger Junge schaute sie an. ,,Hallo``, flüsterte er. Leicht verwirrt setzte sie sich zu ihm. ,,Bist Du öfter hier?`` wollte sie wissen. ,,Nein, leider nur selten. Ich wohne in einem Internat. Es ist nicht leicht, nachts wegzukommen.`` ,,Ich verstehe. Wie heißt Du denn?`` Hilde schaute ihn freundlich an. ,,Törless``, anwortete er bestimmt. ,,Und Du?`` ,,Hilde.`` Nach einer Weile fügte sie hinzu. ,,Ich beteilige mich an einem Philosophiekurs.`` ,,Philosophiekurs``, wiederholte er interessiert. Erregt hob er an: ,,Dann kannst Du mir vielleicht weiterhelfen. Mich verwirren nämlich die imaginären Zahlen.`` Hilde war verblüfft. Erinnerte aber sogleich: ,, tex2html_wrap_inline2861 .`` ,,Das verstehe ich bereits nicht. Die Zahl gibt es doch überhaupt nicht. Jede Zahl, ob positiv oder negativ, gibt zum Quadrat erhoben etwas Positives. Es kann daher gar keine wirkliche Zahl geben, welche die Quadratwurzel von etwas Negativem wäre.``

Wie mit Gaußens Stimme, fing Hilde behutsam zu sprechen an. ,,Stell Dir vor, Du willst die Gleichung tex2html_wrap_inline2929 im Bereich der rationalen Zahlen lösen. Da tex2html_wrap_inline2403 irrational ist, hast Du den rationalen Zahlenbereich zu erweitern. Nimm weiter an, Du hast die Gleichung tex2html_wrap_inline2933 im reellen Zahlenbereich zu lösen. Da tex2html_wrap_inline2935 nicht reell ist, hast Du den reellen Zahlenbereich zu erweitern. Eine Zahlenbereichserweiterung erfolgt durch Abstraktion unter Erhalt der algebraischen Struktur ... ``

,,Erst die Quantenkommutatoren sprengen den Rahmen``, rief Hilde hochfahrend aus. Verwirrt schaute sie umher. Vertraute Stimmen wehten herüber. Alberto und Sofie saßen bereits auf der Terrasse. Hilde ließ sich zurückfallen und schaute durchs Fenster auf einen wolkenverhangenen Himmel.

Kurz darauf liefen die Mädels zum Anleger des Ausflugsdampfers nach Potsdam. Von dort ging es weiter nach Wannsee und anschließend mit der S-Bahn bis Bahnhof Zoo. Der Tiergarten lud zum Spazierengehen ein. Durchs Brandenburger Tor sollte es weiter unter den Linden zur Humboldt Universität und dem Pergamon Museum gehen. Ermüdet vom weiten Weg erstiegen sie die Treppen des Museums und gelangten in eine große Halle. Vor dem Pergamonaltar ließen sie sich auf eine Bank fallen. Staunend gewahrten sie die Plastiken. Eine Weile saßen die beiden einfach nur da. In der Halle herrschte reges Kommen und Gehen.

,,Der Kampf der Götter und Giganten. Der Sieg des Geistes über die Natur ... ``, hob Hilde an.

,,Warum steht der Altar eigentlich nicht in Griechenland?`` wunderte sich Sofie.

,,Wie Niels uns erzählte``, entgegnete Hilde, ,,überhöhte er die zweite deutsche Reichsgründung ins ... ``

,,Ja, schon``, beharrte Sofie. ,,Die Deutschen Reiche sind doch längst Geschichte! Anscheinend leben wir noch immer im Kolonialismus.``

,,Wie dem auch sei``, wiegelte Hilde ab und wollte noch `was sagen, aber eine merkwürdige Gestalt erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie befand sich an der rechten Seite des Altars. Der Mann sah aus wie - ja, wie ein altgriechischer Gelehrter. Seinen Gesten nach sprach er mit einem jüngeren Mann, der bei ihm stand. Hilde fühlte sich unwiderstehlich zu den beiden hingezogen. Unvermittelt erhob sie sich. Verwundert schaute Sofie auf und folgte ihr. Jetzt sah auch sie den bärtigen Philosophen in der Toga. Sie bildete einen auffallenden Kontrast zur Lederkleidung des Jüngeren. Neugierig traten die Mädchen hinzu.

,,... sie verkörpern die Tages- und Nachtgestirne. Die Morgenröte Eos, Helios, der Sonnengott, und die Mondgöttin Selene. Alle drei sind Enkel des Uranos``, hörten sie den Gelehrten verhalten erläutern und blickten zum Fries. ,,Eos und Selene werden von Pferd und Maultier getragen. Helios steht in seinem Gespann. Der Zug der Tiere symbolisiert den Lauf der Zeit - vom Sonnenaufgang - zum Sonnenuntergang.`` Der Philosoph wies auf einen Giganten, der sich breitbeinig vor den Pferden des Helios aufgebaut hatte. ,,Helios soll an der Weiterfahrt gehindert werden. Und das Reittier der Selene scheint den Anschluß verloren zu haben.``

,,Die Giganten bringen den gleichmäßigen Gang der Zeit durcheinander``, vernahmen die Mädels die Stimme des Jüngeren.

,,Ganz recht``, erwiderte der Alte. ,,Einer romantischen Anschauung stellt sich die Welt primär als unmittelbar wahrnehmbare äußere Erscheinung dar. Die klassische Anschauung dagegen nimmt die Welt primär als innere Form wahr.``

Sofies Blick sog die wohlgestalteten Körper der Götter und Giganten auf. Ihr Gefallen drängte zur Äußerung: ,,Hier geht die Sinnenfreude an der äußeren Erscheinung mit dem Bedenken der inneren Form einher.``

Der Jüngere schaute sie einen Moment lang eindringlich an: ,,Welch' Geschick vergönnt mir die Sinnenfreude Deiner Wohlgestalt?``

Sofie verschlug es die Sprache. Warm wallte es in ihr auf und rötete ihre Wangen. ,,Es ist die innere Form klassischer Anschauung``, löste Hilde die Verlegenheit. ,,Entstammst Du auch einem Philosophiekurs?``

,,Ich heiße Chris``, wandte sich der Jüngere ihr zu. ,,Das ist Phaidros. Er unterweist mich in der Kunst, ein Motorrad zu warten.`` Der Gelehrte nickte leicht und schaute sie freundlich an.

,,Ich heiße Hilde und lebe in Sofies Welt.``

,,Ah, wir teilen die Welt der Weisheit``, sagte Phaidros.

In Sofie löste sich die Anspannung. ,,Was ist denn so kunstvoll am Warten eines Motorrades?``

,,Du scheinst eine romantische Ader zu haben``, erwiderte Phaidros. ,,Die klassische Anschauung enthüllt im Bauplan eines Motorrades eine ungeheure Fülle innerer Form.``

,,Motorrad fahren stelle ich mir romantischer vor als Motorrad warten``, bestätigte Sofie. Chris lächelte ihr vielsagend zu.

,,Die äußere Erscheinung ist real, die innere Form imaginär``, entfuhr es Hilde als ihr der Traum wieder in den Sinn kam.

,,So sieht es der Romantiker``, entgegnete Phaidros. ,,Der Klassiker sieht hinter der Wirklichkeit die Fülle der Möglichkeiten ... ``

Hilde schaute ihn verwundert an. Ihr erschloß sich ein neuer Zusammenhang. ,,Das ist es!`` rief sie begeistert. ,,Wirklich zu möglich wie reell zu imaginär. Quantenvorgänge werden durch imaginäre Zahlen beschrieben. Meßresultate sind real. Wirklich ist die wahrscheinlichste Möglichkeit.`` Sie mußte an den Zweizeiler denken: Nur die Fülle führt zur Klarheit ...

,,Das Betragsquadrat einer imaginären Zahl ist reell``, ergänzte Chris.

,,Nun sind wir vom Gang der Zeit in die imaginäre Welt des Möglichen gelangt``, kam Sofie ins Grübeln. ,,Die Giganten dehnen das Zeitmaß der Götter wie die Schwere das Raum-Zeit-Kontinuum.``

,,So folgen wir denn weiter dem Kampf der Götter und Giganten``, schlug Phaidros vor und wandte sich dem Fries zu.

Cassiel und Damiel hatten sich aus dem Himmel über Berlin herabgeschwungen und traten vor den Pergamonaltar. Gern lauschten sie den Gedanken der Menschen in ihren stillen Betrachtungen.

Hilde folgte den Ausführungen Phaidros' nur mit geteilter Aufmerksamkeit. ,,Kontinuierlich-deterministische Theorien beschrieben, was wirklich ist``, ging es ihr durch den Kopf. ,,Diskontinuierlich-statistische Theorien beschrieben, was möglich ist ... `` Sofies Blick ertastete die wohlgeformten Konturen der Plastiken. ,,Wenn sie bloß nicht so schlecht erhalten geblieben wären``, dachte sie. Hinter den Körperkonturen meinte sie den Lebenspuls zu spüren. Unwillkürlich trat sie näher. Wie gerne wäre sie in Bergama um den ursprünglichen Altar gewandelt ...

Cassiel und Damiel lächelten sich zu. Die vier hier waren von ihrer Art.

,,... war nicht die Zeit genaugenommen auch imaginär?`` fragte sich Hilde versonnen. ,,Durch den Raum kann man frei herumwandeln. Er ist real. Aber die Zeit?``

,,Da hast Du ganz recht``, hob Cassiel an. Hilde wandte sich um. Der ruhige Blick eines Engels nahm sie gefangen. ,,Die Zeitachse des Minkowski-Raums ist imaginär.``

,,Und was ist der Grund dafür?`` las Cassiel ihre Gedanken.

,,Es gibt nur auslaufende Wellen.``

,,Wie bitte?``

,,Denk doch `mal an einen ins Wasser fallenden Stein. Hast Du schon `mal eine am Stein einlaufende Welle beobachtet?``

Hilde war verblüfft. So etwas gab es nicht. Wieso hatte sie noch nie daran gedacht? Vor ihrem inneren Auge explodierte der Kosmos. ,,Alle Wellen verlaufen synchron zur auslaufenden Energiewelle des Urblitzes``, rief sie begeistert ihre Eingebung in die weite Halle. Nur wenige merkten auf.

Als das Kind Kind war,

warf es einen Stock als Lanze gegen den Baum.

Und sie zittert da heute noch

sang Damiel ihr ins Ohr.

,,Ja, wirklich ist nur die gerichtete Zeit. Die umkehrbare Zeit ist imaginär``, dachte Hilde und schaute versonnen den Engeln nach. Sie nickten ihr freundlich zu und gingen ihres Weges.

Die vier verließen das Museum. Sofie schwang sich zu Chris auf den Soziussitz und brauste davon. Hilde und Phaidros wählten den Uferweg an der Spree in Richtung Charlottenburg. Der Sonne entgegen ließen sie die Museumsinsel hinter sich. Einige Zeit hingen sie still ihren Betrachtungen nach. Am Reichstagsgebäude vorbei schritten sie in sanfter Rechtskurve zwischen Spree und Tiergarten voran. ,,Uns hat wohl die Liebe zur Weisheit am Pergamonaltar zusammengeführt``, unterbrach Hilde Phaidros in seinen Gedanken. Wohlwollend betrachtete er sie; sagte aber nichts. ,,Der Blick für die innere Form hinter den Erscheinungen ... ``

,,Komm``, rief er unvermittelt, ergriff ihre Hand und sprang die Uferböschung hinunter. Lachend hielten sie am Wasser inne. Einen Moment blickte er ihr ruhig in die Augen. Er hielt einen Umhang in der Hand. ,,Würdest Du den für mich anlegen?``

Hilde war überrumpelt und zögerte einen Moment. ,,Warum nicht``, sagte sie lächelnd, streifte Jeans und T-Shirt ab und hüllte sich in das Gewand.

Am Abend des nächsten Tages trafen die beiden Gewänderten im Garten des Schlosses Sophie Charlottes auf die Ledernen. Sofie und Chris lagen ausgestreckt im Schatten einer mächtigen Baumkrone. Der Herbst kündete sich an und ließ Hilde und Phaidros leicht frösteln, so daß sie dem wärmenden Licht zustrebten. ,,Kein Schatten ohne Licht``, dachte Hilde und schaute Sofie aufmerksam an. Die Lederkluft hatte sie verändert und gab ihrem weichen Wesen eine harte Schale. Chris und Sofie waren derart ineinander vertieft, daß Phaidros und Hilde sich in ihrer Nähe unbemerkt hatten niederlassen können. Verhalten wehten Chris' Worte herüber: Was einen guten Mechaniker - oder Mathematiker - von einem schlechten unterscheidet, ist die Fähigkeit, auf der Grundlage der Qualität die brauchbaren Tatsachen aus der Vielzahl der überflüssigen auszusondern. Es muß ihm etwas daran liegen! ... Der echte Zug des Wissens ist nichts Statisches, das man anhalten und in Teile zerlegen kann. Er ist immer in Fahrt. Auf einem Gleis namens Qualität. Und die Lok und die 120 Güterwagen fahren nie woanders hin, als wo das Gleis der Qualität sie hinführt; und die romantische Qualität, die Leitkante der Lok, führt sie das Gleis entlang. ... Die Leitkante enthält all die unendlich zahlreichen Möglichkeiten der Zukunft. Sie enthält die gesamte Geschichte der Vergangenheit.

,,Qualität geht vor Quantität``, hörte Hilde Sofie antworten und sah, wie sie ihren Kopf in seinen Schoß schmiegte als er sich hochsetzte und an den Stamm lehnte.

Die Beat-Generation bezeichnete das Unvermögen, Qualität wahrzunehmen, als squareness, fuhr Chris fort und spielte sanft mit Sofies Haaren. Die Welt der Beatniks zerfiel in zwei Hälften: hip und square, romantisch und klassisch, humanistisch und technologisch.

,,Haben die Beats `was mit den Beatles zu tun?`` rief Hilde aus. Die Ledernen ließen voneinander ab und blickten auf.

,,Hallo``, rief Sofie erfreut.

,,Die Beats gingen den Beatles und den Hippies der 60er voran. Sie traten bereits Anfang der 50er hervor und bildeten eine bis heute einflußreiche Subkultur. Eine Keimzelle ihres Schaffens war San Francisco ... ``

,,Vielleicht sollten wir in Kalifornien überwintern``, entfuhr es Hilde. Die Erde hatte sie in den Schatten gedreht.

Erwartungsvoll schaute Sofie Chris an. Er fingerte Stift und Papier aus dem Leder, schrieb etwas auf und reichte ihr den Zettel: 261 Columbus Avenue, San Francisco, CA 94133. Nach innigem Kuß stand er auf. Die beiden Männer verabschiedeten sich. Verträumt blickte Sofie ihnen nach. Hilde griff sich Sofies abgelegte Kleidung und zog sie über. ,,So werden wir es hier aushalten``, sagte sie; blieb aber ungehört.

Sie erwachten mit der Morgenröte und machten sich auf den Weg. Gegen Mittag erreichten sie Caputh. Das Haus war leer. Im Wohnzimmer fanden sie eine Nachricht Albertos: Hallo Mädels, die Jünger Galileis haben mich besucht. Sie werden sich um Euch kümmern. Ich werde über Ulm und Bern ins CalTech nach Kalifornien reisen. Bis dann, Alberto. ,,Ihn zieht es also auch nach Kalifornien``, merkte Hilde an.

Die beiden traten vors Haus und schlenderten über den Bootssteg. Zum Baden war es ihnen zu kalt. So setzten sie sich an den Stegrand und ließen die Füße ins Wasser baumeln. Schweigend betrachteten sie das Treiben auf dem See. ,,Wie sie wohl aussehen?`` fragte Sofie nach einer Weile.

,,Ich stelle sie mir wie Galilei vor``, entgegnete Hilde, ,,Renaissance-Menschen an der Schwelle zwischen wiedererwachter Antike und hereinbrechender Moderne. ... Warte `mal, ... ja, das müssen sie sein.``

Sofies Blick folgte dem ausgestreckten Arm Hildes. Sie wies auf ein gemächlich herannahendes Ruderboot. Die Mädels sahen angestrengt dem Boot entgegen und versuchten Details auszumachen. Sie erkannten drei in weite Gewänder gehüllte alte Männer mit langen Bärten. Zwei trugen eine Kopfbedeckung. Dem Ruderer war nur ein Haarkranz geblieben. Seine gelegentlichen Kopfdrehungen ließen einen umso üppigeren Bart hervortreten. Die Mädchen winkten den Alten zu, sprangen auf und gingen ihnen ein Stück entgegen. Nach einer Weile stieß das Boot an den Steg. Hilde ergriff das zugeworfene Tau und machte es fest. Sofie reichte dem ersten die Hand zum Aussteigen und Begrüßen. ,,Simplicio``, sage er lächelnd. Nachdem auch Salviati und Sagredo wieder festen Boden unter den Füßen und sich alle bekannt gemacht hatten, schritten sie gemeinsam aufs Landhaus zu.

,,Wir stehen im 20. Jahrhundert an der Schwelle einer wissenschaftlichen Umwälzung wie wir sie einstmals zu Zeiten Galileis, unseres ehrwürdigen Schöpfers, erlebt haben``, hob Sagredo an.

,,Galilei begann im Buch der Natur mit der Sprache der Mathematik zu lesen``, ergänzte Simplicio.

Und Salviati fügte hinzu: ,,Mit Galilei wurde die Naturphilosophie abstrakt. Bohr begann das Reich des Möglichen auszuloten. Nach ihm wurde der Zufall Grundlage der Physik.``

,,Ich schlage vor, daß wir uns morgen vormittag zur Interpretation des Wissenschaftswerks der Quantentheorie zusammensetzen``, sagte Sagredo an die Mädels gewandt. Sie nickten zustimmend. ,,Zur Vorbereitung solltet Ihr Euch die Aspekte des Welle-Teilchen-Dilemmas in Erinnerung rufen. Wir werden drei Interpretationsansätze verfolgen, den subjektiven, den objektiven und den abstrakten der Kopenhagener Deutung.``

Die Alten zogen sich auf ihre Zimmer zurück. Sofie und Hilde setzten sich auf die Terrasse. Aus tiefhängenden Wolken begann es leicht zu regnen. Unterm Sonnenschirm ließ es sich aushalten. Hilde sog innig die feucht-frische Luft ein.

,,Ich freue mich schon auf Kalifornien``, schwärmte Sofie.

Verschmitzt blickte Hilde sie an. ,,Chris hat es Dir wohl angetan ... `` Sofie sah sich über die Küstenstraße fahren. Mit wehenden Haaren dem goldenen Tor entgegen. Amüsiert sah Hilde sie an.

,,Er hat uns im nächsten Jahr zu einer Sommerschule nach Berkeley eingeladen. ... chautauqua hat er sie genannt``, sagte Sofie leicht verträumt.

,,Auch Phaidros sprach davon``, ergänzte Hilde. ,,Sie wird von traditioneller und kritischer Theorie handeln.``

,,Mir hat die Unterscheidung von klassischer und romantischer Sichtweise gefallen``, kam Sofie ins Grübeln. ,,Aber besonders die der Qualität! Spießer sind square, sie sind unfähig, Qualität wahrzunehmen!``

,,Sie leben in der Quantität``, setzte Hilde hinzu, ,,machen nach, was fast alle machen, gehen mit der Mode, sind Herdentiere ... ``

Die beiden schauten sich an. ,,Sollten wir auf unserem Fall durch die Sprachebenen vielleicht unsanft in der Quantität landen? Ist nicht Vereinzelung die Kehrseite der Qualität?`` zweifelte Sofie. Aber dachte sie überhaupt selbst? Oder waren es Erinnerungen an Chris?

,,Es gibt Joker und Spielkarten``, ergänzte Hilde. ,,Nur ein Joker löst das Kartengeheimnis.``

,,Beginnen wir mit der Lösung unseres Geheimnisses``, setzte Sofie heiter hinzu.

,,Das Welle-Teilchen-Dilemma``, legte Hilde los, ,,ist eine Konsequenz der Existenz diskreter Ladungen und kontinuierlicher Felder. Die Relativitätstheorie hat es an den Tag gebracht. Die durch Relativitätsprinzip und Gruppeneigenschaften gesetzten theoretischen Rahmenbedingungen haben die Proportionalität von Energie und Masse sowie Energie und Frequenz zur Folge.`` Sie machte eine Denkpause. Sofie sah sie erwartungsvoll an. ,,Bohr suchte nach einer Lösung des Dilemmas in den Entstehungsbedingungen des Lichtes. Beim Übergang zwischen diskreten atomaren Zuständen wird Strahlung emittiert bzw. absorbiert. Die empirischen Rahmenbedingungen werden hierbei durch die Atomstruktur gesetzt.``

,,Sollte es sich beim Welle-Teilchen-Dilemma um ein Scheinproblem handeln?`` sagte Sofie zögernd und fuhr sogleich fort: ,,Was haben schon Wasserwellen und Tennisbälle mit Licht und Elektronen zu tun. Vorurteilsfrei betrachtet, wissen wir von Atomen lediglich, daß sie in energetisch unterscheidbaren Zuständen vorkommen. Ja, mehr können wir von der Materie schlechthin nicht sagen.``

,,Du meinst, Wellen und Teilchen sind ebenso irreal wie die Gleichzeitigkeit und der euklidische Raum?`` zweifelte Hilde.

,,Ganz recht``, erwiderte Sofie. ,,Wir sehen die Welt nicht so, wie sie wirklich ist, sondern nur so, wie sie uns erscheint.``

,,Wirklich ist die wahrscheinlichste Möglichkeit``, wiederholte Hilde ihre Einsicht vom Berlin-Ausflug.

,,Ist Wirklichkeit bloße Konstruktion?`` fragte Sofie schon merklich schläfrig. Flüsternd fuhr sie fort: ,,Ich bin gespannt, was wir darüber noch erfahren werden.``

Ruhig atmend lagen die Mädels im Tiefschlaf. Vom See strich eine frische Brise herüber. Die getriebenen Wolken kündeten das Nahen eines Unwetters. Jäh ergriff eine Böh den Sonnenschirm. In dichten Streifen prasselte es herunter. Die Mädchen schreckten hoch. Klatschnaß stürzten sie ins Haus. Schlotternd entstiegen sie ihrer Wäsche und ließen warmes Wasser ein. Im wohligen Naß drohten sie erneut einzuschlafen. Aber Ungleichgewichte haben die Tendenz, sich auszugleichen. Temperaturunterschiede nähern sich an. Das abkühlende Wasser machte sie munter. Behutsam schlichen sie in ihre Zimmer. In Böhen klatschte der Regen an die Scheiben. Geborgen im kuscheligen Bett schliefen sie sogleich wieder ein.