Zwischen dem Tractatus und den nach Wittgensteins Tod veröffentlichten Philosophischen Untersuchungen besteht ein deutlicher stilistischer Unterschied. Gleichwohl führen die Untersuchungen inhaltlich weiter, was im Tractatus nur angedeutet blieb. Im Gegensatz zu den untergliederten sieben Kapiteln des Tractatus', bestehen die Untersuchungen aus einigen hundert Bemerkungen, die fortlaufend durchnummeriert sind: Der Philosoph behandelt eine Frage; wie eine Krankheit (255). Was ist dein Ziel in der Philosophie? - Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen (309).

,,Freiheit durch Bewußtseinserweiterung!`` rief Sofie und wunderte sich über ihren Einfall.

,,Dem Frosch hätte Wittgenstein den Tractatus als Leiter ins Glas gestellt``, ergänzte Hilde verschmitzt.

,,Wie man die logische Form nur verstehen könne, wenn man die Sprache als Ganzes sehe, so ließe sich auch die Ethik nur verstehen, wenn man die Welt als Ganzes sehe. Diese späte Formulierung Wittgensteins hat bereits im Tractatus ihren Keim: Das Gefühl der Welt als begrenztes Ganzes ist das mystische (6.45). Die logische Klärung der Gedanken im Tractatus erweitert Wittgenstein zur sprachlichen Klärung der Gedanken in den Untersuchungen:

38
Philosophische Probleme entstehen, wenn die Sprache feiert.
109
Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes mit den Mitteln der Sprache.
116
Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück.
119
Die Ergebnisse der Philosophie sind die Entdeckung irgendeines schlichten Unsinns und die Beulen, die sich der Verstand beim Anrennen an die Grenze der Sprache geholt hat. Sie, die Beulen, lassen uns den Wert jener Entdeckung erkennen.
123
Ein Philosophisches Problem hat die Form: Ich kenne mich nicht aus.

Zur Bedeutung der Sprache heißt es schon im Tractatus: Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt (5.6). In den Untersuchungen führt Wittgenstein eine Gerbrauchstheorie der Bedeutung ein, die weit über die Abbildtheorie des Tractatus hinausgeht: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache (43). Den Gebrauch der Worte deutet er in Spielen, nach der Art wie die Kinder ihre Muttersprache erlernen. Derartige Spiele nennt er Sprachspiele (7). Das Wort Sprachspiel soll hervorheben, daß das Sprechen einer Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform (23). Denn: Sich eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen (19). Im Tractatus hatte sich der Logiker Wittgenstein noch auf die Analyse assertorischer Sätze beschränkt. Demgegenüber führt er die Mannigfaltigkeit der Sprachspiele an einigen Beispielen vor Augen: Befehlen, und nach Befehlen handeln - Beschreiben eines Gegenstands nach dem Ansehen, oder nach Messungen - Herstellen eines Gegenstands nach einer Beschreibung (Zeichnung) - Berichten eines Hergangs - Über den Hergang Vermutungen anstellen - Eine Hypothese aufstellen und prüfen - Darstellen der Ergebnisse eines Experiments durch Tabellen und Diagramme - Eine Geschichte erfinden; und lesen - Theater spielen - Reigen singen - Rätsel raten - Einen Witz machen; erzählen - Ein angewandtes Rechenexempel lösen - Aus einer Sprache in die andere übersetzen - Bitten, Danken, Fluchen, Grüßen, Beten ...

Naheliegende Sprachspiele spielen wir gerade selber: Ich erzähle, zitiere, erläutere, erkläre ... Ihr fragt, ergänzt, interpretiert, versteht, staunt ... Wittgenstein beginnt seine Untersuchungen mit folgendem Beispiel: Eine einfache Sprache soll der Verständigung eines Bauenden A mit einem Gehilfen B dienen. A führt einen Bau auf aus Bausteinen; es sind Würfel, Säulen, Platten, Balken vorhanden. B hat ihm die Bausteine zuzureichen, und zwar nach der Reihe wie A sie braucht. Zu dem Zweck bedienen sie sich einer Sprache, bestehend aus den Wörtern: Würfel, Säule, Platte, Balken. A ruft sie aus; B bringt den Stein, den er gelernt hat, auf diesen Ruf zu bringen. Hinsichtlich des Zwecks handelt es sich um eine vollständige primitive Sprache (2).``

,,Diese Sprache ließe sich auch auf das Bauen mit Legosteinen übertragen``, bemerkte Hilde.

,,Ganz recht``, entgegnete Alberto. ,,Gleichwohl erschöpft sich die Bedeutung der Wörter nicht in dem Gegenstand, für den sie stehen. Vollständige Bedeutung erlangen sie erst durch ihren Gebrauch im Arbeitszusammenhang. Dieser Gebrauch wird eingeübt in Lehr/Lernsituationen, die nicht durch Definitionen oder Regeln erklärt werden können. Denn die direkte Verbindung zwischen Wort und Tat, einer Regel und ihrer Anwendung, läßt sich nicht mit einer anderen Regel erklären; man muß den Zusammenhang sehen.

,,Genau!`` bestätigte Sofie. ,,So haben wir doch alle sprechen gelernt. Um wieviel reicher dieser Ansatz der Umgangssprachler im Vergleich mit den Idealsprachlern ist``, freute sie sich.

,,Ohne Konzentration auf das Wesentliche hätten Russell und Gödel aber nicht solchen Erfolg gehabt``, erwiderte Hilde.

,,Worauf es beim Sprechen ankommt, ist die Verbindung aus sachlichem Gehalt und zweckdienlichem Gebrauch``, vermittelte Alberto. ,,Sprechen ist Handeln! Niemand redet einfach so daher, jeder verfolgt eine Absicht ... ``

,,Die auch unbewußt sein kann``, ergänzte Sofie und schwärmte: ,,Das werde ich mir in Zukunft immer klarzumachen versuchen, mit welcher Absicht ich in welchem Sinnzusammenhang rede ... ``

,,Die Bedeutung der Wörter entspricht ihrer Rolle im Sprachspiel``, nahm Alberto seinen Faden wieder auf. ,,Dieser Bedeutungsreichtum der Wörter zieht eine erweiterte Auffassung von Wahrheit nach sich, die später sogenannte Konsenstheorie der Wahrheit. Wittgenstein schrieb dazu: Richtig und falsch ist, was Menschen sagen; und in der Sprache stimmen die Menschen überein. Dies ist keine Übereinstimmung der Meinungen, sondern der Lebensform (241) ... ``

,,Demnach haben Menschen in verschiedenen Lebensformen Verständigungsprobleme; auch wenn sie äußerlich die gleiche Sprache sprechen``, sinnierte Sofie.

,,So ist es. Um die Rolle der Wörter im jeweiligen Sprachspiel ausfindig zu machen, muß man mitspielen! Denn die Frage: Was ist eigentlich ein Wort? ist analog der: Was ist eine Schachfigur? (108).

Am Tractatus hatte Wittgenstein zwischen 1912 und 1918 geschrieben. Die Arbeit an den Untersuchungen erstreckte sich von 1929 bis 1945. Nachdem er 1947 seine Professur in Cambridge aufgegeben hatte, zog er sich für eineinhalb Jahre in die Einsamkeit einer irischen Hütte zurück. Er starb am 29. April 1951 in Cambridge.`` Alberto machte eine Pause.

,,Ich habe Euch wesentliche Gedanken der Philosophie Wittgensteins vorgestellt. Wichtiger als das Verständnis fertiger Resultate sind aber eigene Gedanken. Als Anregung zum selbständigen Weiterdenken stelle ich Euch abschließend eine Frage: Ist eine Privatsprache mögilch? Bedenkt auch die philosophischen Konsequenzen Eurer Antwort, egal wie sie ausfällt. Ich werde mich weiter in die Schriften Wittgensteins vertiefen. Morgen können wir gemeinsam ins Dorf aufbrechen, um einzukaufen.``

,,Mit Privatsprache ist eine Sprache nur für mich allein gemeint?`` fragte Hilde.

,,So ist es. Kann es eine solche Sprache geben?`` ergänzte Alberto.

,,Laßt uns den Einkauf mit einer Bootsfahrt verbinden``, schlug Sofie vor.

,,Das müssen wir sogar``, sagte Alberto, ,,Skjolden ist von hier aus nur über's Wasser erreichbar.``

Alberto widmete sich den Schriften Wittgensteins. Die Mädchen wollten zum See. Sie fanden einen weniger steilen Abstieg. Freudig stürzten sie sich ins kühle Naß. In großem Bogen schwammen sie zum Boot. Erschöpft ließen sie sich hineinfallen. Der Wind trieb sie auf den See hinaus. Wolken segelten dahin. Ihre Schatten wanderten über's Wasser. Während die beiden ihre Körper trockneten, kamen ihnen die Gedanken des Vormittags in den Sinn.

,,Eine Privatsprache kann es nicht geben``, sagte Sofie bestimmt.

,,Ich bin mir nicht so sicher``, entgegnete Hilde.

,,Wenn wir sprechen lernen, bedürfen wir doch der ständigen Kontrolle. Der richtige Sprachgebrauch ist ein langwieriger Annäherungsprozeß zwischen Tat- und Sprachhandeln. Kein Wunder, daß isoliert aufwachsende Kinder überhaupt nicht sprechen lernen ... ``

,,Falls sie überleben``, ergänzte Hilde.

,,Allein lebende Menschen hätten andererseits gar keinen Grund zum Lernen einer Sprache. Reden ist eine soziale Tätigkeit. Die Sprache ist so komplex wie der Lebenszusammenhang, dem sie entstammt. In ihr zeigt sich die Lebensform.``

,,So habe ich Wittgenstein auch verstanden. Aber nehmen wir einmal an``, begann Hilde ihren Gedanken, ,,ich bliebe allein hier und versuchte, mir eine eigene Sprache auszudenken. Wie hätte ich vorzugehen?``

,,Das hinge von deiner Absicht ab. Auf jeden Fall käme dabei nur eine Kunstsprache heraus``, gab Sofie zu bedenken.

,,Einfache Kalküle lassen sich leicht erfinden``, fuhr Hilde fort, ,,aber schon die Mathematik wäre im Alleingang unmöglich. Beweise bedürfen der Überprüfung. Sprache beruht auf Übereinkunft. Aber welche Kontrollmöglichkeiten hätte ein Einzelwesen? Wie könnte es Irrtümer vermeiden?``

,,Denkbar wäre allenfalls eine gegenstandsbezogene Primitivsprache. Z.B. zur Beschreibung des Sternenhimmels oder der Jahreszeiten``, ergänzte Sofie.

,,Die mangelnde Überprüfbarkeit der Sprachgebrauchssituationen schließt also eine Privatsprache aus. Was folgt daraus?`` fragte Hilde.

,,Ohne Privatsprache keine Privatphilosophie!`` entfuhr es Sofie.

,,Damit sind alle reinen Bewußtseinstheorien widerlegt. Die Welt besteht nicht nur aus meinen Empfindungen und Gedanken. So wie Inhalt und Gebrauch sprachlicher Ausdrücke sind auch beschriebene Sachverhalte von den Sachverhalten des Beschreibens zu unterscheiden. Der Idealismus ist also zu verwerfen ... `` Verwundert hielt Hilde inne. ,,Welch weitreichende Konsequenzen die Sprachphilosophie hat!``

,,Laß uns zurückrudern. Morgen sprechen wir mit Alberto darüber``, schlug Sofie vor.

Unterdessen begannen sich hohe Wolkenberge aufzutürmen. Die Mädchen spürten die Ruhe vor dem Sturm. Es regte sich kaum ein Hauch. ,,Hoffentlich erreichen wir noch rechtzeitig das Ufer``, sagte Sofie besorgt. Dort hatten sie ihr Zeug zurückgelassen. Noch froren sie nicht. Aber das konnte sich ändern. Obwohl sie sich kräftig zu rudern mühten, kamen sie kaum voran. Im Gegenteil. Unerbittlich trieben sie dem Sogne-Fjord entgegen. Von plötzlicher Sturmbö gedrückt, schnellte ihr Boot nach vorn. Die Ruder waren dahin. Verängstigt legten sich die beiden flach auf den Boden und schmiegten sich aneinander. Der erste Blitz zuckte. Der Donner hallte vielfach von den Bergen wider. Das Boot wurde zum Spielball der Wellen. Sie schienen Karussell zu fahren. Der einsetzende Wolkenbruch löste alles in glänzendes Naß auf. Heftige Stöße erschütterten die Nußschale. Die Mädchen klammerten sich an die Sitzbretter. Regenstreifen und Wellenberge verschmolzen zu einer einzigen Wasserwand.

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Ingo Tessmann
Sun Aug 4 20:28:20 MESZ 1996