Bereits in der Einleitung wurde die Rolle des Sozialdarwinismus als ideologische Rechtfertigung des imperialistischen Expansionsdranges seit Mitte des 19. Jahrhunderts erwähnt. Inzwischen war Deutschland zweitgrößte Industriemacht, hinter den USA und noch vor Großbritannien und Frankreich geworden (46., S. 62), Japan und Rußland waren in den Kreis der Industrienationen eingetreten. Das war jedoch eher auf Krisenerscheinungen in den traditionellen Kolonialmächten England und Frankreich zurückzuführen als auf ungebremstes Wachstum im Deutschen Reich. Dieses erstrebte eine Neuaufteilung der kolonialen Rohstoff- und Absatzmärkte (z.B. Marokko Krisen).
Da die alten Kolonialmächte ihre Kolonien nicht freiwillig aufgeben würden, die Aufteilung Afrikas und Asiens jedoch weitgehend abgeschlossen war, konnte nur ein Krieg den deutschen Konzernen und Junkern die benötigten Gebiete bringen. Das war umso wichtiger, als im Innern die organisierte Arbeiterbewegung an Stärke gewann und die alten Herrschaftverhältnisse in Frage stellte.
Die massive Verbreitung militaristischer Ideologie durch Propagandaorganisationen (z.B. Alldeutscher Verband, Deutscher Flottenverein, Reichsverband gegen die Sozialdemokratie) sowie durch militaristische Jugendorganisationen und Kriegervereine verfehlte ihre Wirkung nicht: Schließlich stimmte sogar die Mehrheit der sozialdemokratischen Parlamentsfraktion der Gewährung von Kriegskrediten zu.
Wenn wir vom deutschen Militarismus dieser Zeit sprechen, meinen wir nicht mit Engels: ,,Die Armee ist Hauptzweck des Staates, ist Selbstzweck geworden, die Völker sind nur noch dazu da, die Soldaten zu liefern und zu ernähren'' (47., S. 158), gemeint ist vielmehr ,,die Erfüllung von Ideologie, Haltung und Tat der Gesellschaft mit dem Geist des Militärs'' (46., S. 313): ,,Die in den siebzieger Jahren des 19. Jahrhunderts begonnene systematische Durchtränkung aller Bereiche des öffentlichen Lebens mit militärischem Ungeist wurde in der imperialistischen Epoche mit Raffinement perfektioniert. Die militärische Ideologie herrschte uneingeschränkt im gesamten Staatsapparat, in den Parteien und Organisationen der herrschenden Klassen, im Bildungswesen von der Volksschule bis zu den Universitäten, in der Presse der Großbourgeoisie und des Junkertums und in deren Kunst und Literatur. Die Zahl der kritischen Stimmen aus dem Bürgertum gegenüber der militärischen Allmacht war klein. Auch die überwiegende Mehrheit der Repräsentanten beider Konfessionen in Deutschland ordnete sich in das militärische System willig ein'' (48., S. 282).
Wie weit dieser Ungeist die Intellektuellen Deutschlands, unter ihnen die Kollegen Einsteins, erfaßt hatte, wird aus dem Manifest an die Kulturwelt deutlich, das von 93 Wissenschaftlern, Schriftstellern, Künstlern u.a. unterzeichnet wurde, darunter Nernst, Ostwald, Planck, Haber, Röntgen, v. Laue. Jeder der sechs Abschnitte beginnt mit einem Es ist nicht war: ,,Es ist nicht wahr, daß Deutschland diesen Krieg verschuldet hat. ... Es ist nicht wahr, daß wir freventlich die Neutralität Belgiens verletzt haben. ... Es ist nicht wahr, daß unsere Kriegführung die Gesetze des Völkerrechts mißachtet. ... Es ist nicht wahr, daß der Kampf gegen unseren sogenannten Militarismus kein Kampf gegen unsere Kultur ist, wie unsere Feinde heuchlerisch vorgeben. Ohne den deutschen Militarismus wäre die deutsche Kultur längst vom Erdboden getilgt'' (mit eigenen Auslassungen zitiert nach 49.). Es soll nicht verschwiegen werden, daß Kollegen aus den alliierten Nationen dem nicht wesentlich nachstanden.
Die Ausnahmestellung Einsteins zu derartigen chauvinistischen Ergüssen wird nicht dadurch geschmälert, daß einige der Unterzeichner ihre Zustimmung telefonisch und ohne Kenntnis des genauen Wortlauts gaben, wie Herneck behauptet, und später wieder zurückgezogen haben. Denn innerhalb weniger Tage wurde ein Gegenmanifest Aufruf an die Europäer in Umlauf gebracht, das die Unterschriften von C.F. Nicolai, W. Förster (reumütiger Unterzeichner von An die Kulturwelt), des Studenten O. Buek und von Albert Einstein trug. Da sich keine weiteren Unterzeichner finden ließen, verzichteten die Autoren Nicolai und Einstein auf eine Veröffentlichung. In ihrem Appell forderten sie die Wissenschaftler Europas auf, sich mit ihrem ganzen Ansehen für die rasche Beendigung des Völkermordes einzusetzen und im Bewußtsein ihrer sittlichen Verantwortung dafür einzutreten, daß der Krieg als Mittel der Politik aus dem Leben der Nationen verbannt wird. Durch die stürmische Entwicklung der Technik und des Verkehrs seien die Völker näher zusammengerückt; daher sollten sie in Frieden nebeneinander leben und sich nicht gegenseitig aufreiben in barbarischen Kriegen, die für alle Beteiligten nur Unheil brächten (Zusammenfassung nach 6., S. 58).
Der Aufruf An die Europäer ist das erste politische Dokument, das von Einstein mit verfaßt und unterschrieben wurde. Es verdeutlicht, daß Einstein, der wie kein anderer im Bereich der Physik mit überkommenen Vorurteilen und Denkgewohnheiten aufgeräumt hat, auch in politischen Fragen gegen den Strom schwamm, sich nicht wie viele seiner Kollegen vom Strudel militaristischer und chauvinistischer Gefühle mitreißen ließ. Und es ist kein Wunder, daß Krieg und Militär Gegenstand seiner ersten politischen Äußerung sind; sie verachtet er mit mindestens ebenso großer Emotionalität, wie sie von anderen verherrlicht werden: ,,... komme ich auf die schlimmste Ausgeburt des Herdenwesens zu reden: auf das mir verhaßte Militär: Wenn einer mit Vergnügen in Reih und Glied zu einer Musik marschieren kann, dann verachte ich ihn schon; er hat sein großes Gehirn nur aus Irrtum bekommen, da für ihn das Rückenmark schon völlig genügen würde. Diesen Schandfleck der Zivilisation sollte man so schnell wie möglich zum Verschwinden bringen. Heldentum auf Kommando, sinnlose Gewalttat und leidige Vaterländerei, wie glühend hasse ich sie, wie gemein und verächtlich erscheint mir der Krieg; ich möchte mich lieber in Stücke schlagen lassen, als mich an einem so elenden Tun zu beteiligen! Ich denke immerhin so gut von der Menschheit, daß ich glaube, dieser Spuk wäre schon längst verschwunden, wenn der gesunde Sinn der Völker nicht von geschäftlichen und politischen Interessen durch Schule und Presse systematisch korrumpiert würde'' (8., S. 9). Daß Einstein kein Gefühl hätte, kann man wohl nicht behaupten (vgl. S. 4).
Aber seine pazifistische Haltung blieb nicht auf das Emotionale beschränkt (dann wäre sie kaum erwähnenswert), sie äußerte sich in Worten und Taten: Einstein war Mitbegründer vom ,,Bund Neues Vaterland``, der sich für einen baldigen, gerechten Frieden ohne Gebietsforderungen und für die Schaffung einer internationalen Organisation, die künftige Kriege verhindern sollte, eintrat. Im Jahre 1916 wurde der Bund von der Regierung verboten, bestand jedoch illegal weiter. Nach Kriegsschluß ging aus ihm die ,,Die Deutsche Liga für Menschenrechte`` hervor, die sich besonders für die Verständigung mit dem französischen Volk stark machte. Einstein gehörte der Liga bis zu ihrer Zerschlagung durch den deutschen Faschismus an und trat mehrfach auf Veranstaltungen als Redner auf.
Von 1922 bis 1932 war Einstein Vertreter Deutschlands bei der Kommission für geistige Zusammenarbeit (Vorläufer der UNESCO beim damaligen Völkerbund) und hatte daher häufig Gelegenheit, sich zu Fragen der Friedenssicherung, Völkerverständigung, Friedenserziehung und des Pazifismus zu äußern. Da die knappe, klare Ausdrucksweise, die seine wissenschaftlichen Arbeiten auszeichnet, auch in den politischen Äußerungen vorherrscht, überlassen wir ihm im folgenden das Wort: ,,Vor allem aber dürfen wir nicht zulassen, daß unsere Gedanken und Bemühungen von konstruktiver Arbeit abgehalten und für die Vorbereitung eines neuen Krieges mißbraucht werden. ... Ist es nicht besser, für eine Sache zu sterben, an die man glaubt, wie an den Frieden, als für eine Sache zu leiden, an die man nicht glaubt, wie an den Krieg? Jeder Krieg fügt ein weiteres Glied an die Kette des Übels, die den Fortschritt der Menschheit verhindert. ... Ich will lieber Frieden lehren als Haß, lieber Liebe als Krieg. Die Schulbücher müssen neu geschrieben werden. Statt uralte Konflikte und Vorurteile zu verewigen, soll ein neuer Geist unser Erziehungssystem erfüllen. Unsere Erziehung beginnt in der Wiege: Die Mütter der ganzen Welt haben die Verantwortung, ihre Kinder im Sinne der Friedenserhaltung zu erziehen'' (50., geschrieben ca. 1932).
Warum die Frage der Friedenserziehung für Einstein so zentrale Bedeutung besitzt, führt er im folgenden z.B. aus: ,,Das Ziel der Sicherung des internationalen Friedens ist von den wirklich bedeutenden Menschen früherer Generationen in seiner Wichtigkeit erkannt worden. Die Entwicklung der Technik in unserer Zeit aber macht dieses ethische Postulat zu einer Existenzfrage für die heutige zivilisierte Menschheit und die aktive Teilnahme an der Lösung des Friedensproblems zu einer Gewissenssache, der kein der moralischen Verantwortung bewußter Mensch ausweichen kann. Man muß sich klar machen, daß jene mächtigen Gruppen der Industrie, die an der Produktion der Waffen beteiligt sind, in allen Ländern einer friedlichen Regelung der internationalen Streitfragen entgegenwirken und daß die Regierenden nur dann jenes wichtige Ziel erreichen können, wenn sie der tatkräftigen Unterstützung der Majorität der Bevölkerung sicher sind. In unserer Zeit demokratischer Regierungsform ist das Schicksal der Völker von diesen selbst abhängig; dessen muß sich der einzelne stets eingedenk sein'' (8., S. 46; der Zeitpunkt dieser Äußerung ist nicht genau zu ermitteln).
Aber auch Einsteins Vertrauen in die Regierenden war nicht ungetrübt: ,,... Die Entwicklung der letzten Jahre hat wieder gezeigt, wie wenig wir dazu berechtigt sind, den Kampf gegen die Rüstung und gegen den kriegerischen Geist den Regierenden zu überlassen'' (8., S. 47). ,,... Nach meiner Überzeugung kann eine Rettung nur aus dem Schoß der Völker selbst kommen. Sie müssen sich, wenn sie die unwürdige Sklaverei des Kriegsdienstes vermeiden wollen, entschlossen für die vollständige Abrüstung einsetzen. Denn solange es Heere gibt, wird jeder ernstere Konflikt auch zum Krieg führen. Ein Pazifismus, der die Rüstungen der Staaten nicht aktiv bekämpft, ist und bleibt ohnmächtig'' (8., S. 55; um 1932).
All diese Zitate stammen aus der Zeit zwischen 1918 und 1933 und sind in ihrem historischen Kontext zu sehen. Sind sie deshalb weniger aktuell? Werden nicht immer noch Waffen für den möglichen Einsatz im Konfliktfall produziert und verkauft? Kann man die Friedenssicherung heute den Regierenden überlassen? In Anbetracht der Gleichgültigkeit, mit der viele Bundesbürger beispielsweise dem Krefelder Appell begegneten, könnte Einstein das folgende Zitat aus dem Jahre 1928 auch gegenwärtig geschrieben haben: ,,Die politische Apathie der Völker in Friedenszeiten weist darauf hin, daß sie sich später bereitwillig zum Hinschlachten führen lassen werden, weil ihnen heutzutage sogar der Mut fehlt, ihre Unterschrift zur Unterstützung der Abrüstung zu geben, werden sie morgen gezwungen sein, ihr Blut zu vergießen'' (51.).
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Ingo Tessmann