Gegen Mittag saß Suzanne auf dem Rücksitz eines Cabrios, das gemächlich dem Great Highway folgte. Der Nebel hatte sich gelichtet und gab den Blick frei auf die glitzernde Weite des Pazifiks. Sie lehnte sich zurück und schloß die Augen. Wie schön doch das Leben war, wenn man es zu genießen wußte! Jauchzend streckte sie die Arme zur Seite. Im Bay Radio sendeten sie Oldies ... California Dreaming ... Wie viele Gelegenheiten es gab, wenn man sich ihnen öffnete; sich den Realitäten stellte und nicht nur einem Ideal nachhing! Wieder hatte sie sich einer Stimmung folgend vorzeitig auf den Weg gemacht, obwohl sie eigentlich noch am letzten Tagungstag mit Lee über das kosmische Selektionsprinzip sprechen wollte ...
Auf zu neuen Ufern! Nebelfetzen filterten wohltuend das heiße Sonnenlicht. Der frische Meereshauch duftete nach Seetank und fernen Ländern. Sie zog die Jacke ihres schicken Kostüms aus und platzierte ihre aus dem Minirock ragenden Beine bis zwischen die Vordersitze. Die freiliegende Haut schützte Sonnencreme. Max, der Fahrer, kam aus der Schweiz. Mit seinem Cowboy-Hut wirkte er wie ein Amerikaner. Scherzend kitzelte er sie unter den Füßen. Seine Beifahrerin war Finnin und hieß Sonja. Sie hatte ebenso helle Haut wie Suzanne, lange wellig-blonde Haare und ein rundlich-volles Gesicht, das sehr sinnlich wirkte. Sie trug nur ein kleines T-Shirt und Shorts, über denen ihr Bauchnabel frei lag. Die beiden hatten sich an der ETH kennen gelernt wie einst Mileva und Albert . Was gab es schöneres als Körper und Geist zu teilen, dachte Suzanne vergnügt. Sonja hatte ihren Arm auf Maxens Schulter gelegt und krauelte sanft seinen Nacken.
,,Wie hattet ihr eigentlich von Utopia erfahren?`` gab Suzanne ihrer Neugier nach.
,,Während eines Studienaufenthalts am Caltech``, antwortete Sonja und drehte sich nach
hinten um, indem sie ihr Kinn neben die Nackenstütze auf die Lehne legte.
,,Es ist eine rationale Fortsetzung der Kommune-Bewegung``, ergänzte Max, ,,und gilt
unter Eingeweihten als der Versuch, Wissenschaft zur Lebensform auszugestalten.``
,,Das klang für uns so ungewöhnlich, daß wir uns umgehend um ein Stipendium bemühten.
Für drei Jahre konnten wir an der Realisierung von Quantencomputern mitarbeiten, und zwar im
Rahmen eines Projektes, das der Semantik des genetischen Codes gilt. Die Entschlüsselung seiner
Syntax hat ja eigentlich nicht viel gebracht. Entscheident bleibt es, herauszufingen, welches Gen
wie welche Eiweiße codiert und vor allem in welcher Weise die Genaktivitäten koordiniert werden.
Letztlich geht es also um die Simulation des gesamten Zellstoffwechsels, einschließlich seiner
Integration in das Gewebe bzw. den Organismus.``
,,Leider haben wir nur noch ein halbes Jahr, um die Arbeit zum Abschluß zu bringen``,
fügte Max bekümmert hinzu.
,,An das Leben dort kann man sich richtig gewöhnen``, nahm Sonja den Gedanken wieder auf.
,,Als Forscherin wirst du es bereits als verwirklichte Utopie erleben. Das hätten wir nie für
möglich gehalten, wie weit der gemeinsame Sinn für Schönheit und Wahrheit im Ausgleich mit der
Vernunft gedeien kann.``
,,Es handelt sich um ein ganzes Gemeinwesen, nicht nur um eine Wissenschaftler-Kolonie?``
staunte Suzanne.
,,Das innere Areal umfaßt etwa zehn Quadratkilometer. Momentan leben dort ca. 500 Utopisten zusammen``, schätzte Max. ,,Darum herum gruppieren sich die Gästehäuser und Zulieferer-Betriebe. Natürlich nur in Öko-Häusern mit nachhaltiger Technik . Notfalls wären wir völlig autark``, geriet er ins Schwärmen. ,,Stell dir nur mal vor, wir haben überhaupt keine Gesetze nötig, ganz zu schweigen von einer Gerichtsbarkeit oder Polizei. Lediglich drei Regeln haben wir zu befolgen, sozusagen als Ersatz für die Menschenrechte. Sie lauten sinngemäß:
,,Unglaublich, aber wahr``, erwiderte Sonja lächelnd. ,,Ich hatte das anfänglich auch
nicht für möglich gehalten. Es liegt aber wohl vor allem an der Auswahl und der Abschirmung. Wer
aufgenommen werden will, muß eine passende Biographie haben. Und Störenfriede scheitern an der
Zugangskontrolle, die über Körpermerkmale erfolgt. Im Prinzip ist es ähnlich wie bei den
amerikanischen Elite-Unis. Von dort kommen auch die meisten Utopisten. Gäste, wie wir, leben
außerhalb der eigentlichen Kolonie und können nur zusammen mit einem Kolonisten ein- und
ausgehen.
,,Einen Wachdienst gibt es nicht?`` forschte Suzanne weiter.
,,Das erledigt alles die Sicherheits-Elektronik``, merkte Max beruhigend an.
Suzanne blieb skeptisch. ,,Ein wenig klingt das allerdings nach Orwells 1984 und dem großen
Bruder ... ``
,,Mit dem Unterschied, daß in Utopia allen Kolonisten alles verfügbar ist. D.h. jeder Utopist
kann jederzeit alle Überwachungsdaten einsehen``, beschwichtigte Max. ,,Zugleich ist die
Privatssphäre gesichert, da jeder seine Daten bei Bedarf quantenkryptologisch verschlüsseln kann.
Die Quantencomputer der Kolonie sind bereits teleportativ vernetzt!``
,,Und wer legt die Modalitäten fest? Es gibt sicher eine Selbstverwaltung, oder?``
,,Natürlich``, meldete Sonja sich wieder zu Wort. ,,Bei aller Rationalität bleiben
genügend Interessenkonflikte und Verhältnismäßigkeiten auszutarieren, zumal auch bei uns
Naturressourcen und Geldmittel begrenzt sind.``
,,Andererseits sind Kunst und Wissenschaft ihrem Wesen nach keine demokratischen
Angelegenheiten``, ergänzte Max bestimmt.
,,Was sind sie denn ihrem Wesen nach?`` fragte Suzanne betont.
,,Jedenfalls folgen sie nicht dem Volkswillen``, antwortete Sonja, ,,sondern dem
Schönheitssinn und der Wahrheitsliebe.``
Suzanne mußte lächeln ob der erfrischenden Naivität der beiden. Max bemerkte es im Rückspiegel.
Während er liebevoll zur Seite Sonjas schaute, ging er auf Suzanne ein: ,,Du magst es für
naiv halten, aber Kunst und Wissenschaft leben von den außergewöhnlichen Menschen, die innerlich
frei und kreativ ihren Ideen und Visionen Gestalt zu geben versuchen. Denk nur mal an die geniale
Produktivität Mozarts
,
Goethes
oder
Einsteins
.``
Max hatte Suzanne nur kurz in den Blick genommen; denn es galt rechts in den Highway 35 abzubiegen. Er
hatte ausdrücklich und mit Recht von innerer Freiheit gesprochen. Die äußere Freiheit war eher den
Kleingeistern wichtig, die ständig unterwegs sein mußten, um ihrer endlosen inneren Leere zu entfliehen.
Großen Geistern genügte im Prinzip eine behagliche Kammer, um komponieren, dichten oder forschen
zu können. Brauchten die Kleingeister äußere Ereignisse, die sie von ihrer Langenweile ablenkten
oder Mitmenschen, die sie unterhielten, folgten die großen Geister ihrer reichhaltigen Intuition.
Es trieb sie um in den Klangwelten der Melodien und Harmonien, sie erschlossen sich mit ihrem Gespür
für Rhythmus und Sprache neue Ausdrucksweisen und durch Einfühlung in das Wirken der Natur vermochten
sie die Weite des Universum mit wenigen Formeln zu erfassen: ,,Don Giovanni, Faust und die
Relativitätstheorie``, beendete Suzanne hörbar ihren Gedanken.
,,Nur wer alle drei Werke gleichermaßen schätzt, genügt den Ansprüchen der Utopisten``,
hörte Suzanne Sonja anmerken und erinnerte die grandiosen
Faust-Inszenierungen
Peter Steins in Berlin und Wien.
,,Und wie haltet ihr es mit der Religion?`` fragte sie nicht ohne Ironie.
,,Religiöse Dogmen oder Glaubensbekenntnisse sind wohl schwerlich mit der Wahrheitsliebe
vereinbar``, erwiderte Max ernsthaft. ,,Andererseits bedürfen wir in unserer Gelehrtenrepublik
keiner Religion. Die hat sich schlicht überlebt. Das aufgeklärte Volk bedarf keines Opiums.``
Wie um Maxens Rede zu bekräftigen, begann im Radio
Imagine
zu erklingen. Sonja
drehte lauter und alle sangen mit ... Während Max in die No. 1 einbog, überkam Suzanne ein
überwältigendes Glücksgefühl. Mit ihm verstärkte sich ihr Zweifel, vielleicht gar nicht mehr
in der Wirklichkeit zu weilen, sondern bereits in die Vorstellungswelt der Utopisten eingetaucht zu sein.
Führte der Highway nicht geradewegs in die virtuelle Realität einer postsakralen Entwicklungsstufe
der Menschen? Suzannes Vorfreude wuchs mit jeder Meile. Sie nahm die Beine zurück, setzte sich vor
und schloß die beiden in ihre Arme. Obwohl sie Max und Sonja erst seit gestern kannte, hatte Suzanne
den Eindruck, schon immer mit ihnen bekannt gewesen zu sein. Worin gründete diese Vertrautheit?
Schien in ihr etwas vom allgemein Menschlichen durch, sich gemeinsam auf den Weg der Vervollkommnung
begeben zu haben? Sie lehnte sich wieder zurück und schloß die Augen. Erstrebe das soziale Optimum
zwischen dem Erhalt der natürlichen Lebensbedingungen und der Ausgestaltung deiner Lebensmöglichkeiten,
hallte es in ihr wider. Zwischen Künstlern und Wissenschaftlern blieben selbstredend genügend
Unstimmigkeiten bei dem Bemühen, den subjektiven Erlebnisreichtum mit den objektiven Sachverhalten
in Einklang bringen zu wollen. Suzanne war gespannt auf die produktiven Auseinandersetzungen, die sie
erwarteten. Sie sah sich um. In dem Cabrio waren Ästhetik und Technik bereits vollendet aufeinander
abgestimmt. Das verhaltene Summen des Elektromotors war vollends im Windrauschen untergegangen.
,,Woher bekommt ihr eigentlich den Wasserstoff für die Brennstoffzelle des Wagens?``
,,Aus der Elektrolyse von Wasser mit Solarstrom. Anlagen dafür gibt es überall in Kalifornien;
ebenso verbreitet sind bereits Wasserstoff-Tankstellen``, erläuterte Sonja. ,,In Utopia gibt es
aber etwas ganz besonderes.`` Sie machte eine bedeutungsschwere Pause. ,,Dort wird der Strom
nämlich aus Sonnenlicht mit Farbstoffen erzeugt, ganz so wie es uns die grünen Pflanzen mit ihrer
Photosynthese vormachen.``
Suzanne war beeindruckt. Daran waren schon mehrere Forschergenerationen gescheitert. Utopia erschien
ihr mehr und mehr wie unseren Vorfahren das Paradies.
,,Der Durchschnittsamerikaner benötigt für seinen Lebensstandard 11 kW, der Europäer immerhin
noch 5,5 kW. Die Kolonisten kommen trotz aller Forschungseinrichtungen und paradiesischen Annehmlichkeiten
mit knapp 1 kW aus``, ergänzte Max.
Während Suzanne von den paradiesischen Annehmlichkeiten träumte, ließen sie Pacifica hinter sich und
strebten wieder der Küste zu. Sie stellte sich Utopia wie ein Öko-Dorf vor, mit harmonisch in die
Landschaft integrierten Häusern und Wegen. Und basiert wurde das Refugium von einem Quantencomputer,
der via Teleportation einen kolonieweiten verschränkten Quantenzustand herstellte, in dem alles instantan
mit allem vernetzt war. Langsam ging ihr auf, was Max anfänglich eher beiläufig erwähnt hatte. Eine
Quantenverschränkung war extrem künstlich und störanfällig. Bisher jedenfalls. Waren die Utopisten dem
Geheimnis des Lichtes näher gekommen? Wer technologisch so weit fortgeschritten war, mußte sich vor den
Übergriffen und Anfeindungen der Neider und Konkurrenten schützen. Daß so etwas überhaupt möglich war!
Alle Geheimsdienste der Welt mußten doch ein unbändiges Interesse daran haben, in Utopia zu spionieren.
Oder war eine auf Quantencomputern basierende Konterintelligenz nicht mehr überwindbar? Das mußte ein
gefundenes Fressen für die Internationale der Cyberpunks sein! Oder gab es unter den eingeweihten
Avantgardisten ein stillschweigendes Einverständnis? Dann blieben aber zumindest noch die Faschisten
und Religionsverrückten, die eine vormoderne Staatsreligion oder einen mittelalterlichen Gottesstaat
ins Werk zu bomben trachteten ...
... the continent of Atlantis was an island which lay before the great flood ...
... hob Donovan mit zarter Stimme an. Suzanne gab sich dem Lied hin und ihr wurde schmerzlich die
Vergänglichkeit menschlicher Kultur bewußt. Atlantis versank vor langer Zeit im Ozean. Utopia konnte
beim nächsten Beben in einer Erdspalte untergehen. Hatten die Utopisten sogar gegen Naturkatastrophen
vorgesorgt? Wahrscheinlich arbeiteten sie bereits an der Möglichkeit zur Teleportation des Bewußtseins ...
... It's all in your mind ...
sangen die Stray unterdessen. Suzanne schaute auf und gewahrte wie Max und Sonja sich vielsagend zuzwinkerten.
Wer modulierte hier wessen Stimmung? Hatten sich ihre Hirne schon einverständig verschränkt? Verzückt
überließ sich unsere Schöne dem Zauber des Weges ... Der fraktalen Küstenlinie folgend ging es höher
und höher hinauf. Hinein in das flirrende Licht der Sonne, den frischen Duft des glitzernden Meeres, entlang
der offenen Weite des Horizonts. Schroffe Abgründe wechselten mit dicht bewachsenen Berghängen. Als sie
die Regenbogenbrücke über die Bixby-Schlucht passierten, wurde die Gegend vollends zur
Märchenlandschaft.
Am späten Nachmittag kehrten die drei im Nepenthe-Restaurant ein und genossen auf der Terrasse den Meerblick. Schon vor über 2000 Jahren tanzten hier die Indianer wie am Rande der Welt. Und Stevenson bemerkte über Big Sur : Die schönste Begegnung von Land und See auf der Erde. Suzannes Blick wurde von einem gemächlich dahingleitenden Albertros eingefangen. Diese Riesenvögel versammeln sich alljährlich auf einer der winzigen Midway-Inseln . Auch sie treffen sich zum Tanz. Inmitten eines Meeres, das einen Großteil der gesamten Erdoberfläche bedeckt. Suzanne mußte wieder an Amelia denken. Hätte sie doch das Gespür eines Albertrosses gehabt; sie wäre mit ihrer Flugmaschine nicht im Pazifik versunken. Zur rechten Zeit hätte sie nur den Sturmvögeln zu folgen brauchen. Der Albertros verschwamm in dem Nebel, den die Sonne aus dem Meer zog. Suzanne feuchtete der melancholische Zauber ihrer Stimmung die Augen. In seltsamer Eintracht hoben sie die Gläser und stießen an: ,,Auf die Naturschönheit!`` Dem Genuß des Rotweins folgte ein Moment der Stille. ,,Mich macht ein Blick in die endlose Weite auch immer nachdenklich``, begann Sonja. ,,Schon als Kind nutzte ich jede Gelegenheit, um an den Strand zu laufen und mich in das ewige Anbranden und Rückfließen der Wellen zu versenken. Einmal wäre ich fast untergegangen, da ich wie magisch angezogen fasziniert dem Sog des Meeres nachgab. Als mich ein Erwachsener entsetzt hoch hob und an sich riß, war mir, als ob ich am Morgen unsanft aus einem Traum geschreckt wurde. Ich verstand die ganze Aufregung nicht.``
,,Allein geblieben, wäre es dir wie der Fischer ergangen``, hob Max lächelnd an und zitierte aus der bekannten Ballade:
,,Auf den Traum vom feuchten Weibe``, schloß Max seinen poetischen Ausflug
und nahm die Damen erotisch für sich ein. Sie stießen erneut an und ließen sich
das wohlschmeckende Rot der gegorenen Trauben munden. Lustvoll küßten sie sich
ihre Wein benetzten Münder ab.
Gegen Abend machten sie sich auf den Weg. Das Cabrio stellten sie bei Holly im
Nepenthe unter. Es gehörte zum Fuhrpark Utopias. Die paar Sachen, die Suzanne
wichtig waren, fanden in Maxens Rucksack Platz. Im Gänsemarsch folgten sie
einem schmalen, aber gut begehbaren Pfad durch die hochaufragenden Redwoods.
Suzanne atmete tief den erdig-holzigen und blütrig-blättrigen Duft des Waldes,
der hier schon seit Jahrtausenden wuchs. Fasziniert betrachtete sie die Lichtorgel
der Baumkronen. Die Stämme warfen bereits weite Schatten. Als sie sich der nur
noch flach bewachsenen Bergkuppe näherten, hatte die Erde den Horizont schon
nahe an die Sonne heran gehoben. Sie setzten sich am Wegrand ins Gras und verfolgten
schweigend wie sich der Meeresspiegel über das Sonnenfeuer schob. Obwohl es ziemlich
kühl wurde, blieben sie noch eine Weile sitzen, rückten aber instinktiv eng zusammen.
Zurücksinkend ließen sie die Pracht des aufscheinenden Sternenhimmels auf sich wirken.
Wie viele Menschen mochten dem Zauber des nächtlichen Firmaments nicht schon erlegen
sein? Diese umfassende Ruhe und Tiefe des Universums hüllte sie ein mit dem funkelnden
Schleier der Nacht. Durch ihn hindurch schimmerte das diffus-weiße Band der Milchstraße.
Warum konnten sich nicht alle Menschen als Kinder des Weltalls verstehen, wie
Hoimar v. Ditfurth es einmal ausgedrückt hatte? Suzanne erinnerte Abendspaziergänge
auf dem Lande an der Hand ihrer Oma. Schon damals hatte sie beim Hinaufschauen in das
tausendfache Leuchten und Funkeln ein Gefühl grenzenloser Geborgenheit erlebt. Viel mehr
als die Sternbilder, die ihre Oma meinte benennen zu müssen, interessierte sie sich
dafür, warum die Sterne überhaupt leuchteten und was sie auf ihre Bahnen zwang. Leider
begnügen sich die meisten Menschen damit, die Dinge und Vorgänge um sie herum bloß
zu benennen. Als ob mit den Namen irgend ein Verständnis einherginge. Suzanne lächelte
in sich hinein. Das magische Weltbild der Naturreligionen erwuchs der Kinderfreude beim
Lernen neuer Worte. Wie grobschlächtig bloße Namen im Vergleich mit dem Strukturreichtum
physikalischer Theorien waren ... Die Sehnsucht der Menschen nach dem Einen, dem Einfachen;
ihre Angst vor dem Vielen, dem Komplizierten. Die den Sinnesfunktionen nachgebildete
intellektuelle Konstrastverschärfung mußte wohl ein evolutionärer Vorteil unter den
Bedingungen der Menschwerdung gewesen sein. Denn in Gefahr und größter Not bringt
der Mittelweg den Tod. Schnelles Reagieren läßt kein beschauliches Reflektieren zu.
Im Zuge der sozialen Evolution werden sich die Verhältnisse umkehren. Erfolgreich werden
diejenigen sein, die gleich dem Genie das Chaos überblickend verstehen: Ob aus dem
Zusammenspiel der vielen Milliarden Sterne in der Milchstraße ein Bewußtsein entspringt
so wie es unser Gehirn aus seinen mehreren zehn Milliarden Nervenzellen hervorbringt?
Und müßte es nicht bereits auf dem zellulären Niveau bezüglich der Vielzahl von
Biomolekülen ähnlich sein? Sind Menschen wirklich etwas so besonderes? Angesichts
des Sternenhimmels konnte einem schon wunderlich werden ...
Max kramte eine kleine Taschenlampe hervor und wies den Weg. Einverständig brachen sie
auf. Für Suzanne schien der Eingang zum Dormitory wie aus dem Nichts zu kommen. Die
Appartements des Wohnheims schmiegten sich terrassenartig an eine bewachsene Anhöhe.
Allein wäre Suzanne wahrscheinlich einfach an ihnen vorbei gelaufen. Als sie eintraten,
befanden sie sich erneut unter dem Sternenhimmel. Max hatte kein Licht gemacht, so daß
die raffinierten Oberlichter den Wohnraum in ein berauschendes Himmelspanorama tauchten.
Suzanne war begeistert. Staunend ließ sie sich auf der Couch nieder und schaute fasziniert
umher. Nahezu unmerklich überlagerte die sanft-diffuse Innenbeleuchtung das Sternenlicht.
,,Da kannst du gleich liegen bleiben``, sagte Max und betätigte den Mechanismus
der Schlafcouch.
Suzanne erwachte in einem Lichtmeer. Gedämpft goldenes Sonnenlicht erfüllte den Raum. Sie reckte sich behaglich und sah sich um. Neben ihr stand ein kleiner Rolltisch mit dem Frühstück und einem Zettel: ,,Wir sind gegen Abend wieder da. Schau dir ruhig die Gegend an. Das Haus wird dich wiedererkennen wie der Hund sein Frauchen; Max.`` Hoffentlich werde ich es auch wiedererkennen, dachte sie schmunzelnd und nahm einen Schluck vom roten Traubensaft. Dieses Haus war womöglich ähnlich intelligent wie Werners Superauto. Während des Frühstücks schaute sie forschend umher. Abgesehen von herumliegenden Utensilien der beiden Studierenden war das Appartement zugleich stilvoll und funktional eingerichtet. Behutsam tauchte sie in ihre neue Umgebung ein. Der Raum wurde merklich heller und überschaubarer. Ihre Augen hatten Zeit, sich an das grelle Tageslicht zu gewöhnen. Sie sah zum Oberlicht hinauf. Das war so schmutzabweisend wie ein Lotusblatt. Und nicht nur das! Offensichtlich hatte es ihr Erwachen bemerkt. Nach und nach ließ es das volle Außenlicht herein. Was für atmosphärische Stimmungen der Raum wohl einnehmen konnte? Über menschengerechte Architektur hatte sie bisher nur gelesen. Hier war sie bereits verwirklicht. Nach dem Genuß saftiger Orangen, Weinbeeren und Müsli mit Milch, ging sie ins Bad und setzte sich zum Pinkeln. Warmes Licht leuchtete den Raum aus, der hell gekachelt war, aber dennoch nicht kalt oder steril wirkte. Ob sich die Häuser hier den Gewohnheiten ihrer Bewohner anpaßten? Ein ständiger Kreislauf aus Erwartung und Erfahrung wie in der Evolution? Mit neuronalen Netzen war das kein Problem mehr.
Zurück im Wohnraum bemerkte sie verblüfft, daß sich die Schlafcouch wieder in die
Sitzgelegenheit verwandelt hatte. Noch mehr verwunderte sie aber, daß der Rolltisch in der
Küche stand. Wie schön, mitdenkende Möbel zu haben! Nackt stand sie wieder im Wohnzimmer
und spähte nach ihren Sachen. Ihre Kleidung lag noch dort, wo sie sie gestern abgelegt hatte.
Bluse, Minirock und Jacke befanden sich auf dem Hocker neben der Couch, ihre Schuhe in der
Nähe auf dem Boden. Sie liebte es, nackt herumzulaufen und den zarten Lufthauch am ganzen
Körper zu spüren, auch an den sensibelsten Stellen. Neugierig betrat sie den Schlafraum
der beiden und ihr Arbeitszimmer. Alle Räume waren im gleichen Stil eingerichtet, strahlten
aber eine je verschiedene Atmosphäre aus. Im Arbeitsraum dominierte die schlichte Sachlichkeit.
Die Wände waren bedeckt mit Büchern, auf dem Boden stapelten sich
Preprints
. In der Mitte des Raumes unter dem
Oberlicht stand ein rundes Stehpult, in dem zwei Computer eingelassen waren. Als sich
Suzanne dem Pult näherte, aktivierte sich ein Rechner und forderte sie zum Einloggen im
Gastmodus auf. Das Oberlicht erhellte die Tastatur, ohne den Bildschirm zu blenden. Suzanne
schaltete sich ins Internet und rief ihre Mailbox ab. Mails von ihrer Tochter und ihrem
erotisch-intellektuellen Freund waren eingegangen; ihr ehemaliger Chef reagierte mit Unverständnis
auf die Kündigung und einige Fachaufsätze von Tagungsteilnehmern sowie Beiträge aus Diskussionsgruppen
harrten der Bearbeitung. Dazu fehlte ihr allerdings die Muße. So schickte sie rasch ein paar Grüße
an Marianne und Paul, ging zurück ins Wohnzimmer, strich sich Minirock und Seidenbluse über,
schlüpfte in ihre Schuhe und näherte sich der Außentür. Die öffnete sich selbsttätig,
ließ sie passieren und schloß sich sanft hinter ihr.
Die Appartements waren in einem locker bewachsenen Hang eingelassen worden, der noch fast
natürlich wirkte. Von unten nicht zu sehen waren die umpflanzten Oberlichter. Und nur wenn man
dicht davor stand, waren die Rundungen der Schiebetüren als Eingänge auszumachen. Wie die
Leute wohl den Hang hinaufkommen, um in die höher gelegenen Wohnungen zu gelangen? Suzanne ging
ein wenig suchend umher und hielt nach weiteren Wegen Ausschau. Es gab aber nur den einen, der vom Rand
der Anlage zur Küstenstraße hinunter führte. Beim genauen Hinsehen jedoch, enttarnte sie einige
Hauseingänge als Gartentüren, hinter denen sich schmale Wege nach oben verbargen. Im Vetrauen
auf Maxens Worte wandte sie sich um und ging hinab. Immer wieder hielt sie inne und ließ ihren
Blick über die Weite des Pazifiks schweifen. Sein fernes Rauschen war mehr zu ahnen als zu hören, zog
sie aber wie magisch an und wies ihr den Weg an den Strand. Der war zwischen zerklüfteten Hängen,
hochaufragenden Felsen und riesigen Steinen verborgen und verteilte sich über vielerlei Oasen
weißen Sandes, die zugleich Schatten, Sonne und Meereszugang boten. Hier konnte man sich noch
die Freizügigkeiten und das ungezwungene Miteinander der Hippies bewahren. In einer Felsnische
gesellte sie sich zu einer Fünfergruppe aus drei Frauen und zwei Männern. Rasch entledigte sie sich
ihres schicken Outfits. Aufsteigede Nebelfahnen filterten wohltuend den grellen Sonnenschein. Die
Hippies hatten nur kurz aufgeschaut und ihr Hi mit einem gleichmütigen Nicken quittiert. Alle fünf
waren noch recht jung, wohl so zwischen 17 und 19. Eine der Frauen schien zu schlafen, die zwei anderen
lasen auf dem Bauch liegend gemeinsam in einem Buch. Die Männer lagen mit angewinkelten Beinen
und vorgebeugten Oberkörpern kreisförmig einander zugewandt und unterhielten sich leise.
Suzanne setzte sich im Halbschatten
eines großen, erodierten Steines in den Sand und stützte sich hinterrücks auf ihre Hände. Sie
legte den Kopf in den Nacken und schloß die Augen. Tief sog sie die Meeresfrische in sich hinein.
Als sie übers Wasser blinzelte, näherten sich die Jünglinge gerade langsam der Brandung. Mit Behagen heftete sie ihren Blick abwechselnd auf die strammen Rundungen der Hinterbacken. Ein zierlicher, höchst anmutiger Po schwankte im Rhythmus der Beine neben einem eher breiten und etwas plump wogenden Gesäß, über dem aber noch breitere Schultern thronten. Als die beiden knietief im Wasser standen, spritzten sie sich naß und sprangen übermütig kopfüber in die nächste Welle. Suzanne fühlte sich beobachtet und schaute in die hellblauen Augen der vermeintlich Schlafenden. Lächelnd erwiderte diese ihren Blick. Offensichtlich hatte sie auch den beiden Männerärschen nachgeschaut. Sie schien im Begriff, den Schwimmenden folgen zu wollen, zögerte aber noch. Ihr langes blondes Haar fiel wellig über Schultern und Brüste. Plötzlich sprang sie auf, lief behend dem Wasser entgegen und verschwand ebenfalls in einer Welle. Die beiden Lesenden ließen sich nicht stören. Auf ihre Ellenbögen gestützt, streckten sie ihre süßen Pos dem Himmel entgegen und ließen ihre Zitzen gerade über dem Sand schweben. Schmunzelnd sank Suzanne zurück und schloß die Augen.
Herumliegende Gitarre, bunte Decken, Taschen und Umhänge sowie vor allem die Stirnbänder um das
lange Haar und nicht zu vergessen die Friedensanhänger: schon hatte man Hippies vor sich, wenn
man nach den Äußerlichkeiten ging. Für was die jungen Leute sie wohl gehalten hatten? In deren
Augen war sie bestimmt als Managerin klassifiziert worden. Vielleicht auch als Hollywood-Schwalbe,
wer weiß? Suzanne wandte leicht den Kopf zur Seite und blinzelte zu den Lesenden hinüber. In was
die wohl so interessiert ihre kleinen Nasen steckten? Bestimmt in Hesses Steppenwolf! Suzanne genoß
lächelnd das anmutige Bild der beiden Hippiemädchen. Heute konnten sie sich wenigstens frei bewegen.
Vor 30 Jahren wurden langhaarige Männer von den Spießern nicht nur als Gammler beschimpft, sondern
sogar dafür umgebracht, daß sie den Kleinbürgern ihre verdrängte Freiheitssehnsucht vorlebten.
Wenigstens das hatte sich geändert. Mit dem weltweiten Wiedererwachen der Religionen waren die
Kleinbürger, Untertanen und Faschisten allerdings wieder auf dem Vormarsch. Welch eine Ironie
der Geschichte. Mit dem Zerfall der Sowjetmacht drohte vielen Regionen der Rückfall ins Mittelalter.
Religiöse Fundamentalisten erstickten mit Gewalt und Terror allerorten den aufkeimenden Traum vom
Reich der Freiheit. Kaum ein islamischer Obrigkeitsstaat, in dem nicht Terrrocamps zur Ausbildung
von Gotteskriegern unterhalten wurden. Die Religionsbereitschaft der Menschen deutete darauf hin,
daß irgend etwas schief gelaufen sein mußte in der sozialen Evolution. Dabei war doch die Religion
bloß noch der Appendix am Blinddarm der Zivilisation. Wie müssen die Selektionsbedingungen ausgesehen
haben, wenn sich ein derartiger Schwachsinn durchsetzen konnte? Araber, die sich immer wieder zu
Räuberbanden zusammenrotteten, um Karawanen zu plündern, erhoben sich erneut zum auserwählten Volk
wie schon gut 1500 Jahre zuvor die Semiten als sie mit den Pharisäern in Kanaan einfielen, wo sie sich
bis heute bekriegen ...
Kühle Reize auf die Haut treffender Wassertropfen unterbrachen Suzannes empörende Gedankengänge.
Die Junghippies schüttelten ihre Mähnen wie die Hunde ihr Fell. Der Schreck galt den süßen Leseratten,
die jauchzend aufsprangen und sich mit dem Ausruf, ,,na wartet, das sollt ihr büßen!`` auf
die kecken Typen stürzten. Die breiteten die Arme aus und versuchten lachend dem Ansturm standzuhalten.
Kichernd und johlend balgten die vier aber schon im aufwirbelnden Sand. Erheitert verfolgte Suzanne
das fröhliche Spiel der Geschlechter. Als die Jungs sich gerade aus den Umklammerungen der Kletten
befreit hatten und von den schreienden Mädels verfolgt davon liefen, stand Suzanne kurz auf und griff
sich das Buch der beiden. Wie selbstverständlich setzte sie sich wieder an ihren Stein gelehnt in den
Schatten zurück. Unsere Neugierige war nicht minder verblüfft als sie das aufgeschlagene Buch herumdrehte
und sah, daß die beiden Süßen im Zauberberg lasen. Thomas Mann hatte diese Wiederholung der Buddenbrooks
auf anderer Lebensstufe einmal als episch gebundene Ideenkomposition bezeichnet. Schwer beeindruckt
schaute Suzanne auf und gewahrte das herannahende weibliche Dreieck der Nachzüglerin. Ihre festen
Mädchenbrüste wippten anmutig im Takt ihrer langsamen Schritte. Das lange blonde Haar klebte vom Wasser
verdunkelt und strähnig an Kopf und Oberkörper. Die gleichfarbigen Schamhaare kreuselten sich in vielen
kleinen Korkenziehern der Strömungsform des verlassenen Wassers folgend, das ihr in verästelten Rinnsalen
über die Rundungen floß. Die Ruhe ihres gemächlichen Ganges wurde jäh beendet als die vier Ungestümen
sie kreischend in ihr Fangspiel hineinwirbelten. Außer Atem und sichtlich erschöpft sanken alle nach
der Toberei wieder auf ihre Liegeplätze. Die sandverklebten Leiber würde das nächste Bad abwaschen.
Mit den enganliegenden Haaren sahen die Männer noch jungendlicher aus. Ihre erregt halbversteiften Schwänze
verbargen sie in der Bauchlage. Eine Weile blieben sie leise stöhnend flach liegen. Die Frauen klopften
sich mit den Handtüchern den lockeren Sand aus den Haaren. Als sich die Bücherwürmchen wieder ihrer
Lektüre zuwenden wollten, fiel ihnen auf, daß ihr Buch verschwunden war. ,,Wo ist denn der Zauberberg
geblieben? Haben wir ihn vielleicht beim Balgen vergraben?`` Sie schauten umher und buddelten mit
den Händen im Sand.
,,Ich habe mir erlaubt, ihn auszuleihen``, meldete sich Suzanne hörbar zu Wort.
Nicht nur die beiden Leserättinen merkten auf und sahen sie fragend an.
,,Ein faszinierendes Buch``, fuhr sie anerkennend fort. ,,Seid ihr vielleicht
Germanistik-Studis im Urlaub?``
,,Wir sind in Deutschland vorzeitig vom Gymnasium abgegangen, um hier den High School Abschluß
zu machen``, entgegnete die eine. Und die andere ergänzte: ,,Mit Thomas Mann beschäftigen wir
uns im Literatur-Kurs.`` Die beiden Mann-Freundinnen schauten offen und interessiert zu Suzanne herüber.
Die bemerkte erst jetzt überrascht, daß es sich um eineiige Zwillinge handelte. Ihre reizenden
Gesichtszüge und zierlichen Köperformen waren völlig gleich und hatten frappante Ähnlichkeit mit Björk.
Die großen, dunklen, leicht nach außen stehenden Augen, die niedlichen Stupsnasen und kleinen Münder, die
beim Lachen allerliebste Grübchen warfen und perfekte Zahnreihen zeigten. Nur das dunkelbraune, wellig-lange
Haar wich deutlich von dem glatten Haarwuchs des Paradiesvogels ab. Die beiden wußten natürlich
um ihre Wirkung und lächelten unsere reifere Schöne verschmitzt und ein wenig hochnäsig an.
Suzanne zog sich aus der Affaire, indem sie sich vorstellte und angestrengt nach einem Unterscheidungsmerkmal
suchte. ,,Ich heiße Suzanne und bin auf dem Weg nach Utopia.``
,,Ich bin Bärbel``, erwiderte die linke fröhlich. ,,Und ich Regina``, ergänzte die
rechte. ,,Damit du es einfacher hast``, sprach Regina und zog sich ein Stirnband über den Kopf.
Bärbel stellte unterdessen die anderen vor. ,,Unsere Blondine ist Heike und die Jungs hören auf
die Namen Thomas und Hans``, die nacheinander hier riefen (erst als Baß, dann als Tenor) und sich
aufsetzten. Suzanne betrachtete wohlwollend und unverblümt die beiden Jungmänner-Körper. Tom, der
breitere, hatte sehr dunkle, fast schwarze Haare, die nicht nur lang vom Kopf herunterhingen, sondern
sich in dichtem Wuchs auch über Arme, Brust und Beine erstreckten. Seine Statur war leicht athletisch,
die Gesichtszüge markant, fast kantig. Umrahmt von einem tiefliegenden Haaransatz blitzten unter dichten
Augenbrauen dunkle, wache Augen, zwischen denen eine große Nase in die Welt ragte. Der Mund war eher
schmal und die Kinnpartie dafür um so breiter. Hans hatte dünnes, helles Haar und einen weichen
Gesichtsausdruck. Seine Gestalt war leptosomisch (daher der niedliche Po) und mit feinem, spärlichen
Haarwuchs bedeckt. Die rundliche Nase lief in volle Lippen aus, die gut durchblutet waren. Sein Blick
wirkte etwas fahrig und unschlüssig, die Augen waren schmal und graugrün.
Suzannes weibliche Formen blieben nicht ohne Einfluß auf die Jungmänner. Toms Knolle
verlängerte sich, während Hansens Stengel sich verdickte. Die wärmende Sonne tat ihr übriges und
so drapierten sich die beiden unter dem Vorwand des Sonnenschutzes mit ihren bunten Tüchern.
,,Lebt ihr als Hippies oder seht ihr euer Outfit nur als Mode an?`` wollte Suzanne an Heike
gewandt wissen.
,,Wir sind in einer Theatergruppe der Schule und führen gerade das Musical Hair auf.
Um in Stimmung zu bleiben, tragen wir die Garderobe auch alltags. Macht sich doch gut so, oder?``
Heike legte sich ein bunt gestreiftes Stirnband um, griff zur filigran bestickten Rüschenbluse und schlüpfte
in einen langen, weiten Rock, der verwellt in den hellen Farben des Regenbogens leuchtete.
,,Perfekt!`` bestätigte Suzanne. ,,Aber momentan weide ich mich eher an euren bloßen
Leibern``, fuhr sie lächelnd fort. ,,Auch das gehört schließlich zur Hippie-Kultur, unbefangen
nackt herumzulaufen; ist ja die ideale Gegend hier dafür.``
,,So, so. Dann hat dich wohl die Lust auf frisches Fleisch hergeführt``, merkte Tom nicht ohne
Ironie an und grinste ihr mit diebisch blitzenden Augen unverhohlen entgegen.
Unsere Schöne erwiderte sein Lächeln und entgegnete betont sachlich seine Blitze ableitend:
,,Ich wohne oben im Dorm am Rande Utopias: Daß ich erkenne, was die Welt - Im
Innersten zusammenhält.``
,,Du gleichst dem Geist, den du begreifst``, konterte Tom schlagfertig ihre Faustische
Überheblichkeit.
Der beginnende intellektuelle Disput ließ Suzanne freudig aufleben. ,,Hat euch die Tendenz der
Vergeistigung der menschlichen Natur bei Thomas Mann interessiert?``
,,So kann man das sehen``, ertönte der leptosome Tenor. ,,Im letzten Halbjahr
hatten wir die Buddenbrooks interpretiert, im nächsten steht der Zauberberg auf dem
Programm ... ``
,,Da zog er in den Venusberg. Blieb sieben Jahre drinnen``, ließ Suzanne
den Tannhäuser anklingen.
,,Der Berg ist heute zaubertoll``, rollte der Baß. ,,Wir wohnen auch im Dorm
auf dem Berg Utopias und feiern heut' Walpurgisnacht - mit Haar.``
,,Als Hexe werde ich mein kurzes Haar mit Tüchern zu drappieren wissen``, parierte Suzanne
Toms Anspielung, indem sie ihm flink seinen Lendenschutz entriß und sich behend als
Kopfumhang überwarf. Zum Gelächter aller deutete sein praller Mannesstolz in die Richtung seines
Begehrens ... Die glänzende Eichel im Blick hatte Suzanne ein passendes Zitat Tomy's parat:
,,Auf geistige, steigernde Art nach der Natur zu arbeiten, ist das Allervergnüglichste.``
Tom gewahrte sich in der Hexenküche und machte gute Miene zum bösen Spiel der Hexen. Voller Inbrunst und Ironie wandte sich der Heißsporn an unsere erblühte Schöne:
Er hatte nur mühsam ein Lachen unterdrücken können. Die gesteigerte Heiterkeit der Szene
fand ihre Auflösung durch Blondi. Die hatte unterdessen in ihrer Jutetasche gekramt und eine
Schachtel hervorgeholt, die sie 'rumgehen ließ: ,,Magic Cookies zur Verzauberung des
Augenblicks.``
Fröhlich pickten sich alle einen Keks heraus. Und wie zum Tusch trompetete der Tenor dem Baß ins Ohr:
,,Hm, ich liebe Zimt und Koreander``, schwärmte Suzanne für die Gewürzmischung und ließ langsam und mit Bedacht das Gebäck auf ihrer feuchten Zunge zergehen. Im Übergang der Verzauberung durch die verborgenen Wirkstoffe erinnerte sie Einsteins ahnungsvolles Einfühlen in die Natur und ihre Vergeistigung durch die Mathematik. Glich dieses Vorgehen nicht der Mann'schen Vergeistigung der menschlichen Natur durch die Musik? Beglückt im Gefühl poetischer Übereinstimmung im Ganzen überließ sie sich dem traumhaften Rauscherleben.
Im Wahn der Drogenwirkung auf den Hirnstoffwechsel der Neurotransmitter überdeckten sich höchste Lust mit finsterstem Horror. Suzanne erging es in ihrem LSD-modulierten, multimedialen Selbsterleben ähnlich wie Alex , dem die Greueltaten der Nazis vorgeführt wurden, unterlegt mit Versatzstücken aus der 9. Sinfonie Beethovens. In ihren Halluzinationen gewahrte sie fasziniert wie sich Toms Knolle hochaufragend versteifte, in einen Flugkörper verwandelte und ihm einer Rakete gleich aus seinen Lenden schoß. Sein entsetzlich höhnisches Grinsen verschmolz dabei mit der davon fliegenden Eichel, die sich zum zähnebewehrten Haimaul verzerrte, das sich knirschend und krachend durch alles hindurchfraß, was ihm in die Quere kam. Brücken stürzten ein, Häuser brachen in sich zusammen und in den Schuttbergen häuften sich verstümmelte Leichen. Diese apokalyptischen Visionen unterlautmalte der Walkürenritt, in dem das Bersten und Kreischen der Zerstörung aufging. Zusammenkrachende Gebäude und hochaufschießende Staubwolken wechselten im Rhythmus des Vernichtungsritts. Das staccatoartige Fortschreiten dieses erdumspannenden Zerstörungswerks verlangsamte sich zunehmend und ging wie beim Siegfried-Idyll in die erwartungsvolle Regung des keimenden Neubeginns über. Suzanne verglomm in der Sonne hellem Schein der diffus schimmernden und wabernden Erdhülle und verdrehte sich voll Wonne zur Kugelform, aus der sie lustvoll Brüste und Schenkel herausbildete. Aber nicht nur das! Dem wuchernden Quellen der Natur erwuchs auch ein Stamm, der hochaufragend auf dem Nabel der Welt thronte. Hatte sich das gefräßige Haimaul wieder zur lustspendenden Eichel verwandelt? Suzannes Aufmerksamkeit schien nicht nur zwischen den Hirnhälften zu pendeln, sondern auch ihre Tiefenschichten auszuloten. Was sich nicht alles in den zuckenden Nervenpulsen verbarg, wenn man ihren filigranen Strukturreichtum angemessen zu modulieren wußte. Ihre Zentralprojektion fokussierte mit steigendem Verlangen das schwellende und schwingende Ablösen des Lustgriffels, der ganz von selbst sein Ziel fand. Voll begieriger Erwartung und drängender Wallung, die ihren ganzen Leib zuckend erfüllte, spürte sie den Einschlag und nach einem Moment höchster Anspannung - die erlösende Explosion inmitten ihres Erdkörpers. Schreiend quoll es in Wonnewellen aus ihr heraus: ,,Fuck the earth! Fuck the earth! ... ``
Der Nachhall ihrer Lustschreie verdichtete sich zu dem marmornen Lächeln der unerbittlichen Natur,
aus dem die eindringlichen Laute des Religionsfanatikers Naphta erklangen und die Verzauberung
besiegelten: Verflucht sei der Mensch, der sein Schwert zurückhält vom Blute! Daß die Macht
böse ist, wissen wir. Aber der Dualismus von Gut und Böse, von Jenseits und Diesseits, Geist und
Macht muß, wenn das Reich kommen soll, vorübergehend aufgehoben werden in einem Prinzip, das
Askese und Herrschaft vereinigt. Das ist es, was ich die Notwendigkeit des Terrors nenne.
Stoned vom THC begegneten die Hippies den Eruptionen Suzannes mit Gleichmut, so daß
sie nicht Gefahr liefen, in Panik zu geraten.
Die variantenreichen Konvulsionen ihres geschmeidigen Leibes kamen einem Veitstanz gleich, den die
jungen Leute zunächst heiter-gelassen, dann aber mit wachem Interesse verfolgten. So etwas
hatten sie noch nicht erlebt! Blondi fragte sich leicht besorgt, ob sie dem Keks
für Suzanne nicht ein weinig zuviel LSD beigemischt hatte. Ihre Schüttelkrämpfe hatten etwas
schaurig-schönes, das sie zugleich wohl intensiv erlebte. Und nicht nur das! Denn unvermittelt stürzte
sie sich einer Furie gleich auf Tom. Ihr Wimmern, Stöhnen und Schreien mündete dabei in schrille,
drängend-bestimmende Ausrufe von ,,Fuck the earth!`` Die Mädels sahen sich abwechselnd an
und kicherten belustigt. Tom aber hatte Mühe,
ihren Fall abzufedern und umzulenken. Indem er sich einfach seinem Körper überließ,
gelang ihm das Kunststück, mit gleichbleibend mechanischer Elastizität Suzannes Konvulsionen
in ruhiger-entspanntere Bahnen zu lenken. ,,Ich liebe die Frauenbewegung, wenn sie nur
rhythmisch genug ist``, kommentierte er trocken ihre Umklammerung. Und während sich unsere
Akteure der Stimmung des monotonen Brandungsrauschens hingaben, überließen sie sich dem Hochgefühl
der ewigen Wiederkehr des Gleichen im Ganzen der selbstähnlichen Natur.
Am Abend fand Suzanne sich im Festsaal des Dorms wieder ...
In buntem Durcheinander vieler fröhlicher junger Menschen tanzte sie inmitten der Hair-Aufführung ihrer neuen Freunde. Dem Phantasiereichtum der langhaarigen Gesellschaft schienen kaum Grenzen gesetzt. Das Spektrum reichte von natürlicher Nacktheit bis hin zu kunstvoll gestalteter Kostümierung. Das herumschlacksende männliche Gehänge an den ekstatisch-entrückt zuckenden Jungen wirkte sehr komisch. Die harmonisch weiblichen Rundungen der Mädels waren da schon sehr viel ästhetischer; zumal sich die Mädchen schlangengleich geschmeidig der Musik überließen. Die Schauspieler verstanden es, ihr Tanzspiel kunstvoll dem Publikum aufzuprägen. Alle hatten das Gefühl, dazuzugehören und mitzuspielen. Die vielen Minimikrophone waren per Funk mit einer Vielzahl akustisch subtil angeordneter Lautsprecher in allen Raumrichtungen verbunden. Ihr saalerfüllendes Schallfeld wurde in synchroner Weise von einer Laser-Lichtorgel überlagert, die dreidimensionale Bühnenbilder projizierte. Die Tanzenden hatten den Eindruck, mit der Musik durch die wechslenden Orte der Handlung getrieben zu werden und vielerlei variierende Perspektiven einzunehmen. Das Erleben war berauschend, die Stimmung begeisternd.
Wohldosierte Cocktails flogen Paradiesvögeln gleich bunt schillernd durch die Szenerie, verstärkten den Sinnenrausch und bescherten den Hippies geradezu kosmische Bewußtseinszustände. Die wurffesten und flexiblen Fläschchen, aus denen der stimulierende Nektar gesogen werden konnte, glitzerten durch die faszinierenden Lichtbrechungen wie Kolibrifedern im Flugspiel. Das Naturerleben aus rhythmisch zuckenden Leibern, melodisch wirbelnden Umhängen, dröhnend pulsierendem Sound, stroboskopisch flimmernder und vielfarbig leuchtender Lightshow katapultierte alle in den Glückstaumel der unio mystica der Freude. Suzannes Drogenrausch verwandelte sich aber nicht wieder in einen ekstatischen Veitstanz, der sie auf einen prallen Schwengel stürzen ließ. Der turbulent-chaotische Wirbel des Spielereigens trieb sie vielmehr am Arm eines nur von wallendem Haar verhüllten süßen Mädels mehr und mehr an den Rand des Geschehens ...
Sodomy... Fellatio... Cunnilingus... Pederasty. Father, why do these words sound so nasty? Masturbation can be fun. Join the holy orgy. Kama Sutra ... Everyone!! In ruhigeren, dunkleren Gefilden, weich gebettet zwischen blumigen Kissen und moosigen Matratzen mit Blumenmustern verwirbelten ihre Leiber wie in den Schlingformen ihrer Umgebung. Die samtweichen und wellig-dichten Haare ihrer Gespielin reichten bis über Scham und Po hinweg. Die warm-feuchte Waldhöhlung hindurch ging es an die vollen Brüste der Natur, aus deren Körperbeben hell erstrahlend und verzückt das Sonnenlicht hervorquoll ...
Suzanne erwachte noch verschlungen im Wirbel der Freude. Verwickelt in Tüchern und Haaren gewahrte sie griffig-warmes an sich und in Händen. Ihre kleine Lustquelle atmete tief und gleichmäßig. Sie schienen in einem Nebenzimmer der Konzerthalle einfach liegen geblieben zu sein. Suzanne drehte behutsam ihren Kopf und betrachtete mit Neugier und Wohlwollen das schräg unter ihr, halb verdeckt ruhende Gesicht ihrer Gespielin. Die Kleine wirkte so herzig und lieb wie ein schlafendes Kind. Sie schien ihr noch jünger als ihre Tochter. Suzannes Blick folgte dem zierlichen Ohr, die Nackenkrümmung entlang in die schattige Höhle der Achsel, hinüber zum Schulterbogen, dem haarbedekten Rücken hinab zum Po, der sich unter Suzannes Atembewegungen federnd auf und ab bewegte. Sie konnte nicht widerstehen: vorsichtig befreite sie einen Arm, der unter einem Bein der Kleinen lag, und strich sanft durch das wohlig-weiche Haar zu den aufreizenden Rundungen des süßen Pos hinab. Dort ließ sie ihre Hand ruhen und koste zärtlich das handliche fest-weiche Hinterteil. Nach einer Weile schob ihr Mädel leise stöhnend ein Bein hinauf und breitete gähnend die Arme aus. Sie war erwacht, hob den Kopf und sah in das zufrieden lächelnde Antlitz ihrer kuscheligen Unterlage. Die schaute in zwei intensiv grüne Augen, die von einigen luftigen Haarsträhnen verhangen waren. Unter ihnen lugte eine kleine weiche Nase hervor, die formvollendet mit den sinnlichen Wülsten der Oberlippe harmonierte.
Nachdem die beiden Frischverliebten eine Weile sprachlos behaglich geschmust hatten, gewahrten
sie ihre Umgebung. Auf den Kissenbergen und in den Matratzentälern verstreut lagerten weitere
Hippies ihren Rausch ausschlafend. Der Raum hatte ebenfalls ein Oberlicht, das einen
wohltuend gedämpften Schein des hellen Tageslichtes verströmte. Die beiden erhoben sich
langsam, reckten und streckten sich entspannt, streiften sich herumliegende Blusen und Röcke
über und traten über einen Flur in die Eingangshalle. Eine Uhr über der Pförtnerloge zeigte
Samstag an, den 1. September 2001. Es war 17:45 Uhr. Der Pförtner, ein Student aus höherem Semester,
nickte ihnen freundlich zu und vertiefte sich wieder in seine Lektüre. Suzanne
assoziierte mit dem 1. September unwillkürlich das Jahr 1939 und hörte die krächsende, sich
überschlagende Stimme Hitlers, als er selbstherrlich verkündete: Seit 5 Uhr 45 wird jetzt
zurückgeschossen! Welch ein Gegensatz zu der friedlichen Idylle hier, dachte sie und trat
mit ihrer Begleiterin hinaus in die Tageshelle des spätsommerlichen kalifornischen Nachmittags.
Die beiden blinzelten Arm in Arm über die locker bewachsene Hügellandschaft Big Surs. Ihre
junge Freundin bugsierte Suzanne zielstrebig des Weges in Richtung Zauberberg.
Suzanne wollte sich zwar bei Max und Sonja melden; aber das konnte sie auch später noch.
Erwartungsvoll ließ sie sich führen. Schon nach kurzer Zeit überwältigte sie ihre Neugier:
,,Wohin gehen wir eigentlich?`` wollte sie wissen und ergänzte verschmitzt
lächelnd: ,,Und mit wem hatte ich das Vergnügen?``
,,Mit Olga aus Riga.`` begann die Langhaarige munter. ,,Gleich nach der
Befreiung von den Russen machte ich mich auf nach Kalifornien. Mein Vater hatte eine Gastprofessur
in Berkeley angenommen und ich nutzte die Chance meines Lebens - und blieb hier. Gegenwärtig mache
ich meinen Masters Degree in Biophysics mit einer theoretischen Arbeit zur Quantentheorie des
genetischen Codes.``
Suzanne war verblüfft. Dann mußte dieses reizende kleine Geschöpf ja schon mindestens
Anfang 20 sein.
Olga erriet natürlich Suzannes Erstaunen. ,,Ich werde immer für jünger gehalten.
Da geht es mir ähnlich wie Björk
``, sagte sie heiter und sah ihre
neue Freundin fragend an.
,,Suzanne aus Hamburg``, stellte diese sich vor und fügte
unbeschwert hinzu: ,,Ich bin als freischaffende Physikerin auf dem Weg nach
Utopia ... ``
,,Wie passend``, fiel Olga ein, dann kann Al dir ja über die Forschungen
hier berichten. Er wird auch nichts dagegen haben, wenn du mit uns wohnen wirst.``
Suzanne verschlug es nochmals die Sprache. Das konnte doch nicht wahr sein, so viel Glück
auf einmal zu haben! Sie hätte die ganze Erde umarmen können. Es war wie verzaubert.
Beschwingt drehte sie sich mit Olga im Kreise, lachte vergnügt und nahm statt der Erde
Olga in den Arm. Innig hielten sie einander umschlungen. Dann kam das Namenskürzel Al in
ihrem Bewußtsein an. ... Langsam löste sie die Arme und schaute Olga überrascht in die
Augen. ,,Jetzt sag' bloß, es handelt sich bei Al um Alwin Steininger?`` fragte
sie um Fassung ringend.
,,Genau der``, bestätigte Olga stolz, kräuselte vergnügt ihre Nase, funkelte
hintersinnig mit den Augen und schmunzelte listig. Es schien ihr sichtlich Spaß zu machen,
Suzanne zu verwirren.
Verzückt und jauchzend liefen die beiden weiter den Hügel hinauf. Für Suzanne verschwand die malerische Umgebung aus ihrem Blickfeld. Sie fokussierte ihre Welt auf Olga - und die Aussicht, mit ihr und Al eine Weile das Leben teilen zu können. Welch eine Utopie da wahr werden könnte! Während sich für Olga wie von Zauberhand alle Türen und verborgenen Sicherheitsschleusen öffneten, vergegenwärtigte sich Suzanne ihre Erinnerungen an Al. Der hatte als einer der wenigen Doktoranden Feynmans erstmals vollständige Pfadintegral-Lösungen der quantenmechanischen Grundprobleme gefunden und war dann als Postdoc zu Eigen nach Göttingen gegangen. Dort war ihm nichts geringeres als das physikalische Verständnis der Lebens gelungen. Schon einmal hatten die Physiker Delbrück und Schrödinger den Biologen auf die Sprünge helfen müssen als sie die Existenz des genetischen Codes postulierten. Mit der Strukturaufklärung der Doppelhelix waren ihre Hypothesen vortrefflich bestätigt worden. Als Forschungsprogramm hatte es sich Al wiederum zur Aufgabe gemacht, den Biologen aus ihrer erneuten Sackgasse nach der Entschlüsselung des menschlichen Genoms zu helfen. Die hatten zwar in technisch aufwendigen, aber theoretisch eher anspruchslosen, langjährigen Verfahren, die Syntax des genetischen Codes des Menschen entschlüsselt; seiner Semantik aber stehen sie noch immer ziemlich ratlos gegenüber. Schon die Grundlagenfrage , warum es 4 Nukleotide gibt, die 20 Aminosäuren codieren, lag weit jenseits des biologischen Horizonts. Und das semantische Problem, in welcher Weise aus den Genen der Aufbau der Eiweiße hervorgeht, harrte ebenfalls noch der Lösung. Hier versprach nur ein Team aus Mathematikern und Physikern Erfolg. Al hatte sich nach seiner Rückkehr aus Deutschland genau an diese Herausforderung das 21. Jahrhunderts herangewagt.
,,Here we are!`` vernahm Suzanne den stolzen Ausspruch Olgas.
Sie standen vor einem locker, fast zugewachsenen Höhleneingang. Suzanne trat erstaunt langsam zurück und schaute hinauf. Die Anlage erstreckte sich wie natürlich aus dem Berghang heraus gewachsen in den Himmel hinauf. Zum Schutz vor dem hellen Licht hielt sie sich die Hand vor die Stirn. Welch eine herausragende organische Intelligenz mußte hier zu Werke gegangen sein? Es war beeindruckend wie sich die Gebäudeebenen umwachsen an den Hang schmiegten, weitaus gefälliger als es den Erbauern des Dorms gelungen war. Bedächtig und staunend wandte sich Suzanne um - und wurde von der Weite des erhabenen Ausblicks über den glitzernden Wellenspiegel des Pazifiks ergriffen. ,,Ist das schön!`` rief sie überwältigt aus und nahm Olga in den Arm. Mit vor Freude tränenfeuchten Augen blieb sie eine Weile genießend und die Weltharmonie in sich aufnehmend neben ihrer kleinen Freundin stehen. Diese erhob sich auf ihre Zehenspitzen und küßte ihr mit heißem Atem die Tränen aus dem Gesicht. Dann nahm Olga Suzanne vergnügt bei der Hand und lief mit ihr durch den Hohlweg zum versteckten Eingang der Forschungsstätte.
Nachdem auch die letzte Hürde vor dem Körperflair der Kleinen kapituliert hatte, betraten sie vorsichtig und leise den Salon; wohl wissend, daß der Hauselektronik nicht die kleinste ihrer Regungen entging. In der Oberlichtflut erstrahlte ein weinroter Teppich, der sanft dem Druck ihrer Füße nachgab. Auf einem großen, runden Tisch in der Mitte des Raumes, der aus massivem Holz auf stabilen Beinen ruhte und mattschwarz das Licht absorbierte, lagen verstreut einige Bücher und Zeitschriften. Um ihn herum gruppierten sich verschiedene Ergosits, ebenfalls aus schwarzem Holz und in hellerem roten Leder zum Teppich passend. Die Wandrundung war halbhoch mit einem Bücherschrank verstellt, über dem mehrere Kunstdrucke hingen. Die weiße Wand kontrastierte vortrefflich mit dem Schwarz des Mobilars. Trotz der Wandkrümmung ließ der große, runde Raum die Bilder nicht beengt wirken. Das Kornfeld van Goghs und die Aufgehende Sonne Pechsteins verströmten ihre blau-gelbe Farbenpracht. Suzanne folgte Olga sachte weiter in einen Flur, der den Salon zu umschließen schien, und durch den sie in den Wohnraum traten. Statt des runden Tisches befand sich hier in der Mitte unter dem Oberlicht ein riesiges, rundes Bett, ebenfalls in schwarz gehalten und mit vielen roten Kissen und Decken drapiert, die im Farbton wiederum mit dem Teppich harmonierten. Die gegenüberliegende Wand verklärte Munchs Madonna. Mit leidend-lustvoller Gebärde erhob sich die nackte Heilige über der Bettstatt, auf der Suzanne im Gewühle Al ausmachte. Sie hatte ihn lange nicht mehr gesehen. Aber die Art, wie er von seinem Buch aufschaute ließ keinen Zweifel aufkommen. Sein dichtes, volles Haar war gänzlich weiß geworden und fiel ihm ungebändigt über Stirn und Ohren. Mit den ebenfalls hell-weißen Augenbrauen kontrastierten seine tiefschwarzen Augen. Hoch über seiner schmalen Mundpartie ragte eine ebenmäßige Nase hervor. Al mußte unterdessen an die 60 Jahre zählen, dachte Suzanne und sah hinter dem faltendurchfurchten Holzschnitt seines Altersgesichtes immer noch das jungendliche Ungestüm durchscheinen.
Olga war unterdessen freudig-behend aufs Bett gesprungen und hatte ihren Mentor mit einem Kuß
auf den Mund begrüßt: ,,Na, mein lieber Oblomow, hier bin ich wieder``, hauchte sie
zärtlich und ergänzte sachlich: ,,Die haarige Party war berauschend.`` Sie
rutschte seitlich von ihm ab und drehte sich zu Suzanne um, die zwischen Tür und Bett stehen
geblieben war. ,,Darf ich dir eine neue Freundin vorstellen, Suzanne, eine Physikerin aus
Hamburg, die sich für Utopia interessiert ... ``
,,Und die du wohl schon liebgewonnen hast, wie ich deinem weichen Tonfall entnehme``,
erhob Oblomow mit ruhiger, tief-voller Stimme das Wort und lächelte Suzanne einnehmend an:
,,Sind wir uns nicht schon `mal in Göttingen begegnet?``
Suzanne atmete erleichtert auf, nickte ihm erfreut zu und ließ sich von seinem Blick gefangen nehmen. Wie selbstverständlich trat Eva ans Bett und gesellte sich zu den beiden. Er hatte sie wiedererkannt, obwohl sie sich lediglich einmal bei einem Workshop über den Einfluß der Gravitation auf die Entstehung des Lebens getroffen, aber doch ziemlich lange diskutiert hatten. Das war mittlerweile über 15 Jahre her. Sie war seinerzeit Studentin im 6. Semester und begann sich für die Quantengravitation zu interessieren.
Lächelnd wurde ihr unterdessen bewußt wie
Olga ihn genannt hatte: Oblomow! Für ihn zerfiel das Leben in zwei Teile: der eine bestand
aus Arbeit und Langeweile; der andere aus Ruhe und behaglicher Fröhlichkeit. Heiter erinnerte
Suzanne die Oblomowsche Sorglosigkeit: waren all' seine Gedanken verschwunden, leuchtete
das ganze Gesicht im gleichmäßigen Licht der Sorglosigkeit. Über Olga hinweg sahen Al und
Suzi sich an - und dachten das gleiche: hier ließ es sich mit behaglicher Fröhlichkeit leben;
wie einst im Paradies des goldenen Zeitalters. Al hatte die Visionen und Ideen, seine Mitstreiter
arbeiteten sie aus, fast noch in jenem zärtlichen Alter, in welchem der Mensch in jedem
anderen Menschen einen aufrichtigen Freund vermutet, sich fast in jede Frau verliebt und jeder
Herz und Hand anzubieten bereit ist. Vergnügt weidete sich Suzanne am Liebreiz Olgas. Die sprang
mit jugendlicher Heftigkeit auf und klatschte voll überschäumender Freude in die Hände. Al und
Suzi lächelten sich einverständig mit leichtem Kopfschütteln an.
,,Auf, auf, meine Liebe``, rief Olga hellklingend und um das Bett herumspringend, ,,ich
zeige dir dein Gästezimmer.``
Besonders beeindruckte Suzanne der Musikraum, der schon ein kleiner Konzertsaal genannt werden
konnte, die wichtigsten Instrumente enthielt und in dessen Schallzentrum ein Steinway-Flügel
thronte. Die Bibliothek enthielt die gesammelten Werke der herausragendsten Wissenschaftler,
Künstler und Philosophen der westlichen Zivilisation. Das Multimedia-Studio war mit der
leistungsfähigsten Digitaltechnik ausgestattet und hatte natürlich ein Interface zum utopischen
Quantencomputer. Von den drei Gästezimmern, die vertieft-peripher angelegt waren und über eine
Terrasse mit sensationellem Ausblick über das Meer verfügten, belegte Suzanne das zweite. Merkwürdig
fand sie das Fehlen einer Küche; aber dafür gab es einen exzellenten Hotelservice aus dem Bereich
der Zulieferer oder die Cafeteria, die sich im Untergeschoss gleich neben der Bibliothek befand.
Am Schluß der Führung standen die beiden Damen im Bad - oder besser gesagt im
Wohlfühl- und Reinigungspool. Die verschiedenen Duschen, Wannen und Bäder waren kreisförmig auf
Terrassen von einander abgesetzt und jeweils von vielerlei Pflanzen umgeben. Das Lichtspiel mit
den Wassern beschwor die Atmosphäre einer Grotte herauf. Die beiden streiften ihre Kleider ab
und sprangen in den zentralen Whirlpool mit Unterwasser-Massage. Wohltuend bewegt und gedrückt
vom harmonisch wechselnden Wasserdruck umschloß sie das Gefühl des flüssig-warmen Elements.
Nixen gleich labten sie sich am Gefließe und Geströme. In einer
romantischen Anwandlung
war es Suzanne, als ob sich mit jeder Welle des lieblichen Elements ein Wesen mit zartem Busen und
herzigem Po an sie schmiegte. Die Flut schien ihr eine Auflösung reizender Mädchen und Jungen,
die sich an ihr augenblicklich verkörperten ...
Am Abend gesellten sich die Damen wieder zu Al aufs Bett. Von betörendem Duft umwolkt und befriedigt-entspannt schmiegten sie sich an ihn und genossen das Abendbrot: Wohlschmeckenden Käse auf frischem Vollkornbrot, Parmaschinken mit Zuckermelone und dazu einen mundigen Bordeaux. Von schmutzabweisenden und schweißdurchlässigen Mikrofasern locker umhüllt im Bett unter dem Sternenhimmel des Oberlichts; so konnte man es aushalten, dachte Suzanne. Die heiter verspielte Atmosphäre der Flötenkonzerte Vivaldis erfüllte den Raum. Auf der Zunge verschmolzen die Aromen des Eßgenusses. In den verschlungenen Nasenwegen vereinten sich die Blume des Weines mit den schwach parfümierten Düften der wallenden Haare und der freiliegenden Haut, von der auch ab und an genascht wurde. Beschwingt eingestimmt in die Freuden aller Sinne verstieg sich Suzanne zu dem Gedanken, daß ein Bett schon der Nabel der Welt sein könne. Wie recht doch Gontscharow mit seinem Loblied auf die Oblomowerei hatte! Wer reich an Innenleben ist, bedarf der hohlen Gesellschaft nicht. Die vielen Leute liegen zwar nicht herum, schwirren dafür aber tagtäglich wie die Fliegen umher, von einem Scheißhaufen zum nächsten getrieben. Ständig halten sie Belanglosigkeiten in Atem: ob das Wetter wohl schön werde, wo es `was umsonst gebe, welches neue Auto es sein solle, ob die Aktien gut stünden, ein Lottogewinn winke oder wo es nächstes Jahr im Urlaub hingehen solle. Mit dieser monströs wuchernden Außenwelt ging die Verarmung und das Absterben der Innenwelt einher. Das waren zwei Seiten einer Medaille.
Warum blieben die Menschen nicht einfach im Bett? In diesem grandiosen Universum der Freuden?
Die zugleich wohlig-weichen und reißfest-undurchlässigen Mikrofasern verwandelten die Bettlandschaft
in einen Garten der Lüste. Erregt ließ Suzi sich Weinlachen und Melonensüße von der Haut
saugen und lecken. In Verbindung mit duftenden Saugtüchern gewannen die Sinnenfreuden wieder
die Oberhand. Ihre trüben Gedanken wurden
überstrahlt vom Lustgefühl der Einheit mit den Gleichgesinnten. Die über mehrere Bewußtseinsstufen
erlebten Sinnesreize wurden nach und nach eingetaucht in die Stille und das Dunkel der Nacht, die
den in Bewußtlosigkeit fallenden Leibern die Regeneration des Schlafes gönnte. Letztes Stöhnen und
Geseufze ging in ruhiges, gleichmäßiges Atmen über.
,,Das frage ich mich auch immer``, vernahm Suzi die wie in Watte gebettete Stimme
Al's. Aus der Wolke des morgendlichen Traums erwachend, schaute sie zur Seite in sein vom
weißen Haarschopf umkränztes Antlitz. Leicht erhöht den Kopf seitlich auf ein Kissen gebettet,
sah er sie freundlich an.
Suzi drehte sich ihm zu und fragte verwundert: ,,Was fragst du dich auch immer?``
,,Du hattest im Traum empört gefragt, warum die Menschen nicht einfach nur im Bett
blieben``, sagte er sanft; wohl um Olga nicht zu wecken, die an seiner anderen Seite noch
tief zu schlafen schien. Wohlige Wärme ging von ihr auf ihn über. ,,Im Bett kann man die
schönsten Genüsse kultivieren ... und das auch noch ökologisch verträglich. Blieben die
Menschen die meiste Zeit im Bett oder zumindest zuhause, könnte die Biosphäre noch sehr viel
mehr unserer Spezies verkraften.``
Suzanne starrte noch immer in Al's tief-schwarze Augen, die er ruhig auf sie gerichtet hielt. Sein
Blick allerdings schweifte unverhohlen von ihrem Gesicht über ihre freiliegenden und verhüllten
Rundungen hinweg.
,,Geboren werden und sterben, kopulieren und masturbieren, essen und trinken, denken und
träumen, schreiben und lesen, Musik hören und Filme schauen ... `` Olga hatte sich
überraschend über Al erhoben und gab auf ihn gelehnt einige Bettaktivitäten zum besten.
Sie schob ihren zierlichen Körper weiter nach vorn, so daß ihr Bauch auf Al's Hüfte zu liegen
kam. Während sie so hingestreckt Suzi einen innigen Guten-Morgen-Kuß aufschmatzte, ließ Al
es sich natürlich nicht nehmen, mit der einen Hand sanft ihren Po zu massieren, während die
andere eine ihrer freiwippenden Zitzen koste. Freudig lächelnd gab sie auch ihm einen Kuß und
fuhr mit den Bettaktivitäten fort: ,,schmusen und kuscheln, küssen und streicheln, spielen
und basteln ... ``
,,Pinkeln und koten leider nicht``, merkte Suzanne an, erhob sich zögernd und schritt
langsam ins Bad. Auf den Becken und in den Wassern der Grotte hielt sie sich länger als notwendig
auf. Als sie zurück kam, saßen Al und Olga in einem zum Frühstücksbufett verwandelten Bett.
Suzi begann mit Obstsalat und Sahne, frischgepresstem Orangensaft und perlendem Champagner.
Es dauerte nicht lange und alle drei waren wieder vielfach befleckt. Im Trubel heiteren Gelages
schauten sie sich auf der Videoleinwand Das große Fressen an. Ausgerollte Ärsche und
wackelnde Tittenpuddinge vor Augen, explodierende Scheißhäuser und motorisch getriebene
Kolben im Ohr, dehnten sie das Frühstück über den ganzen Sonntag aus. Für Suzanne war es
das erweiterte Glück ihrer Zeit im Hotel. Paul hätte es hier bestimmt auch gefallen. Mit der
Erinnerung meldete sich allerdings wieder ihr notorisch moralisches Gewissen. War ihr Lebenswandel
nicht in hohem Maße aristokratisch dekadent? Schon im Hotel hatte sich ihre Seinsweise auf das
Bett konzentriert. Sollte sich ihre Utopie nun auch im Bett verwirklichen? Unvermittelt begann sie
laut zu denken: ,,Satre hatte die Existenz des Menschen aus dem Blick heraus entwickelt.
Wir sind, indem wir gesehen werden und uns im Blick des anderen sehen. Die Wahrnehmung durch
andere ist der Beginn der sozialen Existenz des einzelnen.``
Al und Olga merkten auf aus ihrer heiteren Sorglosigkeit und schauten sie fragend an.
,,Meine wohl am weitesten zurückreichenden Erinnerungen sind Bilder``, fuhr Suzi
nachdenklich fort. ,,An meinen ersten Atemzug erinnere ich mich nicht, ebenso wenig an meinen
ersten Schrei. Auch an die gespannte Haut der prallen Brüste meiner Mutter und an die schläfrige
Mattigkeit nach dem Aussaugen der Zitzen fehlt mir die Erinnerung.``
Al und Olga schauten ein wenig ratlos drein, da ihnen nicht aufging, worauf Suzi hinaus wollte.
Und so warf Olga leichthin ein: ,,Unsere Existenz erwächst dem Bett, nicht dem Blick.``
,,Mein Gedächtnis beginnt in der Tat mit einem Bild, das ich vom Bett aus über mir
sah ... ``
,,Unsere Existenz beginnt im Bett, im Wechsel von Schlafen und Wachen, Trinken und
Pinkeln``, wandelte Olga ihre These ab.
Nun meldete sich auch Al zu Wort: ,,Auf der Grundlage einer Philosophie des Bettes solltet
ihr das Loblied auf die Sofakartoffel erneuern``, begann er mit ironischem Unterton und
lächelte die Damen hintersinnig an.
,,Das ist gar nicht so absurd wie es scheinen mag``, entgegnete Suzi ernsthaft und
mit Schluckauf und holte `mal wieder viel zu weit aus: ,,Von den Bäumen aus dem Wald über die
Savanne in die Höhlen, mit den Flußläufen in die Uferbehausungen ... bis hin in die Dörfer und
Städte; mit dem Bett als zentralem Ort des Menschseins, der menschlichen Existenz schlechthin ...
Der Mensch findet im Bett seinen natürlichen Ort wieder``, beendete sie etwas wirr
und beschwippst ihren spekulativen Gedankenlauf.
,,Das ist ja reinste Oblomowerei``, kommentierte Al nur zum Schein entrüstet und ein
wenig lallend. Ergriffen von der hehren Philosophia wurde er aber flugs stocknüchtern:
,,So wie die Philosophie der Materie nicht ohne Raumzeit auskommt, hätte eine Existenzphilosophie
der Zivilisation vom Bett auszugehen ...`` Sprach es und versank abrupt in Tiefschlaf.
In den folgenden Tagen schaffte es Suzi immer wieder, Al von seinem Lager herunter zu locken. Während Olga und seine weiteren Mitarbeiter am Lebensprojekt ihren Studien und Forschungen nachgingen, führte er sie in mehreren sich erweiternden Rundgängen durch Utopia. Suzanne gewann den Eindruck eines hochkulturellen Stadtstaates oder einer mittelalterlichen Burganlage. Von außen betrachtet wirkte die ganze Anlage im Flimmern der heißen Luftspiegelungen wie eine Fata Morgana. Und wie sich seinerzeit die Fee Morgane um den Erhalt des keltischen Kulturerbes in Avalon bemüht hatte, ging es in Utopia darum, die säkulare Wissenschaft vor dem Allmachtsanspruch der Religionen in Schutz zu nehmen. Dazu diente auch ein zumindest für die Besucher nicht nachvollziehbarer Übergang von außen nach innen. Immer wieder bemühte sich Suzanne mit äußerster Konzentration darum, das Eintreten in die Bergfestung mitzubekommen; aber vergebens. Nach dem Betreten des Hohlwegs, den sie erstmals achtlos mit Olga durchschritten hatte, war es jedesmal, als ob sie einschlief und wieder erwachte. Dazwischen blieb ein Bereich der Bewußtlosigkeit. Hatten die Utopisten vielleicht eine Möglichkeit gefunden, ihr Bewußtsein aus- und wieder einzuschalten? In der Zwischenzeit der Bewußtlosigkeit schwebte sie dann womöglich einer Schlafwandlerin gleich einen ganz normalen Weg entlang. Wer bereits teleportativ vernetzte Quantencomputer betrieb, verfügte wohl auch über die Technik, die das Bewußtsein basierenden Zustandsverschränkungen im Zytoskelett des Nervengewebes zu manipulieren; wenn es sie denn wirklich gab. Das letzte Geheimnis Utopias blieb ihr verborgen und Al versichterte glaubhaft, es auch nicht zu kennen.
Womit er aber Suzanne bekannt machte, war faszinierend genug und sorgte immer wieder für Ablenkung von dem Rätsel des Übergangs. Es war halt so wie beim alltäglichen Einschlafen und Aufwachen; ein Problem, das womöglich mit dem Verständnis des Bewußtseins schlechthin zusammenfiel. Es ließ den Übergang zwischen der Alltagswelt und dem Zauberberg durch die Nebel Avalons erahnen. In dem zentralen Forschungstrakt befanden sich die Bibliothek, das Rechenzentrum, ein biomedizinisches und ein physikalisches Labor. Und über allem thronte Al in seinem Dachgarten-Appartement mit den Wohlfühl-Oasen. Die Basis Utopias bildeten die Qauntenkorrelations-Experimente, die zu immer weiter reichenden technischen Entwicklungen in der Lebensentstehung geführt hatten und das Quantencomputing ermöglichten. Geschützt in einer Art Hochsicherheitstrakt wurde mit vollkommen künstlichen Lebensformen gearbeitet, die sich schon zu komplexen vielzelligen Organismen entwickelt hatten. Die Technik des Klonens war so weit optimiert worden, daß fast jeder Klon lebens- und entwicklungsfähig war, und das nicht nur bei Schafen, sondern auch bei Menschen. Das Leben der Klone verlief fast so wie bei eineiigen Zwillingen; mit dem einzigen Unterschied der Altersdifferenz. Aus den frühzeitig gewonnenen Stammzellen der Klone wurden Gewebekulturen gezüchtet, die als Ersatzreservoir bei Krankheiten oder Unfällen bereit standen. Obwohl die Altersbegrenzung in der Kodierung des Zellstoffwechsels im Detail aufgeklärt war, wurde den Klonen dennoch die übliche Beschränkung von maximal 120 Jahren mit auf den Lebensweg gegeben. Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs gab es bei den Klonen kaum noch, da bei ihnen jeweils einige der brachliegenden Gensequenzen aktiviert wurden, die das Immunsystem in der Regel zur Selbstheilung befähigten. Dafür war es aber zu einer Renaissance der Infektionskrankheiten gekommen und ein verstärktes Auftreten von Autoimmunreaktionen wurde beobachtet. Die Eigendynamik so komplexer Systeme wie Lebewesen war ja nie genau vorhersehbar.
Ein weiteres Anwendungsfeld der biophysikalischen Forschungen waren neuartige Medikamente und Drogen,
die nahezu vollständig den natürlichen Stoffwechsel ergänzten. Ihre Synthese erfolgte aus dem
genetischen Code selbst, der einfach abgewandelt oder reaktiviert werden konnte und so quasi
körpereigene Stoffe als Heilmittel kodierte. Das gelang allerdings nur, wenn man die lückenlose
Kette der Entwicklung eines Wirkstoffes von den kodierenden Nuklotid-Sequenzen der DNS über die
Verteiler der RNS und die Zwischenstufen der Aminosäuren bis hin zum Aufbau der Proteinstrukturen
verfolgen konnte. Seit dem Einsatz der Quantencomputer gelang das immer häufiger. Genau dieser
Durchbruch in der Entschlüsselung der Lebensvorgänge hatte auch die Schaffung der künstlichen
Lebenformen ermöglicht. Suzanne berauschte der Gedanke, daß hier erstmals Wissen und Sein zugleich
entstanden. Der Quantenalgorithmus war bereits das Leben. Und Olga hatte die Idee zu einer
wesentlichen Vereinfachung eines Algorithmus gehabt. Wenn sie damit weiter kam und sich die Idee von
der mathematischen Struktur berechenbar in einen Algorithmus umsetzen lassen konnte, mußten noch
weitaus komplexere Lebensformen entwickelbar sein als wir Menschen es selbst waren ...
Die Konsequenzen dieser science-fiction Perspektive gaben zu interessanten Diskussionen Anlaß. Ebenso
verhielt es sich mit dem Design von Drogen, die zu einseitig das Lustgefühl im Gehirn stimulierten.
Wie im natürlichen Gleichgewicht aus der Gegenwirkung von mindestens zwei Agenzien, dem Agonisten
und dem Antagonisten, hatte jede Droge neben ihrer Wirkung auch ihre Gegenwirkung bereits in sich
selbst mit erhalten. Weiter gedacht führte das allerdings in den unendlichen Regress einer
Selbstbezüglichkeit. Die Natur löste derartige Probleme bisher durch die Entwicklung einer neuen
Organisationsstufe. Und so hatte es auch Russell
gemacht bei der Formulierung seiner Typenlogik.
Die Quantenalgorithmen gingen noch darüber hinaus; denn die Parallelität ihrer Zustandsverschränkungen
erlaubte ein dynamisches Wechseln der Ebenen jeweils aus der Reduktion der Zustände einer einzigen
grundlegenden Entwicklungsplattform. Hier schloss sich der Kreis zur Perspektive einer menschlichen
Weiterentwicklung durch Integration der beiden Großhirnhälften in einer darüber liegenden
Megastruktur; oder wie immer man diese Weiterentwicklung bzw. das mit dem Quantencomputer verschränkte
Wachstum des neuen Nervengewebes bezeichen wollte.
Suzannes erste Woche in Utopia verging wie im Fluge. Die Existenz funktionierender Quantencomputer versetzte sie immer wieder in Erstaunen. Den Utopisten war es tatsächlich gelungen, gigantische Spin-Systeme so extrem gut zu isolieren, daß sie über Monate hinweg verschränkt blieben und interferrierende Parallelrechnungen mit über 1020 überlagerten Spin-Zuständen ausführen konnten. Die neuen Festkörper-Strukturen, die derartige überlagerte Spin-Anordnungen ermöglichten, waren kleiner als ein Kubikdezimeter. Die sie vernetzenden Lichtleiter von haarfeiner Struktur waren in stabilen Rohren Utopia-weit verlegt und koppelten in jeder Außenstelle des Rechenzentrums an einen weiteren Quantencomputer. Diese futuristischen Rechner ließen sich wie normale Computer bedienen, die allerdings alltags-sprachverständig waren, was wesentlich den Umgang mit ihnen erleichterte. Der Anwender merkte von der Quantenverschränkung kaum etwas. Es war wie die Arbeit mit dem Batchsystem eines normalen Computers. Waren die Quantenalgorithmen kodiert und per Laserkopplung auf die Spin-Systeme übertragen worden, stellte sich die jeweilige Zustandsverschränkung ein und folgte lediglich ihrer genuinen Quantendynamik. Da jeder nichtkodierte Einfluß auf die Quantenverschränkung die filigrane Zustandsüberlagerung zerstören würde, waren die durchgeführten Rechnungen absolut konsistenz und sicher; solange sie überhaupt erhalten blieben. Andernfalls müßte der Quantencomputer netzwerkweit reinitialisiert werden.
Die hohe Zahl der verschränkten Spin-Zustände von 1020 ermöglichte die phantastischsten Rechnungen. Alle gängigen Makro-Eigenschaften der Stoffe, wie z.B. Leitfähigkeit, Dichte, Festigkeit und Reibung, konnten nahezu instantan aus den Mikrowechselwirkungen ermittelt werden. Das ganze philosophische Geschwafel von ,,Emergenz`` oder, daß das Ganze mehr als die Summe seiner Teile sei, war hinfällig geworden! Wenn das die deutschen Begriffsgymnastiker wüßten ... Suzanne fiel immer wieder in behagliche Fröhlichkeit, wenn sie im Bett darüber nachdachte. Mit den künstlichen Lebensformen waren sogar schon überindividuelle Quantenverschränkungen über die Mikrotubuli ihrer Zytoskelette im Nervengewebe erreicht worden. Wie die sich dabei wohl gefühlt haben mögen? Es mußte ähnlich wie bei einer wahrhaft bewußtseinserweiternden Droge sein. Leider gelangen derartige Experimente noch nicht mit Menschen. D.h. ihre Gehirne ließen sich zwar verschränken, nur merkten die Probanden nichts davon. Es war, als ob sie im Schlaf etwas dazu gelernt hatten. Danach jedenfalls teilten sie Erinnerungen mit ihren Mitstreitern, die sie nicht selbst erlebt haben konnten. Das Problem verwies auf das Geheimnis des Bewußtseins. Es schien sich seinem eigenen Verständnis zu entziehen, indem es verschwand, wenn man es zu erhaschen suchte. Darin ähnelte es einer Quantenverschränkung, die zerstört würde, wenn man sie analysieren wollte. Eva träumte natürlich immer wieder davon, wie es wohl sei, mit Adam beim Liebesspiel überlagert zu werden. Der kurze und heftige männliche Orgasmus, der um den Unterleib zentriert wirkte, verschränkt mit dem körpererfüllenden weiblichen Hochgefühl, das intensiver und hirnzentrierter erlebt wurde. Die berauschenden Endorphin-Wirkungen kurz danach mochten wieder sehr ähnlich sein ...
Olga und Al, mit denen sie sich immer wieder vergnügte, sahen das genauso. In Al's Arbeitsgruppe wurde natürlich schon intensiv am Problem der menschlichen Hirnverschränkung gearbeitet. Ethische Bedenken allerdings waren hierbei viel bedeutsamer als z.B. beim therapeutischen oder reproduktiven Klonen. Den Schwachsinn der Moralisten, einer einzelnen menschlichen Zelle bereits Menschenwürde zuzusprechen, teilte in Utopia niemand. Die Schutzwürdigkeit des Embryos mit der Entwicklung des Nervengewebes beginnen zu lassen, schien allen ein tragfähiger Kompromiß. Moralische Rigoristen und religiöse Fundamentalisten gab es in der Wissenschaftler-Kolonie zum Glück nicht. Mit derartigen Extremisten wäre eine wissenschaftliche Lebensform gar nicht möglich gewesen. Utopia bezog sich gleichsam auf die altgriechische Polis und verwirklichte den Traum einer Gelehrtenrepublik. In der Lebensform des Wissenschaftsästheten verbanden sie wieder die Ideale der Wahrheit und Schönheit. Lustwandel gepaart mit intellektueller Redlichkeit: daß sie das noch erleben durfte, freute Suzi sich wiederholt im Strudel des Hochgefühls mit Al und Olga.
Aber was geschähe mit dem Identitätsgefühl, mit der Selbstgewißheit in einem quantenverschränkten
Zustand zwischen mehreren Gehirnen? Das war ein ethisch ernst zu nehmendes und theoretisch herausforderndes
Problem! Wie würde die Einzigartigkeit der Zustandsüberlagerung verschiedener Gehirne erlebt werden, wenn sie
denn überhaupt einmal spürbar sein sollte? Wäre es wie das Erwachen eines neuen Bewußtseins, so wie wir
es als Kind erlebten? Wie sonst sollte sich ein Gemeinschaftsbewußtsein ausbilden, wenn nicht als neu
erfahrene Organisationsform oder Bewußtseinsstufe? Andernfalls hätten wir das Krankheitsbild einer
multiplen Persönlichkeit. Inkonsistenzen auf unterliegender Ebene werden in der übergeordneten
Entwicklungsstufe aufgehoben. So war es jedenfalls bisher in der Evolution. Quantenverschränkungen
erlaubten aber die simultane Überlagerung vieler Welten, nicht nur das sequentielle Pendeln zwischen
ihnen wie bei den Persönlichkeitsstörungen. Vielleicht war es ganz gut, daß intercerebrale
Quantenverschränkungen bisher zwar erzeugt, aber nicht erlebbar waren. Es könnten ja Totalausfälle
und nicht nur Persönlichkeitsstörungen die Folge sein. Ganz so wie nach dem Autounfall von Katarina Beta.
Der Vergleich hinkte natürlich, relativierte Suzanne sogleich ihre Bedenken; denn Quantenverschränkungen
harmonisierten nur Zustände in den Mikrotubuli des Zytoskeletts, ohne irgendwelche Zellen oder `gar ganze
Hirnareale zu zerstören. Das Nervengewebe wird gleichsam nur vorübergehend reorganisiert. So wie das
chaotische Lampenlicht eines erhitzten Glühfadens zur faszinierenden Kohärenz gleichphasig schwingenden
Laserlichtes werden konnte. Ein Risiko bliebe es trotzdem. Bevor weitere Experimente gemacht würden,
müßten die Grundlagen geklärt werden. Im Rahmen des Lebensprojektes müßte ein Bewußtseinsprojekt
in Angriff genommen werden. Suzanne begeisterte sich für die Perspektive, dafür einige junge Forscher
gewinnen zu können. Al präzisierte ihr Vorhaben und warb im Wissenschaftsrat Utopias die nötigen
Mittel und Ressourcen ein. Olga erklärte sich freudig bereit, nach Abschluß der Masterarbeit ihre
Promotion dem Thema zu widmen. Das war ein aussichtsreicher Anfang.
Mit Beginn der zweiten Woche stürzte sich Suzanne in die Arbeit als Projektmanagerin. Sie begann mit dem Sichten und gelegentlichen Wiederlesen der Grundlagenarbeiten und verschiedener unorthodoxer Anzätze zum Thema Quantenbewußtsein . Das Quantencomputing und die Bewußtseinstheorien hatten sie bisher nur am Rande interessiert. Die physikalischen Grundlagenarbeiten zu den Themenbereichen schienen ihr einigermaßen überschaubar. Anfangen wollte sie natürlich mit der Arbeit Feynmans von 1981: Simulating Physics with Computers. Seine posthum veröffentlichten Lectures on Computation sollten den Stoff für ein motivierendes Einstiegsseminar liefern. Interessierte und begabte Schüler des Förderprogramms wären die idealen Teilnehmer. Einige hatte Suzanne bereits am Strand und auf der Hair-Party kennen gelernt. Vielleicht ließen sie sich durch ein anspruchsvolles Arbeitspensum locken, das sie schnell an die Forschungsfront führte. Mit dem berauschenden Gefühl unerschöpflicher gemeinsamer Arbeits- und Genußmöglichkeiten gesellte sie sich am späten Abend zu Al und Olga aufs Bett. Schmusend genossen sie den heiter-melancholischen Wohlklang der beiden Moll-Klavierkonzerte Mozarts. Aneinander geschmiegt überließen sie sich den ambivalenten Themenwechseln und besinnlichen Romancen - und glitten sanft in den frühen Morgen des 11. September hinüber.