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Lenz saß am vorderen rechten Rand der hufeisenförmig vor der Tafel zusammengestellten Tische im Seminarraum des DESY-Rechenzentrums. Er betreute das begleitende Seminar zur Vorlesung: Numerische Methoden in der Physik. Die letzte Sitzung bestritt Arabella Steininger, indem sie zusammenfassend und interpretierend über Quantum Dynamics with Trajectories vortrug, ein sowohl theoretisch wie praktisch anspruchsvolles Thema, das zudem weitreichende philosophische Reflexionen erlaubte. Gerade richtig für Bella, die neben Physik noch Philosophie und Geschichte studierte und sich immer auch für den gesellschaftlichen Kontext und die materielle Basis der Physik interessierte. Sie hatte ihren Vortrag mit unterhaltsamen Bemerkungen zur Entstehung der Quantenmechanik begonnen. Während der bieder-konservative und heuschnupfengeplagte Heisenberg den Durchbruch zur Matrizenmechanik einsam in der klaren Seeluft Helgolands schaffte, gelang dem liberalen Lebemann Schrödinger die Entwicklung der Wellenmechanik in der kaum minder reinen Gebirgsluft der schweizer Alpen. Aber nicht die karge Einsamkeit einer abgelegenen Insel stimulierte ihn, sondern die musische Erotik einer attraktiven Freundin verhalf ihm zum wissenschaftlichen Quantensprung. Ähnlich war es 1905 schon Einstein ergangen, der mit LSD, seinem ,,Lieben Süßen Doxerl``, in Hochstimmung die Physik revolutioniert hatte. Ihm wurde als Mann des Jahrhunderts gerade das ganze Jahr 2005 gewidmet. Als Bella von der fruchtbaren Synthese aus Erotik und Physik gesprochen und Lenz dabei mit einem lasziven Blick in Augenschein genommen hatte, geriet der unversehens in eine träumerische Erinnerung, die vom erotischen Licht Candelas erstrahlte. Nachdem sie in der Wohnheimbar bis in die Morgendämmerung hinein gefeiert hatten, nahm sie ihn mit auf ihr Zimmer und er frönte den ganzen folgenden Tag der Oblomoverei. Selbstversunken verzückt in sich hinein sinnend und geistig weggetreten saß Lenz da, bis ihn das begeisterte Klopfen der Studierenden aufschreckte und siedendheiß daran erinnerte, dass er nicht mit Candela das Bett teilte, sondern ein physikalisches Seminar zu leiten hatte. Bellas abschließend zusammenfassender Satz war ihm gleichwohl unbewusst ins Gedächtnis gedrungen: Quantum Trajectories provide an analytical, interpretative, and computational framework for solving quantum dynamical problems. Etwas überstürzt seine Verlegenheit überspielend brachte er gleich eine Grundsatzfrage hervor: The predictive power of the synthetic approach is equivalent to that of conventional quantum mechanics. So, why solve the hydrodynamic equations with quantum trajectories? Bella amüsierte sichtlich Lenzens überspielte Unsicherheit und zu offensichtliche Provokation. Sie hatte gleich eine ganze Reihe Antworten parat, indem sie die Exaktheit der Lösungen im Gegensatz zu den üblichen Näherungen hervorhob, darauf hinwies, dass die Trajectorien der sich entwickelnden Wahrscheinlichkeitsdichte folgten und die wirklichen Orte der Teilchen bestimmten sowie neue effiziente Algorithmen einer verallgemeinerten Strömungsmechanik entworfen werden könnten.

Neben neuen strömungsmechanischen Algorithmen konnten auch umgekehrt vielfach bewährte und äußerst effiziente numerische Verfahren der Strömungsmechanik auf die Quantenmechanik übertragen werden. Daran arbeitete Bella als Tutorin und verband so einen ausreichenden Nebenverdienst mit ihrem Fortkommen im Studium. Da das Thema der Quantum Trajectories ebenso dazu taugte, den Bogen zu philosophischen und historischen Betrachtungen zu spannen, bereitete sie ein Seminar zu den Grundlagen der Quantentheorie vor und engagierte sich in der Vorarbeit zur Orientierungseinheit für die Studienanfänger. Die meisten freshmen waren heutzutage zwar bloß auf Karriere aus und sahen in der Physik nur so etwas wie fortgeschrittenes Rätsellösen, das durch einen gut bezahlten Job honoriert wurde; aber zum Glück gab es immer einige, denen es um mehr als die Karriere ging. Sie wollten die Welt verstehen, ihren Horizont erweitern und ihre Persönlichkeit vervollkommnen. Lenz hatte noch kurz darauf gewartet, dass Bella ihr Notebook eingepackt hatte und war mit ihr in sein Büro gegangen. Ihm schwebte mit einer verallgemeinerten kritischen Theorie eine Synthese aus Natur- und Sozialphilosophie, Physik und Soziologie vor. Seine zugleich junge und schöne, intelligente und gebildete Mitarbeiterin konnte ihm dabei behilflich sein; weiterdiskutieren konnten sie aber auch im Freien und so machten sie sich auf den Weg ins Bistro. Es war ein warmer und sonniger Julitag. Die Sonne brannte noch vom blauen Himmel, stand aber schon im Südwesten so schräg über ihnen, dass sie stark blendete. Lenz hielt sich schützend die Hand an die Stirn, während Bella sich eine schnittige Sonnenbrille aufsetzte, die sie wie ein Model aussehen ließ. Lenz fragte sich immer wieder, worin eigentlich die Schönheit und Faszination seiner Begleiterin bestand. Abgesehen von der Jugendlichkeit und Intelligenz war es ihr zugleich mädchenhaftes Gehabe, ihr stets heiter-ironischer Unterton, die Verspieltheit in ihrem Wesen, was ihre eher unscheinbare Gestalt zu verzaubern schien. Zu all dem hinzu kam aber noch die Nachwirkung vieler Erfahrungen, die in Lenz einen erregbaren Untergrund von Erinnerungen hinterlassen hatten, der gleichsam in Resonanz mit den jeweiligen Stimmungen die flüchtige Atmosphäre von Schönheit stets aufs Neue erlebbar machte. Bella trug passend zum Einstein-Jahr ein T-Shirt mit dem bekannten Bild des weißhaarigen Greises, auf dem er der Welt in jugendlichem Übermut die Zunge entgegenstreckt. Gespannt über ihren festen Brüsten wirkte diese Frechheit auch als witzig-provozierende Entgegnung auf die lüsternden Blicke der Männer. Bella hatte ihre langen, dunkelbraunen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Als Lenz auf der Treppe zum Bistro hinter ihr ging, strichen ihm ihre Haare im leichten Wind zart über das Gesicht. Wie es der Zufall so wollte, standen gerade drei Studierende von einem Tisch draußen am Teich auf, als die beiden nach einem freien Platz Ausschau hielten. Direkt am Wasser unter einem Sonnenschirm setzten sie sich einander gegenüber auf die wackeligen Holzstühle, die erst nach einigem Ruckeln in feste Positionen gebracht werden konnten. Bella nahm die Sonnenbrille ab und schaute Lenz geradewegs in die Augen. Für einen Moment verharrte er wie das Kaninchen vor der Schlange. Die Flucht aus der dunklen Tiefe ihres intensiven Blickes gelang ihm nur durch Hilfe von außen. Eine jobbende Studentin, die er flüchtig kannte, fragte nach ihren Wünschen. Bella bestellte einen Fruchtcocktail und einen üppigen Eisbecher. Lenz schloss sich ihr an und nickte der Bedienung freundlich zu. Die räumte den Tisch ab und die beiden waren wieder ungestört.

Bedächtig ließ Lenz seinen Blick über den Weiher schweifen und verfolgte einige Enten, die gegenüber nahe am Schilfufer schwammen. Langsam breiteten sich ihre Wellen über den Teich aus, ihre Berge und Täler glitzerten und verschatteten sich abwechselnd im Sonnenlicht. Bella verfolgte amüsiert Lenzens übliches Wegtreten in seinen typischen Zustand geistiger Abwesenheit. Wohin er wohl gerade wieder abdriftete? Die Enten zogen unterdessen immer mehr Wellenzüge hinter sich her, die sich vielfältig überlagerten und ein dynamisches Schwingungsmuster aus Licht und Schatten reflektierten, das in Lenzenz Neocortex eine Resonanz auslöste, die sich als Bohm'sche Führungswelle auch auf Bellas Hirn erstreckte. Die Studentin sah nun ebenfalls auf die Licht- und Schattenmuster der Wasserwellen und nach einer Weile inniger gemeinsamer Betrachtung wandten beide synchron den Kopf und sahen sich wieder an. Wir sehen die Wellen, aber wirklich sind nur die Teilchen, sprach Bella ihren gemeinsamen Gedanken aus. Ja, die Wellen sind gleichsam das Lächeln der Natur. Das, was bleibt, wenn die Teilchen hinter ihnen verschwinden; so wie das Lächeln der Katze bei Alice in Wonderland, setzte Lenz hinzu und lächelte seine Schöne einnehmend an. Die Situation wäre peinlich romantisch geworden, wenn nicht die Bedienung Eisbecher und Getränke auf den Tisch gestellt hätte. Mit fröhlichem Lachen lösten sie die Spannung und widmeten sich mit Behagen dem Eisgenuss. Bella erinnerte eine Beschreibung aus dem Buch The Jane Austen Book Club, das sie gerade mit Freude und Anteilnahme gelesen hatte: Prudie had a tiny mouth and lips that almost disappeared when she smiled, like the Cheshire Cat, only opposite. Lenz saugte am Strohhalm vom Cocktail. Prudie ist eine niedliche und neurotische Französisch-Lehrerin, die sich in einen süßen Bengel verliebt, der leider auch ihr Schüler ist, setzte Bella erläuternd hinzu. Vorübergehend kann das doch ganz lustig sein, relativierte Lenz freimütig. Aber was hat es mit den verschwindenden Lippen Prudies auf sich, vermag sie mit dem Gesicht zu lächeln? Ich erinnere ein Lehrbuch der Physik, in dem der Autor den Feldbegriff mit dem Lächeln der Cheshire Cat illustrierte. Felder seien das, was bliebe, wenn die Materie verschwände. Lenzenz ironischer Tonfall signalisierte Bella, dass er nicht an die Immaterialität der Felder glaubte. Ihr ging das genauso; denn schließlich seien alle Feldquanten verdichtete Energie, die ja bekanntlich der Masse äquivalent und nichts ,,Immaterielles`` sei. Als Wahrscheinlichkeitsverteilung für den Aufenthalt von Teilchen im Sinne der Bohm'schen Führungswellen konnte man die Felder gleichwohl gelten lassen.

Mit 250 km/h rasten Bella und Lenz zwischen den weiten Feldern der norddeutschen Tiefebene im ICE von Hamburg nach Berlin, um die Einstein- und Goya-Ausstellung zu besuchen. Im Führungsfeld am Schilfteich bei DESY hatten sie sich spontan zu der Reise entschieden. Aber was hieß in diesem Zusammenhang schon ,,spontan``? Einen Besuch der Einstein-Ausstellung hatten sie eigentlich zusammen mit den Seminarteilnehmern geplant. Die mussten nun ohne sie fahren. Den Ausschlag dafür hatte ihr gemeinsames Interesse für Goya gegeben; einer Präsentation seiner Hauptwerke, die nicht so lange dauerte wie die Demonstrationen zur Physik Einsteins. Aber war der Bezug auf Goya nicht nur eine nachträgliche Rationalisierung für einen ganz anderen Grund? Lenz verreiste viel lieber mit einer Studentin allein als in der Gruppe. Zusammen mit mehr als einer anderen Person fühlte er sich unbehaglich, weil er sich nur mit einem Menschen zur Zeit ernsthaft unterhalten konnte. Lenz blieb lieber allein als in der Gruppe einsam; wurde ihm doch in Verbindung mit der archaischen Gruppendynamik immer wieder schmerzlich bewusst wie fremd ihm die Menschen eigentlich waren. Mit einem Menschen dagegen, zumal wenn er so ganz anders war, nämlich jung, weiblich, schön, intelligent und gebildet, versprach das Zusammensein vielerlei Anregungen, Einsichten und Korrekturen seines Denkens und seiner Lebensweise. Und darauf kam es ja schließlich an, aus der Kritik und den Irrtümern fortwährend zu lernen und sich weiter zu entwickeln. Ganz zu schweigen von der prickelnden Erotik, die so ein weibliches Jungtier ausstrahlte. Bella hatte sich mit Bedacht im schwarzen Partnerlook gekleidet; es aber wohl eher ironisch gemeint, denn ihren Busen zierte die Aufschrift: Future Goddess. In der Tat, die Zukunft gehörte der Frau und Lenz betete seine Göttin an, war ihr willenlos ausgeliefert und bedingungslos ergeben. Woran denkst du denn gerade?, hörte er sie wie aus weiter Ferne fragen. Er schien ihr wohl schon wieder weggetreten zu sein. Langsam drehte er sich zu seiner Angebeteten hin, die schelmisch grinste. Ich dachte gerade darüber nach, wie spontan eigentlich unsere Entscheidung für diese Reise war. Haben wir sie wirklich zufällig getroffen, eher intuitiv darauf hin gearbeitet oder sind wir einer übergeordneten Struktur spontaner Selbstorganisation im kritischen Bereich eines Phasenübergangs ausgesetzt gewesen? Lenz tauchte in die dunklen Sternenaugen Bellas wie in ein schwarzes Loch ein und begann sich aufzulösen. Bleibt noch die Möglichkeit zu erwägen, dass sich eine Quantenfluktuation makroskopisch verstärkte oder das thermische Rauschen sich in deine Geistesabwesenheit einmischte. Bellas Ironie konnte ziemlich ätzend sein. Aber der Jugend sah man so manches nach. Was bestimmt letztlich unser Handeln, fragte Lenz sich wieder sammelnd weiter und gab gleich selbst die Antwort: Es ist der Zufall, ganz gleich ob er den chaotischen Instabilitäten, den Quantenfluktuationen oder den Wärmeschwankungen zu verdanken war. Einstein hatte nur den phänomenologischen Zufall gelten lassen, der den chaotischen Instabilitäten aufgrund nichtlinearer Selbstbezüglichkeiten entsprang. Und wie die Dynamik der Quantentrajectorien zeigte, galten sogar die Quantenfluktuationen nicht als fundamental; denn die anfängliche Unbestimmtheit der ansonsten deterministischen Trajectorien erwuchs allein aus der Unmöglichkeit einer vollständigen Isolation des betrachteten Systems. Es blieb immer ein nichtberücksichtigter äußerer Einfluss, der jede deterministische- in eine statistische Theorie verwandelte, die keine sicheren Prognosen mehr ermöglichte. Das galt für Elementarteilchen, Organismen und Universen gleichermaßen.

Ergriffen standen Bella und Lenz vor dem größten Ungeheuer im Universum: dem aus der Menschheit erwachsenen Koloss. Sie erschauderten vor dem Schrecken des Krieges wie vor dem Elend der Prostitution. Die Caprichos hatte Goya noch 1799 vor der Inquisition verstecken müssen, obwohl bereits das Zeitalter der Aufklärung hinter ihnen lag. Aber der Religionswahn trieb ja noch immer sein Unwesen und war weltweit sogar wieder auf dem Vormarsch. Goya musste nach Frankreich fliehen und Einstein in die USA auswandern. Beide erfüllte eine Kreativität, die sich gleichermaßen aus Wahrheitsliebe, Schönheitssinn und Gerechtigkeitsgefühl speiste. Nur wenn Phantasie und Vernunft sich paarten, konnten Kunst und Wissenschaft gedeihen; denn der Schlaf der Vernunft gebar Ungeheuer. Goya wollte Hofmaler werden, obwohl er nur zu genau wusste, dass bei Hofe Dummheit und Korruption grassierten. Aber wie sollte er sonst Einfluss darauf nehmen können, Spanien durch die Kunst umzugestalten? Wider Willen musste er den Herrschenden schmeicheln, vermochte es aber dennoch, sich selbst treu zu bleiben und das Leben in vollen Zügen zu genießen. Lenz stand fasziniert vor der Nackten Maya, womöglich ein Akt der schönen, feinfühligen und intelligenten Cajetana, der Herzogin von Alba. Sie sollte die einzige große Liebe Goyas gewesen sein. Bella trat hinzu und Lenz schien ihr im Zustand jener melancholischen Selbstversunkenheit und geistigen Abwesenheit zu sein, der ihr schon öfter an ihm aufgefallen war. Hatten vielleicht erotische Träumereien oder lustvolle Erinnerungen seinen abwesenden Geist ersetzt? Bella wandte sich dem Gemälde zu. Die Nackte Maya lag ihr zugewandt, den Oberkörper leicht erhöht, hingestreckt in den Kissen auf einem Bett. Die Hände hatte sie hinter dem Kopf verschränkt und blickte selbstbewußt und freimütig direkt aus dem Bild auf die Betrachterin. Das war nicht die Pose einer willfährigen männlichen Gespielin, die sich sexuellen Gelüsten feil bot, sondern die erotische Ausstrahlung einer Lebefrau, die sich lustvoll selbst zu bestimmen verstand. Eine Provokation für die prüden Pfaffen und selbstherrlichen Machthaber der Zeit. Aber die Atmosphäre zum Nachfühlen der erotischen Freundschaft zwischen dem Maler und seinem Modell wirkte noch heute und wohl für alle Zeiten weiter. Das Bild hatte sicher auch Einstein gefallen, dem erotische Freundschaften mit Berliner Künstlerinnen mehr zusagten als die besitzergreifende Liebe seiner Ehefrauen. Lenz und Bella schauten sich einverständig an und machten sich auf den Weg in die Ausstellung zu Ehren des weltweisen Jahrhundert-Genies.

Die Parallelen zwischen Einstein und Goya waren offensichtlich. Lag das vielleicht an den entsprechenden gesellschaftlichen Umbruchsituationen Anfang des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts? War das auch der Grund für die gleichzeitigen Ausstellungen in Berlin? Bella las Lenz aus einem Artikel der Staatsbürger-Zeitung vom 9.1. 1921 vor, in dem offen zum Mord an Mitgliedern der Liga für Menschenrechte aufgerufen wurde: Der Liga gehören u.a. an Maximilian Harden, Professor Einstein, Professor Förster, Herr v. Gerlach. Hier liegt glatter Volksverrat vor. Wir würden jeden Deutschen, der diese Schufte niederschießt, für einen Wohltäter des deutschen Volkes erklären. Der Germano-Faschismus wurzelte im deutschen Nationalismus des frühen 19. Jahrhunderts und war auch nach 1945 nicht ausgestanden. Das klingt ungeheuerlich, aber ich erinnere mich noch an die Schlagzeilen der BILD-Zeitung von 1968, entgegnete Lenz: ,,Stoppt Dutschke jetzt¡`, war eine der harmlosesten Aufforderungen zur Selbstjustiz. Auf Häuserwänden und am Rande von Demonstrationen konnte man weitaus Schlimmeres lesen oder hören: ,,Lyncht die Sau!`` ,,Schlagt ihn tot!`` ,,Kastriert das Judenschwein!`` ,,Dutschke ins KZ!`` Der Mordanschlag auf Dutschke ließ dann nicht lange auf sich warten - und die Reaktion auf diesen Hass auch nicht. Die Gegengewalt der RAF hatte anfänglich viele Sympathisanten. ,,Macht kaputt was euch kaputt macht``, lautete die Parole. Denn was konnten Kunst und Wissenschaft gegen die Machtpolitik des militärisch-industriellen Komplexes ausrichten? Aber steter Tropfen höhlte den Stein; waren doch die Freiheiten seit 1968 immer wieder friedlich ein Stück erweitert worden. Ermüdet vom Bedenken und Betrachten der vielen Exponate und beschwert von den dickleibigen Ausstellungskatalogen, setzten sich Lenz und Bella ins Café. Ihre T-Shirts hatten sie gegen Einstein-Hemden getauscht, auf denen unter dem Konterfei des alten Weisen seine berühmte Formel prangte. Mit Freude ließ Lenz seinen Blick über die anderen Tische schweifen, an denen zumeist Schülerinnen saßen und sich angeregt unterhielten. Über die Themen ihrer Gespräche wagte er sich aber keine Gedanken zu machen. Nachdem sich die beiden jeweils ein Kännchen Kaffee und zwei Stücke Nusstorte bestellt hatten, fing Bella zu spekulieren an: Ich würde gerne mal eine Reise in die Zeit um 1970 herum unternehmen. Die Allgemeine Relativitätstheorie lässt das ja im Prinzip sogar zu. Nur müsste das Energieproblem gelöst werden und die Selbstkonsistenz gewährleistet bleiben, damit es z.B. nicht zur Großvater-Paradoxie käme. Lenz sah seine schöne Studentin mit zustimmendem Lächeln an. Davon hatte er immer wieder geträumt, seiner jungen Mitarbeiterin gleichaltrig in der Aufbruchstimmung der Jugendbewegung zu begegnen.

Warum fuhren die Menschen nach 2046? Sie wollten ihre verlorene Liebe wiederfinden. Die hatte Chow zuletzt in the mood for love mit Li-zehn im Hotelzimmer 2046 beim gemeinsamen Schreiben von Abenteuer-Romanen durchlebt. Eine Li-zehn traf Chow später wieder; suchte in ihr aber unbewusst nur seine große Liebe. Lenz schaute zur Seite. Bella hatten die Ausstellungsbesuche ermüdet. Aber vielleicht wollte sie bloß ihre Ruhe haben. Im ICE auf der Heimfahrt nach Hamburg hatte sie sich jedenfalls sogleich ans Fenster gesetzt, den Sitz zurückgestellt und es sich zum Schlafen bequem gemacht. Ihre weichen, entspannten Gesichtszüge spiegelten sich in der Scheibe, hinter der in der Ferne Lichter vorbei zogen. Lenz erschrak leicht als sie sich tiefseufzend umdrehte, etwas Unverständliches murmelte und sich ihm direkt zuwendend an die Lehne schmiegte. Wovon sie wohl träumte? Er lehnte sich ganz nahe ihr gegenüber an seinen Sitz und versuchte, in ihren Gesichtszügen zu lesen. Aber verbarg sich das Wesentliche nicht hinter der Oberfläche? Berechnete ihr Hirn womöglich gerade die Stabilitätsbedingungen in einer zirkulären Raumzeit für einen Weg nach 1970? H.G. Wells hatte seinen Zeitreisenden 1895 in das Jahr 802701 geschickt. Als Biologe war er dem Darwin'schen Algorithmus gefolgt und hatte aus den Anfangsbedingungen einer Gesellschaft aus Bonzen und Proleten auf eine Zukunft geschlossen, in der die Kluft zwischen Arbeitern und Kapitalisten immer größer geworden war, so dass sich aus der Menschheit zwei Arten herausgebildet hatten: die Eloi, kindlich-grazile Oberweltler von porzellanener Schönheit, und die Morlocks, lichtscheue Monster der Unterwelt. Den ersten SciFi-Roman hatte bereits 1818 Mary Shelley veröffentlicht und sich auf Erlebnisse aus dem Sommer 1816 berufen, die auf einen Besuch in der Villa Lord Byrons zurückgingen. Voltas Entdeckung der Wirkung von Elektrizität auf Lebewesen hatte sie zum Erfinden von Schauergeschichten inspiriert, die sie in dem Roman Frankenstein ausgestaltete. Relativitäts- und Quantentheorie eröffneten viele weitere Möglichkeiten der science fiction. In dem literarisch und wissenschaftlich gleichermaßen gelungenen Roman Timescape ging es dem Physiker Benford 1980 darum, eine drohende ökologische Katastrophe dadurch verhindern zu wollen, dass durch Rückwirkung in der Zeitschaft ihre Voraussetzungen entfielen. Im Gegensatz zu diesen Horrorgeschichten kam die Suche nach der verlorenen Liebe der Melancholie Lenzens doch sehr viel näher. Und als Bella sanft erwachte und sie einander lange einfühlsam im Blick behielten, schienen beide sich ihren gekrümmten Raumzeitpfaden anzuschmiegen ...


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Ingo 2008-08-16