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Ausblick

Der Denker Einstein verlegte sein Wesen ins Werk, dem Erotiker Mann gelang das nicht so weitgehend; denn noch im Greisenalter erschütterte ihn eine letzte Liebe - zu Franzl, dem jungen Kellner aus dem Züricher Grandhotel. Reinhard Kiefer hat einfühlsam die Atmosphäre seiner erotischen Phantasien einzufangen vermocht. Aufgrund der Wirkung, die Schopenhauers Willens-Metaphysik bereits im Jugendalter auf Mann gemacht hatte, schloß sich in Zürich ein Kreis, der in Lübeck mit Metaphysik, Musik und Pubertätserotik begann. In seinen Betrachtungen hat der Unpolitische seine Erinnerungen an die frühe Schopenhauer-Lektüre niedergelegt: Das kleine hochgelegene Vorstadtzimmer schwebt mir vor Augen, worin ich, es sind sechzehn Jahre, tagelang hingestreckt auf ein sonderbar geformtes Langfauteuil oder Kanape, ,,Die Welt als Wille und Vorstellung`` las. Einsam-unregelmäßige, welt- und todsüchtige Jugend - wie sie den Zaubertrank dieser Metaphysik schlürfte, deren tiefstes Wesen Erotik ist, und in der ich die geistige Quelle der Tristan-Musik erkannte! Die sich noch in der Allsympathie äußernde Erotik im Wirken der Natur: ließe sie sich zur kosmischen Religiösität verfeinern? Könnte sich ein Erotiker von den Fesseln seiner selbstischen Wünsche befreien? Eine ebenfalls von Schopenhauer ausgehende Fragestellung wäre die nach der Entwicklung des pessimistischen zum sozialen Humanismus, den Mann allerdings nur angedeutet und nicht ausgearbeitet hat. Sollte er als dritter Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus gedacht gewesen sein? Und wie wären Kosmologie und Humanismus zusammenzudenken? Gelänge eine Universalisierung des Humanismus aus dem Geiste der westlichen Zivilistation in kosmologischer Perspektive in der Sprache der Gedanken? Das wäre eine anspruchsvolle Blickrichtung für weitere Betrachtungen zur Integration der beiden Erkenntnis-Kulturen .

Mit diesem Essay wollte ich lediglich den Versuch machen, am Beispiel der beiden herausragenden Geistesgrößen in der Physik und Literatur des letzten Jahrhunderts, ein Stück weit den Zusammenhang der beiden Kulturen vorzuführen. Die Anfänge scheinen mir aussichtsreich für eine detaillierte interkulturelle Studie. Kämen weitere deutsche Denker und Dichter für derartige Betrachtungen und Untersuchungen infrage? Alfred Döblin wurde schon genannt und wird von Reich-Ranicki zu den Sieben Wegbereitern gezählt. Komplementär zu dem weltfremden Eiferer und wunderlichen Anarchisten, der zu einem genialen Amokläufer wurde, könnte man den deutschnationalen und genialen Neuerer in der Physik behandeln: Werner Heisenberg . In den Wirren der Weimarer Republik entstanden jedenfalls zwei Geniestreiche: Berlin Alexanderplatz und die Quantenmechanik, in der Heisenberg den Beginn der modernen Physik sah. Wie weit entsprächen sich literarische Kollagetechnik und physikalische Matrizenmechanik? Gäbe es Überschneidungen im experimentellen Realismus der beiden Erkenntnis-Künste? Über den Zusammenhang von Weimarer Republik und Quntenmechanik hat Karl von Meyenn bereits einige Untersuchungen zusammengestellt. Vergleichende Betrachtungen ausgewählter Originalarbeiten werden leider nicht vorgenommen. Wie Reich-Ranicki zu berichten weiß, wurde Döblin von Arno Schmidt als der Kirchenvater unserer neuen deutschen Literatur gewürdigt, was entsprechend für Heisenberg in der Physik hervorzuheben wäre. Und wie Döblin in Grass nachwirkt, ist Heisenberg nach wie vor im Werk seines Schülers C.F.v. Weizsäcker gegenwärtig. Zwei weitere Geistesgrößen, deren Werke vergleichend interpretiert werden könnten. Dabei dürfte Grass' magischer Realismus durch die visionäre Ur-Theorie v. Weizsäckers weit in den Schatten gestellt werden.

Eine weitere Verbindung von Literatur und Wissenschaft ist die von Erzählung und Essayistik, wie sie z.B. mit Musils Der Mann ohne Eigenschaften oder Brochs Schlafwandler begonnen und wieder von Grass mit Ein weites Feld versucht wurde. Mit dem Übergang von der Romantik über die Anarchie in die Sachlichkeit sieht Broch ein Verschwinden des Lebenssinns im Unbewußten verbunden. So würden die Personen zu Symbolen ihrer Träume, zu Schlafwandlern, die vornehmlich visuell und auditiv, aber kaum mehr intellektuell bestimmbar seien. Der moderne Intellektuelle sei der Naturwissenschaftler, schreibt Broch um 1930 und sieht auch bei ihm die Tendenz zur Symbolisierung - in der Mathematik. Ich wies bereits darauf hin, daß der Physiker Pauli seine Träume für die Ahnung einer ,,Hintergrundphysik`` zu deuten versuchte. In einer ,,Wissenschaftsliteratur`` sollte auch wieder das Verdrängte, Ausgegrenzte oder einfach Vergessene berücksichtigt werden, sei es als Heuristik oder als zu verfeinernde Intuition.

Mythen werden nicht nur erträumt oder erdichtet, sondern auch in Kulturen und Riten tradiert. Um nicht in die Irrationalität und Gewaltbereitschaft des Religionswahns zu verfallen, könnte in durchaus rationaler Weise an Mythen und Kulte angeknüpft werden, z.B. an Sonnen- und Weiblichkeitskulte . Die Perspektive der Wasserstoff-Zivilisation eines aufgeklärten ,,Sonnenzeitalters`` ließe sich in rationaler Weise mit der des ,,Frauenzeitalters`` verbinden, indem die Energie- und Lebensreproduktion kultiviert und ritualisiert gefeiert werden sollte. Die SONNE und das WEIB könnten zu den weltweiten Idolen werden und ihr Preisen und Huldigen mit Blick auf die Weltgesellschaft alle religiös und politisch motivierten Feiertage ablösen. Diese gegen die männliche Weltgewaltordnung gerichtete Perspektive wird leider Utopie bleiben; denn die Brutalität und der Schwachsinn der stupid white men sind grenzenlos ...


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Ingo Tessmann
6/15/2003