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A Room of One's Own

Im Oktober 1928 war Virginia Woolf nach Cambridge eingeladen worden, um vor Studentinnen am Newnham College über Woman and Fiction vorzutragen. Ihr danach ausgearbeiteter Essay Ein Zimmer für sich allein ist wieder ein kunstvoll komponierter Erzähl-Essay, der natürlich ihrem eigenen Anspruch an den modernen Essay genügt und zugleich eine Anleitung zum eigenen Schreiben enthält. Jane Goldman widmet ihm in ihrer Cambridge Introduction eine eingehende Analyse. Das Buch ist in einem heiter-ironischen Plauderton geschrieben, ähnlich wie ihn schon Jane Austen favorisierte. Und auch Virginias Hauptthese über Frauen und Romankunst knüpft an die von Jane in ihren Romanen thematisierte materielle Basis der Lebensumstände an: Eine Frau muss Geld haben und ein Zimmer für sich allein, wenn sie Romane schreiben will. Es geht Woolf weder darum die wahre Natur der Frau noch die wahre Natur der Romankunst aufzudecken; vielmehr will sie auf die in der Literaturgeschichte seit Shakespeare durchgängig vorherrschenden Benachteiligungen der Frauen gegenüber den männlichen Autoren hinweisen: Warum war ein Geschlecht so reich und das andere so arm? Welchen Einfluss hat Armut auf Romankunst? Welche Voraussetzungen sind notwendig für die Schaffung von Kunstwerken?

Virginia beginnt ihre Erzählung mit der Schilderung der beiden Tage, die ihrer Ankunft in Cambridge vorangingen. Und sogleich gibt sie Hinweise darauf, wie Geschichten überhaupt geschrieben werden sollten. Sie erfindet die Orte Oxbridge und Fernham und führt die ebenso fiktive Erzählerin ,,ich`` ein. Dann wirft sie den Köder aus, um ihre Leserinnen neugierig zu machen: Es werden Lügen über meine Lippen fließen, aber es könnte sich auch ein Körnchen Wahrheit darunter gemischt haben; es ist Ihre Aufgabe, diese Wahrheit herauszufinden und zu entscheiden, ob irgend etwas davon des Aufhebens wert ist. Ihren Namen entnimmt sie aus der schottischen Ballade Mary Hamiltons: The four Marys' und variiert ihre eigene Stimme als Mary Beton. Diese Mary wird sie dann unter dem Namen Mary Seton am Fernham College studieren und als Mary Carmichael eine vielversprechende Schriftstellerin werden lassen. Da war ich nun vor ein oder zwei Wochen (nennen Sie mich Mary Beton, Mary Seton, Mary Carmichael oder wie immer Sie wollen - das ist unwichtig), saß bei herrlichem Oktoberwetter am Ufer eines Flusses, in Gedanken verloren.

Und die Gedanken beginnen zu strömen: eine erste zufällig ins Bewusstsein verirrte Erinnerung bringt ihr irgendeinen alten Essay über den Wiederbesuch von Oxbridge in den großen Ferien mit Charles Lamb in den Sinn. Lamb hatte sich in der Bibliothek das Manuskript eines Gedichts von Milton ansehen wollen - und Mary kam der Gedanke, dass man Lambs Fußstapfen über den Collegehof zu der berühmten Bibliothek folgen konnte. Aber was sollte der wissbegierigen Frau wohl widerfahren? Dass Damen in die Bibliothek nur zugelassen sind, wenn sie von einem Kollegiumsmitglied begleitet werden oder ein Empfehlungsschreiben haben. Marys Zorn war grenzenlos, aber die Autorin kommentiert es gelassen ironisch: Dass eine berühmte Bibliothek von einer Frau verflucht worden ist, ist für eine berühmte Bibliothek ohne Belang. Mit ungestilltem Wissensdurst treibt sie es in die Mensa und sie wird verwundert einer Katze ohne Schwanz ansichtig: Es ist merkwürdig, wieviel ein Schwanz ausmacht. Ja, was war Wahrheit, was Illusion? Sollte sich die Romankunst an die wahrheitsgetreuen Fakten halten? Die Gedanken wirbelten weiter: Es wehte ein Wind, ich weiß nicht aus welcher Himmelsrichtung, aber er hob die halbentwickelten Blätter an, so dass ein Aufblitzen von Silbergrau in der Luft war. Es war die Zeit des Zwielichts, in der die Farben intensiver werden und Dunkelrot und Goldtöne in den Fensterscheiben brennen wie das Schlagen eines leicht erregbaren Herzens; als aus irgendeinem Grund sich die Schönheit der Welt enthüllte, um doch sogleich zu vergehen (an dieser Stelle bog ich in den Garten ein, denn die Tür stand unklugerweise offen und es schienen keine Pedells in der Nähe zu sein), die Schönheit der Welt, die so bald vergehen muss, hat zwei Seiten, eine des Lachens und eine des Schmerzes, der einem ins Herz schneidet.

Warum hatten die Frauen so geringen Anteil an den Naturwissenschaften? Wenn es Gönnerinnen gegeben hätte, die Fernham einige Tausend Pfund hinterlassen hätten, wir hätten heute hier bequem sitzen können und unser Gesprächsgegenstand wäre Archäologie, Botanik, Anthropologie, Physik, der Aufbau der Atome, Mathematik, Astronomie, Relativitätstheorie, Geographie gewesen. Wenn Mrs. Seton und ihre Mutter und ihre Großmutter die Kunst des Geldverdienens gelernt hätten.- Die Szene wechselt von Oxbridge nach London in die Bibliothek des Britischen Museums. Sie wollte sich auf die Suche nach der Wahrheit machen, während irgendwelche Einwanderer in der Nachbarschaft des Museums auf der Suche nach dem Glück waren.- Verblüfft, staunend und bestürzt stand sie vor den Katalogbänden und wunderte sich: Haben Sie eine Ahnung davon, wie viele Bücher im Laufe eines Jahres über Frauen geschrieben werden? Haben Sie eine Vorstellung davon, wie viele darunter von Männern geschrieben wurden? Sind Sie sich dessen bewusst, dass Sie vielleicht das am meisten diskutierte Lebewesen im Universum sind? Halb lachend, halb betrübt begibt sie sich in den Lesesaal: Der Student, in Oxbridge in der Technik des Forschens geübt, hat ohne Zweifel eine Methode, seine Frage unbeirrt von allen Seitenpfaden vor sich her zu treiben, bis sie auf ihre Antwort zuläuft wie ein Schaf in einen Pferch. Der Student neben mir z.B., der emsig aus einem naturwissenschaftlichen Handbuch exzerpierte, gewann, dessen war ich sicher, etwa alle zehn Minuten reine Nuggets massiven Goldes. Seine kleinen Grunzer der Befriedigung verrieten das. Und wenn man unglücklicherweise keine Ausbildung an der Universität genossen hatte?

Aber waren die so ehrwürdig gebundenen Abhandlungen der Herren Professoren wirklich im weißen Licht der Wahrheit und nicht eher im roten Licht der Emotionen geschrieben worden? Wie hatte man sich die Gestalt und das Gesicht eines Professors vorzustellen, der gerade sein Monumentalwerk mit dem Titel: Die geistige, moralische und physische Unterlegenheit des weiblichen Geschlechts schreibt. Er war in meiner Darstellung kein Mann, der auf Frauen anziehend wirkt. Er war von massivem Köperbau; er hatte einen großen Wanst; um das auszugleichen, hatte er sehr kleine Augen; er war ganz rot im Gesicht. England war vom Patriarchat beherrscht und ich war zornig geworden, weil er zornig war. War die Erziehung der Patriarchen und Professoren nicht auf mancherlei Weise ebenso falsch wie meine eigene? Warum mussten Frauen wie Kinder beschützt werden? Werden in hundert Jahren Frauen aufgehört haben, das beschützte Geschlecht zu sein? Wie hatte es angefangen mit der männlichen Literatur? Unter welchen Bedingungen lebten die Frauen im England des elisabethanichen Zeitalters? Es wäre jeder Frau unmöglich gewesen, ganz und gar unmöglich gewesen, Shakespeares Stücke im Zeitalter Shakespeares zu schreiben. Lassen Sie mich, da es so schwer ist, an Fakten zu kommen, versuchen, mir vorzustellen, was geschehen wäre, wenn Shakespeare eine wunderbar begabte Schwester gehabt hätte, sagen wir, mit Namen Judith. Hätte Judith um 1600 in England den gleichen Bildungsweg einschlagen können wie ihr Bruder William? Noch Jane Austen wurden 200 Jahre später nicht die Studienmöglichkeiten geboten, die ihren Brüdern offenstanden.

Ein Genie wie Emily Brontë blitzte immer einmal wieder auf unter den Frauen; blieb aber meistens als Hexe oder Magierin verkannt oder ging gänzlich im Elend unter, wie es bei Margaret of Newcastle heißt: Frauen leben wie Fledermäuse oder Eulen, schuften wie Tiere und sterben wie Würmer. Margerets Intelligenz ergoss sich, holterdiepolter, in Sturzbächen von Reim und Prosa, Dichtung und Philosophie, die in Quarto und Folio erstarrt dastehen, in denen niemand mehr liest. Man hätte ihr ein Mikroskop in die Hand geben sollen. Man hätte sie lehren sollen, die Sterne zu beobachten und wissenschaftlich zu argumentieren. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts begann sich langsam eine Wandlung zu vollziehen, aber noch im frühen 19. Jahrhundert beschränkte sich die literarische Ausbildung für Frauen auf eine Ausbildung in der Beobachtung von Charakteren, in der Analyse von Emotionen. Aber steht nicht das Leben vielmehr in Konflikt mit etwas, das nicht Leben ist? Meisterwerke sind keine einsamen Einzelleistungen; sie sind das Ergebnis vieler Jahre gemeinsamen Nachdenkens, des Nachdenkens der Gesamtheit der Menschen. So ist es: Shakespeare und Newton, Goethe und Einstein standen auf den Schultern von Riesen. Welchen Genius, wieviel Integrität muss es erfordert haben, angesichts von soviel Kritik, inmitten einer rein patriarchalischen Gesellschaft, an dem, was sie sahen, und so, wie sie es sahen, festzuhalten und keinen Deut zurückzuweichen! Nur Jane Austen gelang es und Emily Brontë.

Heutzutage schreiben Frauen so viele Bücher wie Männer. Wie steht es da mit Life's Adventure von Mary Carmichael? Betreibt sie das Schreiben als Kunstform und nicht bloß, um sich selbst auszudrücken? Während Jane Austen von Melodie zu Melodie wechselt wie Mozart von Lied zu Lied, war diese Prosa zu lesen wie eine Fahrt in offenem Boot auf hoher See. Sie brachte es fertig, uns alle - Roger, Chloë, Olivia, Tony und Mr. Bingham - in einem Kanu den Fluss hinauf in Bewegung zu setzen. Warte einen Augenblick, sagte ich und lehnte mich in meinem Stuhl zurück, ich muss die ganze Sache genauer überdenken, bevor ich weitergehe; denn wer liebte wen? Chloë liebte Olivia, las ich. Es war seltsam zu denken, dass bis zur Zeit von Jane Austen all die großen Frauen in Romanen nicht nur ausschließlich mit den Augen des anderen Geschlechts gesehen wurden, sondern auch ausschließlich in ihrer Beziehung zum anderen Geschlecht. War es wie beim Regenbogen über dem Felsen? Was geschieht, wenn Olivia - dieser Organismus, der Jahre im Schatten des Felsens gestanden hatte - fühlt, wie das Licht auf sie fällt, und ein seltsames Stück fremde Nahrung auf sich zukommen sieht - Wissen, Abenteuer, Kunst. Was wäre, wenn wir einen Apfel nehmen und bemerken könnten, Newton entdeckte das Gesetz der Gravitation und Newton war eine Frau? Aber hätte das nicht bereits eine andere Version der matriarchalen Mythologie vom ,,Apfel`` Evas im Garten Eden vorausgesetzt? Es ist schon verwunderlich, was so ein fehlender Schwanz ausmacht.

Aber wie steht es nun mit der Romankunst Mary Carmichaels? War nicht zu befürchten, dass sie bloß eine naturalistische und keine komtemplative Romanschriftstellerin werden würde? Sie war kein Genie, nur ein kluges Mädchen; aber - in hundert Jahren hätte etwas aus ihr werden können: Gebt ihr ein Zimmer für sich allein und fünfhundert im Jahr, lasst sie sagen, was sie denkt, und die Hälfte weglassen von dem, was sie jetzt hineinpackt, und sie wird eines Tages ein besseres Buch schreiben. Auf die Einheit des Geistes kommt es an und darauf, dass der große Geist androgyn ist. Shakespeare war androgyn und in unserer Zeit war es Proust wieder. Und da Bücher einander vielfach beeinflussen, wird die Romankunst besser werden, wenn sie mit Dichtung und Philosophie Wange an Wange geht. An die Dinge selbst ist zu denken. Und wenn menschliche Wesen nicht immer nur in ihrer Beziehung zueinander stehen, sondern in Beziehung zur Wirklichkeit, wird es vielleicht einmal eine Verkörperung der Schwester Shakespeares geben, die sich mit vollendeter Romankunst auf die Suche nach der verlorenen Zeit in der Quantenkosmologie begeben wird.

Virginias Essay Ein Zimmer für sich allein ist ein Lesevergnügen, bei dem man ganz beiläufig auch noch belehrt und kritisiert wird. Er setzt ein mit einem beliebigen ,,ich`` und bietet eine Auswahl von Namen verschiener Marys an. Diese Mehrstimmigkeit sowohl im Subjekt wie in den Erzählperspektiven durchzieht den ganzen Essay auch in seinen Objekten: den ökonomischen Lebensbedingungen, den Geschlechtsbeziehungen, der Frauenliteratur, der Homosexualität und Androgynie jeweils im historischen und gesellschaftlichen Kontext des Patriarchats. Assoziierend und reflektierend sitzt Mary in stiller Betrachtung am Ufer eines Flusses und lässt wie das Wasser auch ihre Gedanken strömen: über den Campus, in die Mensa, durch die Gärten und in die Lesesäle der Lehranstalten; ganz so wie einst Eva auf der Suche nach Nahrung und Wahrheit durch den Garten Eden wandelte. Zum Schreiben braucht man Unabhängigkeit und Ruhe, Freiheit von der Mühsal des Broterwerbs und Distanz zum banalen alltäglichen Geschwätz. Diese typische Mittelschichtssicht war schon Jane Austen eigen und D.H. Lawrence kritisierte sie bereits an den Bloomsberries. In seinem Roman Lady Chatterley's Lover ist es eine Lady, die sich über Klassenschranken hinweg in einen Proleten verliebt. Aber Woolf sollte recht behalten, auch nach der Jugendrevolte der 68er hat sich daran wenig geändert: Feminismus und Kunstschaffen sind in der Mehrzahl das Anliegen der gebildeten bürgerlichen Mittelschichten geblieben.


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ingo 2009-06-14